“Eine regelmäßige und gezielte Körperarbeit verbessert unsere Körperwahrnehmung, was sich auf unsere Technik auswirkt”, weiß die Französin Fanny Mas. “Außerdem schützen wir uns so vor Verspannungen und Verletzungen.” Die Musikerin spielt und unterrichtet Akkordeon und Flöte. Fasziniert ist sie von der Verbindung zwischen Körper und Instrumentalpädagogik. 2020 gründete sie “Ipaia”, um das Wohlbefinden von Musikerinnen und Musikern zu unterstützen. Wir haben uns mit Fanny Mas darüber unterhalten.
Wie sind Sie überhaupt für sich selbst darauf gekommen, dass “Körperarbeit” für Musikerinnen und Musiker wichtig ist? Also anders gefragt: Wie wurden Sie die, die Sie sind?
Ich spiele zwei wunderbare Instrumente, die völlig verschieden sind. Sowohl technisch als auch vom Repertoire her. Man kann sie also unendlich üben, ohne dass es jemals langweilig wird! Doch eine Sache haben sie gemeinsam: sie beanspruchen beide den Körper sehr. Asymmetrische Spielhaltungen, einseitige Drehung der Wirbelsäule bei der Querflöte und Belastung durch das Gewicht beim Akkordeon.
Als ich studiert habe, habe ich kaum auf meinen Körper geachtet: Ich habe einfach fast unendlich viel geübt und von ihm erwartet, dass er mitmacht. Kein Aufwärmen, keine Dehnungen und kaum Pausen – was ich heute ganz schön bedenklich finde!
Denn natürlich hätte mein Körper Pflege und Erholung gebraucht! Da er sie nicht bekommen hat, sind Verschleißerscheinungen aufgetreten und letztendlich habe ich mich zunächst am linken, dann am rechten Arm verletzt.
Solche Verletzungen sind für Musikerinnen und Musiker besonders schwierig, vor allem während des Studiums. Man weiß plötzlich nicht, ob man überhaupt das Studium abschließen wird und wenn ja: wann? Und währenddessen üben alle anderen rund um die Uhr weiter…
Durch die Zwangspause hatte ich plötzlich viel Freizeit. Damals habe ich angefangen, mich mit dem Thema Musikergesundheit zu beschäftigen. Ich probierte viel, ging viel laufen, Fahrrad fahren, schwimmen… Und ich merkte mit Begeisterung, wie ich nach einer Laufrunde wieder schmerzfrei üben konnte! Seitdem ist mein Üben ganz anders gestaltet und jeder Tag beinhaltet einen Moment für den Körper, manchmal auch nur kurz!
Die Beziehung zum Körper ist ein wesentlicher Teil meiner Pädagogik geworden und die Grundlage meiner Arbeit mit der Plattform Ipaia, durch welche ich Musikerinnen und Musiker für dieses Thema sensibilisieren möchte.
Dass der eigene Körper seine Grenzen hat bzw. nicht unendlich belastbar ist, merken viele Menschen (und deshalb auch viele Instrumentalisten) sehr oder auch zu spät. Wie kann man und wann sollte man auf diese Tatsache aufmerksam machen?
Das ist eine spannende Frage, die ich mir auch selbst gestellt habe, als ich angefangen habe zu unterrichten. Ich wollte nämlich vermeiden, dass meine Schülerinnen und Schüler sich auch verletzen und habe mich gefragt: Was hätte ich anders machen sollen? Was hätten meine Lehrerinnen und Lehrer sagen sollen, um mich zu überzeugen, auf meinen Körper zu achten? Und genau da liegt die Antwort! Nicht beim “Sagen”, sondern beim “Tun”. Denn ich muss ehrlich sein: Während des Studiums habe ich schon immer wieder gehört, dass man als Profi-Musikerin den Körper pflegen sollte. Ich habe es aber nur gehört und eben nicht getan!
Es ist mir also ein Anliegen, in jeder Unterrichtsstunde einen Moment für den Körper einzubauen – sei es nur ganz kurz. Mal eine Übung auf der Yoga-Matte, mal eine Übung am Instrument, bei der die Aufmerksamkeit völlig auf den Körper gerichtet ist. Sogar das Erlernen neuer Spieltechniken fängt bei mir mit dem Körper an.
Dank Fortbildungen, Recherchen und Erfahrungen habe ich mir ein ganzes Repertoire an Übungen geschaffen, die ich dann gezielt und individuell plane, strukturiere und anwende – wie alle andere Parameter des Instrumentalunterrichts. Mit dieser Konsequenz will ich Körper und Musizieren im Kopf meiner Schülerinnen und Schüler von Anfang an nachhaltig verbinden.
Um meine Antwort zusammenzufassen: Durch eine regelmäßige und vielfältige Körperarbeit im Instrumentalunterricht, dies schon ab den ersten Stunden und unabhängig vom Alter, können wir zukünftige Musikerinnen und Musiker auf das Respektieren der Körpergrenzen sensibilisieren.
Oft haben Musikerinnen und Musiker auch wenig Zeit und “zu viel um die Ohren”. Da ist man froh, wenn man die Zeit für das Üben “irgendwie” in den Tagesplan hineinbekommt. Warum ist dieses Vorgehen falsch?
Das Problem kenne ich sehr gut. Auch im Instrumentalunterricht wollen wir jede Sekunde am Instrument verbringen, weil wir denken, dass wir nur am Instrument Fortschritte fördern können. Oft werde ich gefragt: »Ich schaffe kaum das ganze Übeprogramm. Wie finde ich die Motivation, doch nicht so lange zu üben und stattdessen ein paar Körperübungen zu praktizieren?« Hier habe ich immer die gleiche Antwort: Weil der Körper ein Teil des Musizierens ist, müssen wir die Körperarbeit als Teil des Übens betrachten. Eine gut ausgeführte und gut ausgesuchte Körperarbeit ist nie umsonst. Neben ihren positiven Wirkungen auf die Gesundheit und auf das Musizieren, kann sie auch die Qualität des Übens verbessern – also auch Fortschritte fördern!
Diese drei Tipps kann man zum Beispiel für sich jederzeit anwenden:
- Ein kurzes Aufwärmen bereitet den Körper aber auch den Geist auf das Spielen vor. Ein paar Minuten helfen uns, die Sorgen des Alltags hinter uns zu lassen und beim Spielen sofort konzentriert zu sein.
- Eine Gleichgewichtshaltung hilft uns, bei einem Konzentrationsloch die Gedanken wieder zu fokussieren.
- Eine Vorwärtsbeuge hilft uns, unsere Atmung dreidimensional zu spüren und bei Aufregung wieder Ruhe zu finden.
Außerdem müssen wir langfristig denken! Klar wäre es schön, diese Woche eine zusätzliche Etüde einzustudieren, aber was bringt es mir, wenn ich in einem Jahr wegen einer Verletzung pausieren muss und die Etüde nicht mehr spielen darf?
Auf Ihrer Website ipaia.eu habe ich von der “Pädagogik der Bewegung” gelesen. Was bedeutet das konkret? Wie baue ich die Körperwahrnehmung ins Üben und ins Spiel mit ein?
Wir Musikerinnen und Musiker sind daran gewohnt, Übe-Einheiten zu gestalten, Fortschritte zu planen, Vorübungen schlau auszusuchen. Wir kennen uns und sind mit uns meistens sehr pädagogisch! Diese wunderbare Fähigkeit können wir auf die Körperarbeit übertragen, das ist was ich “Pädagogik der Bewegung” nenne.
Als Beispiel nehme ich gerne den Kopfstand. Klar kann man probieren, von heute auf morgen ohne Training auf dem Kopf zu stehen. Es wird schon irgendwie funktionieren, wobei die Verletzungsgefahr hoch ist und die untrainierte Muskulatur Kompensierungsmechanismen einsetzen wird. Viel besser ist es, gezielte und strukturierte Vorübungen zu planen und zu praktizieren, um allmählich einen sicheren und effizienten Kopfstand hinzubekommen.
Genauso funktioniert es mit der technischen Ausführung einer musikalischen Geste. Ich wage es zu sagen: Ein gutes Vibrato auf der Querflöte zu können ist schwieriger als ein Kopfstand. Es verlangt eine trainierte Muskulatur, eine gute Wahrnehmung der Atmungsvorgänge und eine bewusste Beherrschung der Bewegung.
Obwohl das Vibrato und alle anderen Instrumentaltechniken musikalische Ziele haben, sind sie zunächst reine Bewegungsabläufe, die wir langsam, strukturiert und konsequent erlernen können. Die gleiche Konsequenz können wir selbstverständlich auch für den Aufbau einer Grundfitness oder einer Dehnungsroutine einsetzen.
Es gibt spezielle Bedürfnisse für die verschiedenen Instrumente. Bei der Flöte muss ich auf etwas anderes achten als bei der Tuba. Was sind die jeweiligen Schwierigkeiten? Und was haben alle Instrumente gemeinsam?
Ganz einfach: Alle Instrumente rufen eine einseitige Belastung des Körpers hervor, stundenlang und über die Jahre. Wichtig ist, dass wir das wissen und dem entgegenwirken, indem wir einerseits nicht länger als nötig in der Spielhaltung bleiben und andererseits Ausgleich schaffen.
Ausgleich schaffen wir am besten, wenn wir die Besonderheiten unserer Spielhaltung und unseres Körpers kennen. Als Flötistin muss ich unter anderem auf die Drehung meiner Wirbelsäule aufpassen: Da ich beim Spielen immer den Kopf nach links und mein Oberkörper nach rechts halten muss, praktiziere ich regelmäßig Ausgleich-Übungen, bei denen der Kopf nach rechts und der Oberkörper nach links dreht.
Tubisten werden aufgrund des Gewichts des Instruments ihre Bauchmuskulatur stärken wollen, um den Rücken zu entlasten. Sich nach vorn beugen nach dem Spielen hilft, Verspannungen im unteren Rücken zu lösen und somit am nächsten Tag möglichst schmerzfrei zu üben.
Was muss man beachten, wenn man die Körperarbeit ins Üben einbauen will?
Haben wir verinnerlicht, dass die Körperarbeit notwendig ist und sich auf das Musizieren positiv auswirkt, können wir sie mit Freude und Neugier ins Üben einbauen. Dabei sind der Ort bzw. die Ausstattung und die Achtsamkeit zwei wichtige Aspekte.
Ideal ist es, wenn wir in unserem Übezimmer eine schöne “Körperarbeitsecke” einrichten, in der wir uns gut fühlen und uns gerne bewegen.
Es gibt beispielsweise eine ausgerollte Yoga-Matte, die bewegungseinladend wirkt; eine saubere Ablagefläche, auf der wir ohne Bedenken das Instrument abstellen und mit freien Händen den ganzen Körper bewegen können. Es gibt genug Platz für Bewegungen in alle Richtungen und, nach Bedarf, Gegenstände wie Bälle, Ansatztrainer, Breath Builder, Faszienrollen und so weiter.
Sind wir oft unterwegs, müssen wir uns eine “Körperarbeitsecke-to-go” schaffen! Es gibt Reise-Yoga-Matten, die gefaltet kaum dicker als ein Etüdenheft sind. Selbst wenn wir nichts dabeihaben, gilt: Instrument in Sicherheit ablegen und so oft wie möglich raus aus der Spielhaltung – der Körper bewegt sich intuitiv wie er es braucht.
Es ist außerdem wichtig, Körperübungen mit Achtsamkeit zu praktizieren. Es geht hier nicht um Rekorde, sondern um Körperbewusstsein, um das Spüren und Lösen von eventuellen Verspannungen und um die sanfte, allmähliche und kontrollierte Stärkung der Muskulatur.
Ist es ein Unterschied, ob ich als Kind oder Erwachsener, Amateur oder Profi damit arbeiten möchte?
Ja und nein! Ich bin davon überzeugt, dass allen Musikerinnen und Musikern – wenn nicht gar allen Menschen überhaupt – eine regelmäßige Körperarbeit helfen wird, unabhängig vom Niveau oder vom Alter.
“Je vielfältiger und bewusster wir uns
bewegen, desto besser.”
Die Herangehensweise sollte aber für jeden und jede, je nach Affinität und Interesse, anders sein und sich über die Zeit entwickeln können. Ich arbeite meistens mit Yoga und dennoch weiß ich, dass Yoga nicht für alle das Richtige ist. Man kann sich eine Methode aussuchen und aneignen (Feldenkrais-Methode, Alexander-Technik, Resonanzlehre, Spiraldynamik usw.) oder sich von allen inspirieren lassen.
Körperarbeit sollte meiner Meinung nach immer Freude bereiten – sei es die Freude an die Übungsausführung oder die Freude an das neue Körpergefühl nach der Übung!
Abschlussfrage: Was ist ihr ultimativer Tipp?
Mit Freude und Begeisterung “Ja” zu allen Bewegungsangeboten des Alltags sagen, und dabei immer wieder in den Körper hineinhorchen. Je vielfältiger und bewusster wir uns bewegen, desto besser!