Brass | Von Renold Quade

György Gyivicsan: Ensemblemusik ist meine Welt

Foto: Balázs Szecsődi

Eine eher beiläufige Konzerterfahrung als junger Zuhörer hatte György Gyivicsan nicht mehr losgelassen. „Als sechsjähriges Kind habe ich ein Blechbläserquintett gehört und ein In­stru­ment gefiel mir besonders gut. Das war die Posaune. Und glaube es mir oder auch nicht, ich wusste sofort, dass ich auch einmal Posaunist werden wollte. Meine Eltern habe ich von dieser Idee schnell überzeugen können und – das fand ich damals wirklich lustig – genau dieser Posaunist aus dem Quintett wurde mein erster Musiklehrer.“

Zunächst aber wurde Gyivicsan nicht auf der Posaune, sondern auf dem Eufonium unterrichtet. Seine Arme waren noch zu kurz. „Oh, das war erst einmal eine große Ent­täuschung für mich. János Krcsméri überzeugte mich aber, erklärte mir, dass das Mundstück des Eufoniums ja gleich dem der Posaune sei und dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis wir wechseln könnten. Und nach drei Jahren Eufonium war es dann soweit, ich begann stolz Posaune zu spielen. Das mir bis dahin übrigens lieb gewonnene Eufonium habe ich nicht vergessen und spiele es auch heute ge­legent­lich noch.“

Studium und Karrierestart

György Gyivicsan nahm mit 14 Jahren sein Studium am Konservatorium, später an der Hochschule der Musikfakultät der Universität Szeged auf und wurde nach Abschluss dort um­gehend in die Meisterklasse des weltberühmten Posaunisten Branimir Slokar in Bern und später an die Freiburger Hochschule aufgenommen. Zeitgleich sammelte er als Stipendiat des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin erste Orchestererfahrung und tummelte sich auf vielen Musikwettbewerben, von denen er etliche für sich entscheiden konnte. Ein erster Karriere-Höhepunkte gelang ihm im Dezember 2003 mit dem Gewinn des internationalen Musikwettbewerbs für Posaune in Porcia (Italien).

Die Zusammenarbeit mit Branimir Slokar war prägend für ihn. Ab 2004 wurde er ständiges Mitglied des Slokar Posaunenquartetts, mit dem er zahlreiche CD-Aufnahmen einspielte und weltweit konzertierte. „Das Quartett war für mich wie eine Familie. Ich habe mit ihnen 15 Jahre lang gespielt und wenn wir Proben oder Konzerte hatten, dann musste ich, als einziger ‚Nicht-Schweizer‘, bei einem der Kollegen unterkommen. Im Allgemeinen wohnte ich bei Branimir. Er war, ja, das kann man mit Fug und Recht so sagen, so etwas wie mein zweiter ­Vater. Ich habe von ihm sehr viel gelernt. Nicht nur über das Musizieren, sondern auch über das Leben. Und ich habe seine Energie und sein Professionalität immer bewundert.“

György Gyivicsan beendete sein Studium im Jahr 2005 mit dem Solistendiplom und wurde Professor für Posaune an der Musikfakultät der Universität Szeged. Konzerte und Kurse in Ländern wie Portugal, Italien, Österreich, Deutschland, Japan, Brasilien, Argentinien, Südkorea und den USA belegen seine umtriebigen Aktivitäten. Von 2013 bis 2016 war er zudem Coprincipal im Posaunensatz des Qatar Philharmonic Or­ches­tra. Seit 2019 ist er nunmehr als Professor für Posaune an die renommierte Liszt-Akademie in Budapest berufen.

Szeged Trombone Ensemble

Ein besonderes Augenmerk seiner Arbeit liegt derzeit auf dem „Szeged Trombone Ensemble“, dessen Begründer und Leiter er ist. Mit ihm interpretiert er Kammermusik, traditionell und inno­vativ, in variablen Besetzungen für großes Posaunenensemble.

Szeged Trombone Ensemble (Foto: Balázs Szecsődi)

Fragt man ihn heute nach der Entwicklung und der Bedeutung des Ensembles für ihn, dann ­lächelt er und philosophiert: „Szeged Trombone ist sozusagen eines von meinen Kindern.“ Als stolzer, dreifacher Familienvater schmunzelt er weiter: „Es ist mein viertes Kind. Es hat alles das mit mir gemacht, was – wie in jeder Familie – Kinder so mit einem machen. Sie geben dir Glück und sie bereiten dir auch Probleme. Du ­beobachtest sie, siehst ihre Entwicklung, siehst ihre Stärken und auch ihre Schwierigkeiten. Da musste ich oft schwere Entscheidungen treffen, besonders als das Ensemble ‚in der Pubertät‘ war. Aber da sind wir nun darüber hinaus. Jetzt arbeiten wir sehr professionell zusammen und es macht mir wahnsinnig viel Spaß.“

Es war immer schon ein Traum, gar eine Vision von Gyivicsan, mit einem großen Posaunen­ensemble zu musizieren, einem Ensemble, das die geliebte kammermusikalische Quartettgröße deutlich übersteigt und gerne auch einmal orchestrale Züge aufweist. „Gerade Posaunen können im rein familiären Miteinander so viele Klangfarben und Klangreize erzeugen! Bei aller Wertschätzung für alle anderen Instrumente: Wir haben da wohl das meiste Potenzial.“ War es zunächst die reine Lust, mit engagierten Schülern gemeinsam zu musizieren, so wurde es von Schülerwelle zu Schülerwelle immer ausgefeilter und ehrgeiziger. Aus Schülern wurden Studenten, aus Studenten professionelle Musiker.

Die Lust aller ist wichtig

Die aktuelle Besetzung von „Szeged Trombone“ schöpft aus seinem mittlerweile beachtlichen Stamm von Schülern und Studenten, die längst den Weg in das professionelle Musikerleben gefunden haben. Was aber immer noch wichtig ist, ganz wie zu Beginn: „Die Lust aller, gemeinsam mit dem Ensemble etwas zu erreichen, sich einzufügen und einzubringen, steht bei mir ganz weit vorne.“

Sie möchten viel Neues erproben und anstoßen. „Wir haben viele Ideen, mehr als wir jetzt umsetzen können. Diese Arbeit ist eine große Herausforderung für mich und für alle Ensemble­mitglieder. Wir pflegen natürlich Traditionen, möchten aber nicht nur reproduzieren oder kopieren, sondern suchen auch unseren eigenen Weg. Das braucht viel Energie. Neues wagen heißt gelegentlich auch, auf dem falschen Weg zu sein, wieder zu korrigieren und weiterzuarbeiten. Unsere eingeschlagene Richtung ist aber vielversprechend, darauf hoffen und daran glauben wir.“

Von Beginn an als Arrangeur mit von der Partie ist Posaunist Àron Simon. Mittlerweile gründete er die „Saker Music Company“, einen Verlag, der viele Werke von »Szeged Trombone«, aber auch gemischte Blechbläsermusik in Noten anbietet. Den modernen Kommunikationswegen stets aufgeschlossen findet man via www.szegedtrombones.com auch Hinweise auf die Disko­grafie des Ensembles, auf ihren YouTube-Kanal sowie ihre Social-Media-Präsenz. Live erlebt man sie etwa am 5. März beim IPV Trom­bone Festival in Saar­brücken, am 21. April beim Lille Trombone Festival oder Anfang August beim International Trombone Festival in Osaka.

Unterrichten

György Gyivicsan, mittlerweile 42 Jahre alt, begann in einem kleinen Blasorchester im ungarischen Tòtkomlòs und ist nun Posaunenprofessor an der Liszt-Akademie in Budapest, der größten Musikuniversität Ungarns. „Ein Lehrer weiß von vornherein nie, womit er einen Studenten defi­nitiv erreicht und mit welchen Hilfen und Hin­weisen er wirklich eine große Wirkung bei ihm erzeugt. Das ist eine sehr komplexe Arbeit, bei der die Persönlichkeit des Lehrers sehr wichtig ist, weil die Persönlichkeiten der Studenten eben auch sehr wichtig sind. Es gibt natürlich allgemeine Grundlagen und Aufgabenprofile, die für jeden Studenten gleich sind.

Es gibt aber auch sehr viele Unterschiede zwischen den Menschen. Unterschiedliche Lebenswege, unterschiedliche musikalische Sozialisationen, unterschiedliche Kulturen. Ein Lehrer muss dem immer Rechnung tragen. Jeder Student ist eine eigene Persönlichkeit und bringt seine eigenen Stärken und Schwächen mit. Was kann ich aus einem Studenten herauskitzeln, wie motiviere ich ihn? Man muss auch die Charaktere der Schüler verstehen, einfangen und stärken. Dann öffnen sich die Wege, um die reinen Sachfragen zu klären. Ein Lehrer muss sich immer erneuern und muss die Tendenzen der Zeit fest im Blick haben – ohne sich darin zu verlieren.“

Fachmann für Posaune

Nicht zuletzt diese Erkenntnis hilft ihm international mehr und mehr, als Fachmann für Posaune gefragt zu sein. „Es ist ein sehr großer Unterschied, ob man einen Studenten jahrelang unterrichtet oder einen Kursteilnehmer nur kurz bei einem Workshop kennenlernt. Beides hat für mich einen sehr großen Reiz. Bei Workshops lernt man viele Menschen kennen und es ist besonders spannend, sich mit so vielen Persönlichkeiten auszutauschen. Bei Workshops arbeitet ein Lehrer nicht mit nur einem Schüler.

Er hat immer die ganze Gruppe im Auge. Man arbeitet exemplarisch an einem allgemeinen Thema, wobei die einzelne Persönlichkeit Trainingspartner und Wegbereiter zugleich ist. Es ist eine große Herausforderung, in kurzer Zeit den Interessierten Wissen und positive Erleb­nisse nahezubringen. Man muss auf sie einen großen Eindruck machen, damit sie begeistert und erfolgreich mitarbeiten und vor allem später von dieser Begegnung weiterhin profitieren können. Ich persönlich lerne sehr viel aus dieser Arbeit.“

Ziele und Visionen

Fragt man György Gyivicsan, ob er seinen beruflichen Werdegang bewusst geplant habe, oder ob er dabei ist, ihn weiter bewusst zu planen, dann zieht er die Stirn in Falten. „Ich weiß nicht, ob man das so bestimmen kann. Ja, ich arbeite bewusst, wenn ich eine Aufgabe habe. Ich be­reite mich immer sehr gut vor. Vor jeder Probe und vor jedem Konzert. Ich möchte immer mein Bestes geben. Wenn das bedeutet, dass ich bewusst an meinem Werdegang arbeite, dann ­sollte ich die Frage mit ‚Ja‘ beantworten. Aber so zu arbeiten ist für mich normal. Nur so bin ich zufrieden. Und nur so sind auch andere mit mir zufrieden und es öffnen sich immer wieder neue Türen.“

So entstand auch der Kontakt zur Buffet-Crampon-Gruppe, einem Zusammenschluss von mittlerweile zwölf Markenherstellern, die über 400 Blasinstrumenten-Modelle produzieren. „Schon seit drei Jahren arbeite ich als Buffet-Crampon-Artist. Diese gemeinsame Arbeit ist für beide Seiten gut. Sie unterstützen mich sehr und machen maximal alles, was mir helfen kann. Und ich kann ihnen mit meinen praktischen Erfahrungen für die Weiterentwicklung von Instrumenten helfen. Deshalb denke ich, dass diese Zusammenarbeit nur positive Seiten hat.“

Bodenständigkeit und Fleiß

An seiner Bodenständigkeit und an seinem unaufgeregten Fleiß zweifelt niemand, der ihn kennt. Der Blick in die Zukunft beginnt für ihn ­jeden Morgen, wenn er gemeinsam mit dem neuen Tag erwacht. „Meine erste Frage nach dem Aufwachen ist oft: Wo bin ich? Ich schlafe so viel in Hotels, dass diese Frage häufig kurz im Raum steht. Aber Spaß beiseite! Am liebsten wache ich zu Hause auf und meine Kinder tollen durch die Wohnung. Das ist in manchen Zeiten nur selten.

Ich bin oft unterwegs. Ich bin meiner Familie dankbar, besonders meiner Frau, dass sie meine Arbeit nicht nur akzeptiert, sondern mich darin auch unterstützt. Ohne sie wäre ich nicht dort, wo ich bin. Denn es ist auch zu Hause so: Wenn ich meine Arbeit, meine Aufgabe habe, dann konzentriere ich mich nach dem Aufstehen sofort darauf und ruhe nicht eher, bis ­alles erledigt ist.“

Vom 8. bis 10. Mai kann man György Gyivicsan im nordrhein-westfälischen Düren persönlich kennenlernen. Er gibt dort Workshops und konzertiert mit dem Landesblasorchester NRW und dem SBO der Musikschule Düren. Infos per Mail: musikschule@dueren.de.