Dieser Tage wird das nächste Kapitel einer künstlerischen Erfolgsgeschichte geschrieben: „creatures & states“ heißt das neue Album des Eva Klesse Quartetts. Und erneut macht die 2015 mit einem Echo ausgezeichnete Band ihren Fokus klar: das musikalische Erzählen imaginärer Geschichten, die eigene Erlebnisse abstrahieren und sich aus Emotionen speisen. Wir sprachen mit dem Saxofonisten Evgeny Ring über Corona, die neue Platte und Russland.
Corona und die Kultur. Das ist eine lange Leidensgeschichte. Der Lockdown traf vor allem die selbstständigen Musikerinnen und Musiker hart. Doch Jammern stand und steht da nicht ganz oben auf dem Plan. Eher ein „Jetzt erst recht!“, eine Suche nach Alternativen. Auch der Saxofonist Evgeny Ring wollte zunächst nur die positive Seite der Krise sehen, das Beste daraus machen. Den Kopf in den Sand zu stecken – was sollte das auch bringen?
„Ich wirke im Hintergrund“, lacht er am Telefon. Er verbringt seine viele freie Zeit überwiegend in seiner Wahlheimat Köln. „Ich übe viel. Ich schreibe viel“, erklärt er. „In ’normalen Zeiten‘ ist für so etwas ja kaum Zeit und keine Ruhe. Man kann das Ganze recht entspannt angehen.“ Und er spricht mit großer Gelassenheit. Denn diese Ruhe, diese Entschleunigung sei ja auch mal ganz schön. „Einerseits…“
Evgeny Ring wirkt plötzlich nachdenklich. Zu lange dauert ihm Corona mittlerweile. Die Lockerungen seien immens wichtig für die Kulturszene. Wissend, dass die Inzidenzwerte wie ein Damoklesschwert über einem schweben. Wissend, dass eine winzige Gruppe an Zuhörern noch nicht wirklich für den Broterwerb ausreicht. Und doch ist das eben besser als gar nichts. Denn so viel Zeit und Ruhe er momentan genießt, so sehr fehlt ihm die „Ausdrucksseite“ der Musik.
Es fehlt eine immens wichtige Energiequelle!
„Es fehlt das Menschen-Treffen, es fehlen die Leute, es fehlen die Konzerte. Und diese Seite ist eine immens wichtige Energiequelle!“ Dem Publikum könnte er beziehungsweise das Quartett um die Schlagzeugerin Eva Klesse eine neue Platte präsentieren. „creatures & states“ erzählt von Lebewesen und Zuständen, in die sie geraten können. Absichtsvoll lässt die Band in ihren farbenreichen Stücken Wirklichkeit, Traum und Fiktion verschwimmen, nimmt ihre Zuhörer mit auf Reisen in unterschiedliche Stimmungen. „Unsere Musik wird immer präziser und tiefgreifender“, erklärt Evgeny Ring die Entwicklung aus seiner Sicht, „die Kompositionen gewinnen noch mehr an Bedeutung. Es ist durch und durch eine Ensemble-Platte, die nicht ausufernde Soli in den Vordergrund stellt. Und zu jedem Stück haben wir eine klare visuelle Vorstellung, gemeinsame Bilder im Kopf.“ In kurzen Absätzen be- oder umschreibt das Quartett im Booklet Ideen oder Hintergründe der einzelnen Titel.
Von Evgeny Ring stammt das Stück „La Vie“ auf der Platte. „Es unterscheidet sich von allen meinen bisherigen Kompositionen, da die Inspiration und die dafür verwendete Sprache aus einer für mich ganz neuen Quelle kam. Die Komposition entstand aus meiner Studie zu den Modi mit begrenzter Transpositionsmöglichkeit von Olivier Messiaen. Die Klänge, die ich dabei entdeckte, öffneten mir eine neue Tür in die Welt der Impressionisten.“ Parallel dazu beschäftigte er sich mit Pablo Picasso. „Dessen Gemälde ‚La Vie‘ traf für mich exzellent die Stimmung meiner Komposition. ‚La Vie‘ vertont einen Zustand, in dem ich selbst sehr gerne bin – langes, meditativ schwebendes Nachdenken ohne ausformulierte Gedanken.“
Diese vielen Dimensionen machen Musik so spannend.
Muss man im Konzert die Stücke auch erklären? „Da ist ein kleines Dilemma mit der Programmmusik“, lacht Evgeny Ring. „Wir erzählen ja schon mit der Musik Geschichten.“ Und das Feedback der Zuhörer suggeriert große Zustimmung. „Die Leute können damit etwas anfangen.“ Allerdings sei das ja nicht eindimensional, fügt er an. Was man am Ende raushöre, sei ja jedem selbst überlassen. Und gerade diese vielen Dimensionen machen Musik ja so spannend.
Spannend ist auch die gemeinsame Arbeit des Quartetts. Zu 80 bis 90 Prozent, schätzt der Saxofonist grob, sind die Stücke fertig komponiert, bevor man zur Ensembleprobe zusammenkommt. „Die endgültige Form kommt im Lauf der Proben und Konzerte.“ Aber das variiere natürlich. „Wir gehen gewisse Risiken ein und verlassen uns aufeinander. Man reagiert auf den Mitspieler – und das sind die schönsten Momente.“ Die Musiker kennen sich sehr gut und vertrauen sich. Ohnehin sei die „persönliche“ Ebene fast noch wichtiger als die „musikalische“. „Natürlich kann man mit tollen Musikern tolle Musik machen, aber…“ Evgeny Ring lässt das Ende des Satzes im Raum stehen.
„creatures & states“ ist die vierte Platte des Eva Klesse Quartetts
„creatures & states“ ist nun die vierte Platte des Quartetts, das bislang immer im 2-Jahres-Rhythmus veröffentlicht hat. „Wir entwickeln uns immer weiter“, findet Evgeny Ring. „Ich hoffe, das hört man auch“, lacht er. Die erste Platte sei ein „Sammelsurium von unabhängigen Stücken“ gewesen. Damals studierte man noch und habe die ersten plötzlichen Erfolge schlicht festhalten wollen. Mit jeder Platte wurde man dann reifer und hat gezielter komponiert. „Der kompositorische Teil hat sich definitiv verändert. Wir erzählen jetzt Geschichten.“

Evgeny Ring kann auch viel erzählen, denn er hat viel gesehen und erlebt. Er wurde 1987 in Rostow am Don (Russland) geboren, ist mit 20 nach Deutschland gekommen, um bei Johannes Enders zu studieren und hat bei Dave Liebman in den USA dazugelernt. Und solch ein kosmopolitisches Leben macht sich vermutlich unbewusst schon bemerkbar. Denn Begegnungen und Erlebnisse machen einen zu der Persönlichkeit, die man letztlich ist. Neben dem Eva Klesse Quartett spielt er noch in seinem eigenen Quintett „RADAR“ und einigen anderen Ensembles als Sideman.
„Wenn ich an Russland denke…“
Er nennt sich heute selbst einen deutsch-russischen Jazzsaxofonisten. Wenn er den Vornamen Evgeny nicht hätte, würde man das nicht merken. Akzentfrei spricht er deutsch. Und doch sagt er: „Russisch ist meine Muttersprache.“ Nachdenklich fügt er an: „Ich stehe im Konflikt mit meinem Russisch-Sein und dem, was gerade politisch in Russland passiert.“ Die Putin-Administration sieht er kritisch. Früher habe er aus russischer Perspektive beobachtet, was hier in Deutschland passiert, war quasi „Gast“. Heute ist er seit 13 Jahren in Deutschland und dementsprechend beobachte er, was „dort“ passiert.
„Als Musiker ist man privilegiert“, findet Evgeny Ring. „Es ist unsere Pflicht, unsere Meinung zu sagen, auf Missstände aufmerksam zu machen, Dinge weiterzusagen. Wir dürfen nicht unpolitisch sein!“ Und auch aus diesem Grund wünscht sich der 33-jährige Saxofonist ein Ende von Corona herbei. Denn laut sein kann man am besten auf den Bühnen dieser Welt.