Brass, Orchestra, Wood | Von Kristin Thielemann

Funkstille. Wenn unserer Kultur der Stecker gezogen wird

Lockdown
Foto: Gerd Altmann – Pixabay

Online hier, digital da, Stream überall. Er­tragen Sie das noch oder lassen Sie die ­Gedanken an Live-Erlebnis von Musik auch wehmütig werden? Gedanken hierzu von Kristin Thielemann. 

Proben, Auftritte, Konzertbesuche – Kultur allerorts. Am Vormittag jagt ein Termin den nächsten, zwischendurch noch ein schneller Abstecher für eine kleine Reparatur beim Instrumentenbauer und ein Gang ins Musik­geschäft, wo wir eine brandneue Noten­ausgabe erstehen. Während wir kurz nach dem Mittagessen im Ticketportal unsere Kreditkartendaten eingeben, um eine Konzertkarte für das geniale Filmmusikkonzert am Wochenende zu erstehen, flattert telefonisch eine Anfrage herein, für ein paar Scheinchen eine Hochzeit musikalisch zu umrahmen. Am Nachmittag finden wir uns bei einem Besuch im Café wieder, wo wir die Musikschul-Freistunde überbrücken und am Abend nach dem Konzert gibt es noch eine Pizza mit den anderen Orchestermitgliedern. 

Was ist mit unserem Lebensinhalt Musik? 

Ein Leben, das so fern scheint wie aus einer anderen Galaxie. Kulturschaffende, insbesondere Freiberufler, trifft die Corona-Krise besonders hart, aber auch Orchestermusiker, Musiklehrkräfte und Hobby-Musikerinnen und -Musiker haben ein Jahr voller Veränderungen hinter sich. Natürlich – wir alle haben ein Dach über dem Kopf, genügend zu essen, sofern wir uns vom Sofa aufraffen konnten und coronakonform maskiert in einem Supermarkt waren, alternativ ein Lieferservice oder Take-Away in erreichbarer Nähe ist. Auch finanziell sollten wir (viele von uns zwar mit deutlichen Abstrichen) irgendwie über die Runden kommen, sofern es uns ge­lungen ist, im Antragsdschungel den Überblick zu behalten. Aber was ist mit unserem Lebensinhalt Musik? 

Das Internet bietet vielfältige Möglichkeiten, die wir nun zur Genüge kennen: Streamkonzerte, digitale Proben, Online-Unterricht, Web-Seminare. Allein bei der Fülle an bereits vorhandenen und lohnenswerten Konzerten, Musikclips oder Interviews mit bedeutenden Persönlichkeiten der Musikwelt auf YouTube könnte man leicht ein ganzes Jahr auf dieser Plattform verbringen. 

Das Live-Erlebnis Musik ist nicht zu ersetzen

Doch bei aller Faszination, die dies auf uns ausübt, bei aller Bereicherung, die die digitale Welt darstellen kann, ist klar: Das Live-Erlebnis Musik wird niemals durch ein noch so ausgefeiltes technisches Equipment ersetzt werden können. Zum Erleben, zum Genießen von Musik gehören so viel mehr als ein paar Kabel, gute Boxen und eine stabile Internetverbindung! In der Corona-Krise haben wir es entdeckt. Es sind die Künstler, die Band, der Chor, das Orchester auf der Bühne, die wir live erleben dürfen und die uns mit ihrer Musik zutiefst berühren. Es ist der Konzertsaal, in dem wir auf unseren nummerierten Sitzen Platz nehmen, die weiche Sitzfläche unter uns spüren, den Duft des Raumes wahrnehmen, seine spezielle Akustik, die Atmosphäre mit den vielen Menschen an diesem Ort, der Spannung die entsteht, wenn das Licht abgedunkelt wird.

Noch schnell blättern wir im Programmheft. Der Solist hat in diesem Jahr bereits in vielen Ländern Europas konzertiert, in den USA einen Wettbewerb gewonnen. Wir blicken auf die ­Bühne und unsere Gedanken kreisen um diesen Menschen. Als wir uns kurz räuspern, hält uns unser bis dato unbekannter Sitznachbar eine geöffnete Schachtel Lutschbonbons hin, aus der wir uns dankbar bedienen. Als das Orchester mit den ersten Tönen eröffnet, schließen wir die Augen und uns überfällt eine wohlige Gänsehaut. 

Ein Leben. Mein Leben. Ein schönes Leben.

Während ich diese Zeilen schreibe, fühlt sich all dies so real an, als wäre es erst gestern gewesen. Ein Leben. Mein Leben. Ein schönes Leben. Vielleicht auch Ihres? Aber es ist Vergangenheit. Ob dies in Zukunft noch in dieser Form möglich sein wird? Im Herbst 2020 habe ich ein Konzert besucht, das unter strengen Hygienevorschriften durchgeführt werden konnte. Die Corona-­Krise war hier vom ersten bis zum letzten Moment spürbar: Die Garderobe war genauso geschlossen wie der Getränkeausschank im Foyer des wunderschönen Konzerthauses, mein Herbstmantel ruhte das gesamte Konzert über auf meinen Knien, an meinen Händen klebte das Desinfektions­gel, welches aus den am Saaleingang platzierten Automaten tropfte.

Ich war sehr froh, dass ich damit nicht sofort das Programmheft eingeschmiert hatte – denn es gab ohnehin keines, weil das Hygienekonzept dies so vorschrieb. Mein Platz lag glücklicherweise so weit weg von dem der anderen Konzertbesucher, dass niemand das Bonbon sah, das ich mir verbotenerweise in den Mund schob. Und als der Chor auf der Bühne zu den ersten Tönen ansetzte, zog ich meine schwarze OP-Maske gleich noch ein kleines Stück höher, damit niemand der weit entfernt sitzenden anderen Gäste meine Tränen der Rührung würde entdecken können, die ich an diesem Abend zahlreich vergoss. 

Wenn diese Zugabe verklungen ist, wird für lange Zeit Stille sein. 

Die wenigen glücklichen Menschen, die eine Karte ergattert hatten, applaudierten lautstark, doch wenn nur ein Bruchteil des großen Konzertsaals mit Besuchern gefüllt ist, klingt jeder ­Applaus einfach nur traurig. Trotzdem schafften wir es, die Künstler zu einer Zugabe zu animieren. Sie wollten musizieren. Sie wollten diesen Saal noch einen Moment lang spüren. Musiker und Publikum wussten an diesem Abend: Wenn diese Zugabe verklungen ist, wird für lange Zeit Stille sein. 

Als ich aus dem Konzertsaal trat, sah ich zwei Künstler aus dem Bühnenausgang kommen, die schweigend und in gebührendem Abstand zueinander durch die verlassenen Straßen zur U-Bahn gingen. Der Herbstwind fegte an den Eingängen der geschlossenen Restaurants neben dem Konzerthaus vorbei und rüttelte an den davor festgeketteten Gartenstühlen, die auf bessere Zeiten warteten. Auf Zeiten, in denen wieder fröhliche Konzertbesucher und Kulturschaffende nach berührenden Abenden gemeinsam feiern können, dass wir ein wunderbares Leben leben dürfen.