Orchestra | Von Saskia Worf

Hirngerechtes Musizieren

Gehirn
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Unser Gehirn fasziniert mich schon, seit ich 16 Jahre alt bin. Damals habe ich unter anderem deshalb Bio-Leistungskurs gewählt – und dann leider keine einzige Unterrichtsstunde darüber gehabt. Schade, denn das Wissen, was ich mir in den vergangenen zwölf Jahren angelesen habe, hätte mir damals nicht nur meinen Abi-Schnitt erheblich verbessert, sondern auch einige meiner Pro­bleme beim Üben und Musizieren gelöst. 

Wenn ich früher gewusst hätte, wie mein Gehirn funktioniert und wie ich es unterstützen kann, Wissen zu verarbeiten und Neues zu lernen, dann wäre ich nicht mehrfach in der Schule traumatisiert worden. Wie oft habe ich den Satz gehört: “Ach Saskia, das ist nicht dein Ding, da bist du nicht geeignet dafür.” Oder noch besser: “Saskia, du bist einfach nicht gut genug dafür.” Kein Witz. Und das aus dem Munde von Pädagoginnen und Pädagogen. Wisst ihr, was ich mir damals vorgenommen habe? Ich werde es anders machen. Ich wollte mich als Pädagogin und Musikerin so aufstellen, dass ich meinen Körper und mein Gehirn verstehe. Also ging ich auf die Reise …

“Jede und jeder lernt anders, das muss (!) berücksichtigt werden, anstatt dem Menschen zu sagen, er sei halt nicht gut genug dafür oder nicht geeignet.”

Wir vergleichen unser Gehirn gerne mit einer Festplatte , wie bei einem Computer. Das ist auch an manchen Stellen gar nicht so falsch, zumindest das mit dem Computer. Das Gehirn ist kein Datenspeicher wie eine Festplatte, sondern ein Datenerzeuger. Ein großer Unterschied in der Vorstellung. Es speichert keine einzelnen Er­eignisse (Daten), sondern bastelt direkt Daten­pakete in Form von Erinnerungen und Erfahrungen. Um etwas zu lernen, muss der Mensch also etwas “erfahren”, mit seinen Sinnen, am besten mehreren. Das nennt man “Mehrkanallernen”, vielleicht ist der Begriff dem einen oder der anderen schon mal untergekommen. Es ist auch vom Menschen abhängig, mit welchen Sinnen jemand besonders gut “erfahren” kann.

Ein anderer sehr wichtiger Aspekt, zusammengefasst von Prof. Gerald Hüther: “Als Neurobiologe kann ich nur sagen, dass das Allerwichtigste, das ein Mensch besitzt, und das die Voraussetzung ist, dass er viel lernt und sich später im Leben zurechtfindet, die angeborene Lust am Entdecken und am gemeinsamen Gestalten ist.” Gemeinsam. Das ist entscheidend. Wir lernen immer in Beziehung zu anderen besser und schneller als alleine. Sonst könnte ja jede und jeder einfach autodidaktisch sich jedes Instrument selbst beibringen. Das ist möglich, wir wissen das aus der Erfahrung. Aber wie kann man diesen Prozess be­schleunigen und definitiv angenehmer und lustvoller gestalten? Durch gemeinsames Lernen. 

“Wir können uns nur auf eine Sache gleichzeitig konzentrieren.”

Noch ein paar Fakten zum Gehirn: Es macht nur 2 Prozent unseres Körpergewichts aus, verbraucht täglich allerdings 20 Prozent unseres Energiebedarfs. Da kommt dann auch unser ­Zucker- oder Kaffeekonsum ins Spiel. Das Gehirn besteht aus zwei Hälften, runtergebrochen kann man sagen: die rechte ist zuständig für das kreative Denken und die linke für logisches Denken. Beide Hälften werden durch einen Balken verbunden. Dieser Balken ist für uns Musikerinnen und Musiker, besonders natürlich Instrumentalistinnen und Instrumentalisten, mit großem Inte­resse zu behandeln. Unsere Körperhälften werden allerdings entgegengesetzt gesteuert: die linke Körperhälfte von der rechten Gehirnhälfte und die rechte Körperhälfte von der linken Gehirnhälfte. Die Großhirnrinde ist in vier Bereiche mit unterschiedlichen Aufgaben unterteilt: den Frontallappen (Stirn), den Parietallappen (Scheitel), Temporallappen (Schläfe) und den Occipitallappen (Hinterkopf).

Für das Üben oder Musizieren am Instrument (ja, da gibt es einen Unterschied) sind vor allem zwei Begriffe sehr wichtig: Sensomotorik und Neuroplastizität.

Sensomotorik bedeutet vereinfacht gesagt, dass eine Bewegung nie einfach nur »motorisch« läuft und eingeübt wird, sondern immer die Sinne involviert sind. Diese beinhaltet Beweglichkeit, Schnelligkeit, Kraft und Ausdauer und ist bei jedem Instrument etwas anders im Verhältnis. Die Sinne, die beim Musizieren und Üben besonders gefordert werden, sind das Hören (auditiv), das Fühlen (haptisch) und die Tiefensensibilität, auch Stellungssinn genannt. In einigen, aber nicht allen Fällen spielt auch das ­Sehen (visuell) eine Rolle, aber im Prinzip können uns unsere Augen bei allen Abläufen, die im Körper stattfinden, auch nicht helfen.

Es gibt Musikerinnen und Musiker, die haben noch nie etwas von der Tiefensensibilität gehört, auch kinästhetische Rückmeldung genannt. Das ist gravierend, denn das Wissen über diesen Sinn ist notwendig, um musikalische Bewegungen sowie Atmung, Ansatz (bei Bläsern), Körperhaltungen oder Gesangstechnik wirklich zu fühlen und zu verstehen. Unser gesamter Körper meldet an das Gehirn durchgehend Informationen. Allein der Balken zwischen den Gehirnhälften beinhaltet 200 Millionen Axone (Nervenzellfortsätze) zur Kommunikation. Zum Vergleich: Die visuelle Information, die unser Gehirn über die Augen erreicht, wird schon über 2 Millionen Axone transportiert. Wenn man also eine neue Bewegung am Instrument erlernt, sei es eine Tonabfolge oder eine bestimmte Haltung, dann ist richtig “Alarm” im Gehirn. Es werden Nervenzellen verwendet und durch Synapsen zu einem “Datenpaket” verbunden. Das kostet natürlich Energie und Zeit. 

Da kommen wir zum wichtigsten Aspekt, den so viele nicht beachten: Unser Gehirn lernt in den Pausen und nicht während der Aktivität! 

“Die Pausen brauchen wir nicht nur um zu entspannen, sondern um zu lernen.”

So viele Musikerinnen und Musiker denken, wenn sie nur genug üben und die Bewegungen oft wiederholen, hat das den größten Lerneffekt. Was wir oft vergessen, ist, dass unser Gehirn die oben beschriebenen Datenpakete in den Ruhephasen und ganz besonders im Schlaf baut. Es bringt also überhaupt nichts, stundenlang ohne Pause durchzuüben oder zu proben und dann am besten noch zu wenig zu schlafen. Die Leistung wird dadurch nicht besser. Entspannung des Körpers ist natürlich auch ein Thema und für die Konzentrationsleistung sind Pausen unumgänglich. 

Ein gutes Modell ist hier die Pomodoro-Technik: 25 Minuten Aktivität und 5 Minuten Pause. Das kann man viermal wiederholen und dann braucht das Gehirn eine längere Pause, um wieder aufnahmefähig zu sein. Diese 5 Minuten Pause sollte man übrigens nicht mit dem Smartphoneverbringen und am besten mit möglichst wenig Reizen. Atmen und/oder kurz bewegen, aber nicht die neuesten Mails und Nachrichten checken. Das ist keine Pause, das nennt man dann Reizüberflutung. 

“Wissen und Bewegungsabläufe können nur im eigenen Gehirn generiert und nicht von außen eingetrichtert werden.”

Ein sehr wichtiger Teil im Gehirn für die meisten Instrumentalistinnen und Instrumentalisten, die unterschiedliche Dinge mit ihren Händen und Fingern machen müssen, ist der Balken zwischen den Gehirnhälften. Er ist bei Musizierenden wesentlich ausgeprägter als bei Menschen, die kein Instrument spielen.

Die Neuroplastizität kann kurz und knackig zusammengefasst werden: Wir können alles neu oder wieder lernen, egal in welchem Alter. ­Früher ging man davon aus, dass man irgendwann einfach “zu alt” ist und nicht mehr genug Gehirnzellen vorhanden sind und eben die “Zeit abgelaufen” ist. Dem ist nicht so! Das Gehirn ist jederzeit in der Lage, sich neu zu strukturieren und Synapsen neu zu schalten. Der Satz “Ich bin halt so!” oder “Das war schon immer so” zählt dann leider nicht mehr.

Auch Gewohnheiten können geändert und Routinen unterbrochen werden. Das kostet Energie – ja! Das kostet Zeit – ja! Aber es lohnt sich, und die Zeiten, in denen man dachte, man ist zu alt, um mit einem Instrument anzufangen oder die Kenntnisse wieder auf­zu­frischen, sind vorbei. Wenn einem ein Zustand beim Üben oder Musizieren nicht gefällt und man möchte ihn verändern – das geht! Wenn ein Mensch mit 60 Jahren ein Instrument neu er­lernen möchte, dauert das natürlich länger als bei einem Sechsjährigen, aber es geht und es hat so viele Vorteile für das Gehirn und die Motorik. Bestes »Gehirnjogging«, wenn man nicht so auf Sudoku oder Kreuzworträtsel steht. 

Ich hoffe, dass ich etwas Lust gemacht habe, sich mehr mit dem Thema zu beschäftigen. Es lohnt sich auf jeden Fall!

Gehirn

Saskia Worf 

ist Flötistin, Pianistin, Autorin und Coach. Neben ihren künstlerischen und pädagogischen Tätigkeiten betreibt sie seit 2019 einen Podcast und Blog zum Thema Selbstmanagement für Musikerinnen und Musiker (www.managemusik.com). Jüngst erschien ihr Buch “Was machen Sie eigentlich beruflich?”. Man findet sie auf Insta­gram und kann dort mehr über ihren Arbeitsalltag und ihre Projekte erfahren.

Zum Artikelthema hat sie vor kurzem eine Online-Master­class gegeben und mit dem Code BRAWOO gibt es 10 Prozent ­Rabatt auf die Aufzeichnung (https://dvo.tips/worf-masterclass).