News, Wood | Von Klaus Härtel

Helmut Eisel über Klezmer, Mozart und die Geschichte

Eisel
Foto: Rietberg Festival

Am 11. Dezember 321 erlässt der römische Kaiser Konstantin ein Edikt. Es legt fest, dass ­Juden städtische Ämter in der Kurie, der Stadtverwaltung Kölns, bekleiden dürfen und sollen. Dieses Edikt belegt, dass jüdische Gemeinden bereits seit der Spätantike wichtiger integrativer Bestandteil der europäischen Kultur sind. 1700 Jahre Judentum in Deutschland – ein Grund, zu feiern! Wir fragten den Klarinettisten Helmut Eisel.

1700 Jahre Judentum in Deutschland. Auch Sie werden das in Mühlhausen – sofern das Festival “Clarinet & Friends” stattfinden darf – feiern. (Leider nicht – siehe unten, d. Red.) Was zeichnet eigentlich die jüdische Identität in Deutschland aus? 

Was für eine komplexe Frage an mich! Gibt es eine jüdische Identität in Deutschland? Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass das Judentum eine Reihe großer Denker, Künstlerinnen und Künstler hervorgebracht hat, die unsere Kultur immens bereichert haben. Aber wie sieht es heute aus? Ich bin kein Jude, Kerstin (Klaholz, die Organisatorin des Festivals, d. Red.) keine Jüdin. Wir haben viele jüdische Freunde in Deutschland und auch in Israel. Während es in Israel für Juden gang und gäbe ist, religiöse Zeichen – etwa eine Kippa – offen zu tragen, findet das in Deutschland nur innerhalb von Synagogen oder zu ganz besonderen Anlässen statt. Die meisten Juden in Deutschland sind heute auf der Straße nicht als solche zu erkennen. Viele haben ganz besondere Fähigkeiten, aber werden wir sie überhaupt als Juden wahrnehmen oder einfach nur als einen tollen Menschen?

Musik spielte dabei immer eine große Rolle. Das Stichwort ist: Klezmer. Wissend, dass man damit Bibliotheken füllen könnte, frage ich trotzdem: Was ist das eigentlich und seit wann gibt es die Klezmorim? 
Eisel
Foto: Astrid Karger

Ich hake schon beim ersten Satz ein: Wobei? Im jüdischen Leben? Klezmermusik ist vielen Juden auch heute noch peinlich. Warum? Von ihrem ­Ursprung her handelt es sich um die Musik von Wandermusikanten, die sich vom sozialen Ansehen her nur geringfügig von Bettlern und Land­streichern unterscheiden. Nachweisbar sind die Klezmorim in Deutschland seit dem 13. Jahrhundert. Wenn man sich die Entwicklung dieser Musik im geschichtlichen Kontext ansieht, stellt man fest: In Zeiten, in denen Juden gesellschaftlich etabliert waren, spielten jüdische Musiker nur wenig Klezmermusik, vielmehr fand man sie in den etablierten Orchestern. ­Klezmermusik hatte dafür ihre Blüte in Zeiten schlimmster Judenverfolgungen. Als Ausdruck von Identität und Zusammenhalt.

Warum übt diese Musik jüdischer Wandermusikanten auf Sie solch eine Faszination aus?

Der Erstzugang für mich erfolgte über Giora Feidman. Vorab sagte mir ein Jazzmusiker: “Da gibt es einen Klarinettisten, der spielt ähnlich wie du!” Und als ich Giora ein paar meiner Kompositionen zeigte, sagte er: “Das ist Klezmer!” Tatsächlich hatte ich – lange bevor ich das Wort Klezmer kannte – klezmertypische Tonleitern in meinen Kompositionen verwendet. Es gibt sicher viele Ansätze, das zu erklären, aber diese Musik dockte einfach bei mir an, sagte mir was, faszinierte mich. Tonal scheint sie mir geeigneter als mitteleuropäische Musik, um etwas damit zu erzählen. Durch die eineinhalb Tonschritte be­gebe ich mich außerhalb unseres Dur/Moll-Gefüges, ich erhalte statt Weiß und Schwarz ganz viele klangliche, harmonische und damit emotionale Schattierungen.

Etwas salopp gefragt, aber vielleicht ist ­Ihnen die Frage nicht neu: Darf und kann man das als Musiker, der nicht jüdischen Glaubens ist, überhaupt?

Sie werden unterschiedliche Antworten bekommen, wenn Sie unterschiedliche Menschen fragen. Ich bin der Meinung: Man darf es nicht nur, man sollte es sogar! Ich muss! Klezmermusik bietet eine Riesenchance für zwischen­mensch­liche Begegnungen ohne kulturelle und religiöse Grenzen. Sie befindet sich im Grenzbereich zwischen orientalischer und okzidentalischer Musik. Harmoniefolgen als Begleitung spielen eine große Rolle, aber sie werden nicht mehr mit der Konsequenz der mitteleuropäischen Musik eingesetzt. Improvisationen finden beispielsweise häufig über einem einzigen Akkord statt. Über die Faszination, die diese Musik auslöst, können Menschen zusammenfinden. Wir hatten vor ein paar Jahren bei unserem Festival eine denk­würdige Begegnung: Ein Spielmannszug trat gemeinsam mit einer Gruppe junger muslimischer Trommler auf, angeleitet vom jüdischen Perkussionisten Yinon Muallem. Alle zusammen spielten unter anderem Klezmermusik und hatten einen Riesenspaß dabei und es kam zu Begegnungen, die ohne diese Musik niemals erfolgt wären! 

In unseren Projekten bringen wir Schülerinnen und Schüler immer wieder mit Musikerinnen und Musikern aus Israel zusammen. Wir arbeiten da mit ganz tollen Menschen, aber der Zusammenhalt, das Gefühl der Gemeinsamkeit, entsteht über die Musik. 

Sie haben eben schon Giora Feidman erwähnt. Welche Rolle spielt er für Klezmer? Ist er das beste Beispiel dafür?

Ich habe vor wenigen Tagen mit Giora telefoniert – er ist gerade 85 geworden und erfreut sich bester Gesundheit und Schaffenskraft. Giora ist Jude, und er fordert Menschen aller Religionen immer wieder dazu auf, Klezmermusik oder besser “im Sinne der Klezmermusik” zu spielen. Unter seinen Stammmusikern befinden sich Juden, Christen und Muslime. Die Idee, über Klezmermusik ganz unterschiedliche Menschen zusammenzubringen, habe ich von ihm übernommen und er bestärkt mich bei jedem Kontakt ­darin, auf diesem Weg weiterzumachen. Viele junge Gruppen, die begeistert Klezmermusik spielen, kamen durch seine Initiative, durch seine Schülerinnen und Schüler zustande. Auch die mitreißende Gruppe “Yxalag”, die wir auf dem diesjährigen Festival präsentieren, gehört dazu.

Beim Festival wird erneut das Konzert für Klarinette von Mozart aufgeführt. Auch ein wunderbares Klezmer-Stück. Was hat es damit auf sich? 

Ooooooh – nun ja, die Version, die wir von Abertausenden von CDs kennen, ist ja nicht das Original. Das nämlich hat Mozart für mich geschrieben, mit vielen Improvisationspassagen, jeder Menge Klezmerfarben…

Klezmer
Mozarts berühmtes Klarinettenkonzert à la Klezmer? Helmut Eisel beweist: Das geht! (Label: Animato)

Ich weiß, dass es Leute gibt, die denken, Mozarts Kompositionen seien in Stein gemeißelt und dürften niemals verändert werden. Für mich ist Mozart viel größer. Er ist ein Klezmer – ein Medium, das mir Zugang zu wunderbarer Musik verschafft, ein Indikator, der mich auf einen tollen Weg führt, dem ich bei jeder Aufführung folgen kann. Ich darf aber durchaus mal nach links, mal nach rechts abweichen, Umwege gehen, andere, neue Schönheiten entdecken als die, die in den Noten stehen. Und doch lande ich immer wieder bei Mozart. Eine unglaubliche Komposition! Mit Jan Michael Horstmann und seiner wunderbaren Mitteldeutschen Kammerphilharmonie macht es mir immer wieder besondere Freude, sie zu spielen, denn auch er ist Klezmer durch und durch – einer am Dirigentenpult.

Der Holocaust spiegelt das dunkelste Kapitel der Geschichte der Juden in Deutschland ­wider. Ist dieses Jubiläum von 1700 Jahren auch vor diesem Hintergrund so bemerkenswert und in welcher Form wird das eine ­Rolle in Mühlhausen spielen? Und was entgegnen Sie Menschen, die in dem Zusammenhang von “Vogelschiss” sprechen?

Der Holocaust ist nicht wegzudenken in der deutschen Geschichte. Und er kann nicht relativiert oder abgeschwächt werden. Er war zwar bei weitem nicht der einzige Versuch, Juden in Deutschland zu unterdrücken. Er war allerdings der gründlichste und am besten organisierte – und damit der bisher schrecklichste Versuch. Ein »Vogelschiss« vielleicht in seiner zeitlich Ausdehnung – nie und nimmer aber mit Blick auf die tiefdunklen Seiten am Menschen, die er offenbart.

Auch der Holocaust zeigt: Wenn wir Angst bekommen, suchen wir nach Schuldigen, ver­suchen, unseren Kopf auf Kosten anderer aus der Schlinge zu ziehen. Wir werden sadistisch und brutal, wenn es cool ist und Anerkennung bringt, sadistisch und brutal zu sein – und werden dabei ganz oft zu Unmenschen, zu Wesen, denen das, was wir als Menschlichkeit definieren, gänzlich abgeht. Nein – natürlich wollen wir so nicht sein! Aber die Geschichte lehrt uns, dass es immer wieder passiert ist, dass es immer schlimmer wurde und dass es noch viel schlimmer wieder passieren kann.

Wir können unsere Vergangenheit nicht ungeschehen machen, es nützt da auch nichts, Geschichtsbücher umschreiben zu wollen. Aber wir können unsere Zukunft gestalten. Dafür brauchen wir Musik, dafür brauchen wir Theater, dafür brauchen wir Kultur auf allen Ebenen. Freude und gemeinsames Erleben sind die Bausteine einer lebens- und liebenswerten Zukunft. Inte­ressanter­weise sind die Leute, die vom “Vogelschiss” reden, genau die, die Angst schüren. Die, die diffuse, nicht greifbare Ängste vor Überfremdung verbreiten, mit den größten Erfolgen dort, wo es gar keine Fremden gibt. Und deshalb entgegne ich diesen Menschen mit einem Slogan, der sich 2018 nach den Ausschreitungen von Chemnitz verbreitete: WIR SIND MEHR!

Eisel

Inzwischen hat sich Helmut Eisel an die Festivalbesucher gewandt:

Liebe Freunde,
leider müssen wir in diesem Jahr bei Clarinet & Friends auf öffentliche Veranstaltungen, also auf Konzerte und auf unser vielseitiges Rahmenprogramm, verzichten. Nicht zuletzt die neuen gesetzlichen Verordnungen machen es schlicht unmöglich, für Anfang Juni halbwegs zuverlässig zu planen. Veranstaltungen offiziell anzukündigen, dafür zu werben oder gar Tickets zu verkaufen, ist aktuell nicht möglich.
ABER! Einfach absagen ist nicht unser Ding!

Wir haben uns daher auf die Grundidee von Clarinet & Friends besonnen, Musik zu den Menschen zu bringen und positive Energie dort zu senden, wo sie am nötigsten gebraucht wird. Das sollte auch und gerade in Zeiten wie diesen gelten. Wir haben uns also für 2021 für eine “soziale Variante” von Clarinet & Friends entschieden. Das heißt: Es wird zwar keine öffentlichen Veranstaltungen geben, aber wir bieten Clarinet & Friends als Workshop vom 3.6. abends bis 6.6. nachmittags an. Teil der Workshoparbeit werden diverse kleine Auftritte vor Kindergärten und Senioreneinrichtungensein, mit denen wir trotz aller unangenehmen Begleitumstände Musik und gute Laune zu den Menschen bringen.

Es wären also noch Plätze frei. Wer ist dabei? Wir gehen davon aus, dass jeder Teilnehmende getestet an den Start geht.
WICHTIG: Da die Teilnehmer diesmal selbst zu den Hauptprotagonisten werdet, erheben wir keine Workshopgebühren – die Teilnahme ist also kostenlos.Lediglich Anreise und Unterkunft müsstet ihr selbst tragen.
Auch wichtig: Bedingung ist auch für diese Variante natürlich, dass eine Versammlung der entsprechenden Zahl von Menschen zu einer Veranstaltung wie dem Workshop dann erlaubt ist – und dass das Beherbergungsverbot für touristische Zwecke aufgehoben ist. Wir sind und bleiben optimistisch!

Wir freuen uns auf euer Interesse und hoffen auf eine – trotz allem – tolle gemeinsame Zeit!
Viele Grüße
Helmut Eisel & Kerstin Klaholz