Orchestra | Von Renold Quade

Imagasy. Tone Picture for Concert Band von Thiemo Kraas

Imagasy

Imagasy ist ein Neologismus, eine Wortschöpfung. Es setzt sich aus den englischen Be­griffen „imagination“ und „fantasy“ zusammen. Ausgehend von dem Bibelzitat „Am Anfang war das Wort“, soll das Werk den Hörerinnen und Hörern verdeutlichen, dass der Ursprung aller Kreativität in den Vorstellungen und Illusionen der Handelnden liegt. Komponist Thiemo Kraas war schon im ­Alter von zwölf Jahren auf eine jugend­liche Art fasziniert davon, wie man aus ein paar wenigen Tönen, einer kleinen Idee, etwas entwickeln kann: sich weiter und weiter fortspinnende Gedanken, die etwas neues Musikalisches erschaffen. Die Welt der Blasorchester war ihm dabei ein ständiger Impulsgeber. So bezeichnet er sich augenzwinkernd gerne als ein „Kind des Blasorchesters“, auch wenn ihn von Anbeginn die klassische Sinfonik, die Chor- und Kammermusik und selbstverständlich auch Popmusik begleitet haben.

Der Komponist

Thiemo Kraas wurde 1984 in Arnsberg geboren. Er studierte Musikpädagogik mit Hauptfach Schlagzeug sowie Musiktheorie, Tonsatz und Gehörbildung an der Hochschule für Musik in Detmold. Früh war er zudem Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes.

Praktische Erfahrungen als Orchestermusiker sammelte er immer wieder in Ensembles wie dem Jungen Tonkünstler Orchester Bayreuth, dem Orkest van het Oosten Enschede, der Deutschen Bläserphilharmonie, der Kammerphilharmonie Hamburg und vielen mehr. Von 2008 bis 2015 arbeitete er als Dirigent und musikalischer Leiter des Jugendmusikkorps Avenwedde – Stadt Gütersloh, 2010 zunächst als Tutor, 2014/15 auch als Dozent an der Hochschule für Musik Detmold in der Fachkombination Musiktheorie und Tonsatz.

Im Jahr 2016 wurde er fester Mitarbeiter des Musikverlags Rundel, mit dem er bereits seit dem Jahre 2005 eine intensive Zusammenarbeit pflegte. Diese gründet nicht zuletzt auf der dort mit sehr viel Liebe und Umsicht betreuten Veröffentlichung von „Imagasy“. Das Manuskript wurde im Herbst 2002 bei „Jugend komponiert NRW“ mit einem 2. Preis ausgezeichnet und durch die Junge Bläserphilharmonie NRW unter Leitung von Pierre Kuijpers uraufgeführt. Das Stück gefiel so gut, dass das Orchester es auch auf seine Reise nach Singapur mitnahm und auf der dortigen WASBE-Konferenz 2005 vorstellte. 

Während des Schöpfungsprozesses tat der junge Komponist in diesem Werk ausdrücklich das, was ein junger Komponist tun muss: ausprobieren. Besonders unter dem Aspekt, „was mit dem Apparat Blasorchester so alles geht“. Die veröffentlichte Version fokussierte praxisnah das Kaleidoskop der „fantastischen Eindrücke“ des Manuskripts, abbildbar für eine breite Orchesterlandschaft. Ausgestattet mit dieser Erfahrung, Kreativität und Praxisnähe sinnstiftend zusammenzuführen, begann Kraas’ erfolgreicher Weg als Komponist und Arrangeur für Blasorchester. 

Die Idee

Thiemo Kraas selbst erläutert zu seiner Kom­position: „Die Fantasie ist sicherlich eines der schönsten Geschenke, die uns gegeben wurden. Es liegt an uns selbst, ihr die Möglichkeit zu geben, sich zu entfalten. Ohne sie laufen wir allzu sehr Gefahr, in der Rationalität der heutigen Welt unterzugehen.“ In Vernunft und Fantasie sieht er keinen unauflösbaren Gegensatz, sondern lediglich zwei bestimmende und zusammengehörende Aspekte im breiten Spektrum des menschlichen Seins.

Angeregt zu seiner Komposition, die er als „Tongemälde“ bezeichnet, wurde er durch die Be­obachtung eines kleinen Kindes, das sich, völlig in sich versunken, beim Malen eines Bildes in eine Traumwelt versetzte. „Mit seiner grenzenlosen Fantasie malte es mir eine Geschichte“, beschreibt er dieses sehr persönliche Erlebnis. Ob da „Kind“ und „Komponist“ das gleiche dachten, ist einerseits vollkommen unerheblich und andererseits sicher nicht zu erwarten. Allein wichtig ist „das Feuerwerk der Gedanken“, das immer und immer wieder weitergetragen wird. Bemerkenswert ist zum Beispiel ein einzelner, konkret nachweisbarer Schritt einer hoffentlich nie enden wollenden Inspirationsfolge. Beim Potsdamer Maler Christian Heinze wurden Fantasien beim Hören und Erleben dieser Kraasschen Musik ausgelöst, die er wiederum in seine Welt trug und die ihn zum Malen eines Bildes an­regte. Sinnigerweise ziert genau dieses Bild die Titelseite der Notenausgabe. 

Imagasy

Das Titelbild 

Der Potsdamer Maler Christian Heinze schuf das Bild zur Notenausgabe und zum CD-Cover, ohne etwas über den Autor der Musik zu wissen. Er hörte die Musik und malte dazu. Seinem Empfinden nach erzählt die Musik von zwei sich liebenden Menschen, die in einem weiblichen und einem männlichen Gesicht zum Ausdruck kommen. Die Musik sei manchmal voller Zart- und Feinheit, manchmal jedoch wolle sie auch »mit dem Kopf durch die Wand«. Und dies mit großer Energie; wie etwa der eines Pferdes. Dieses ist in der Mitte des Bilds zu finden.

„Imagasy“ ist gelistet in der BDMV-Selbstwahlliste „Literaturempfehlungen für Wertungsspiele“ und in der „Wettstückliste des Schweizer Blasmusikverbandes“. 2009/2010 war es Pflichtstück der Oberstufe in Bayern. 

Der Aufbau

Gekratztes Tamtam, Tempelblocks, Becken, Pau­ken, Xylofon, Toms und Flexatone bilden den Boden für erste, durchaus auch perkussiv an­gelegte solistische Bläsereinsätze, die sich den Charakterhinweis „misterioso“ absolut verdienen. Ab Takt 7 sorgt die solistische Paarung von Bassklarinette und Altsaxofon, gestützt von einer einfachen Basslinie und komplementär füllendem Horn und Bariton, für eine erste zarte Stabilität. Ab Takt 13 wird es „cantabile“ und die Partitur ist nun deutlich gefüllter. Im Vordergrund stehen milde, eher tiefe Klänge. Während die weichen Tenöre eine Melodie entwickeln und Tuba und Posaunen „traditionell“ begleiten, formen Klarinetten und Querflöten mit Oboen andere Begleitwelten. Zusammen im Nebeneinander fließen triolische und achtelorientierte ostinate Arpeggien. Ab Takt 18 wird es noch einmal ganz leise, wenngleich die Partitur sich nun komplett füllt. Die Trompeten sind nun auch mit im Boot und so baut sich über zwei Takte molto ­ritartando hin zu Takt 20 – durchaus mit Pathos – ein erstes großes Fortissimo auf. 

Ein neuer, angeregterer Rhythmus

Ab Takt 25, schält sich, über zwei einleitende Takte im Decrescendo, ein „Marche funebre“ heraus, den die Klarinetten in mittlerer Lage, akkordisch gestützt von Saxofonen, Posaunen und Tuben, anführen. Ab Takt 31 gesellt sich eine Nebenmelodie dazu – im Grundsatz einer solistischen Oboe zugeordnet, aber alternativ auch im Tenorregister ausgewiesen. Überleitend pulsiert ab Takt 35 im gesunden Forte eine Art Zwischenspiel, welches – wenn auch im gleichen Tempo – einen neuen, angeregteren Rhythmus etabliert. Diesen pflegen die Trompeten, flankiert von einem ergänzenden Rhythmus in Klarinetten und Tenören, ab Takt 39 wirkungsvoll weiter.

Darüber legt sich dann breit eine Melodielinie der Hörner und Posaunen. Sie läuft bei Takt 45 aus. Hier nun, über ein effektvolles Piano mit einer kurzen solistischen Passage der Tenöre eingeleitet, baut sich ein vom Blech dominiertes „tutta forza“ auf. Ab Takt 51 bestimmen umspielende Hölzer das Geschehen und lassen diesen Abschnitt des Werkes mild auslaufen. Es bildet sich stauend noch kurz ein Mini-Orgelpunkt, der aber keinen finalen Charakter vermittelt, da eine kleine Dissonanzanreicherung bereits Neues erahnen lässt. 

Über zweimal vier Takte wird von Saxo­fonen und Posaunen ein weiterer Groove etabliert

Und weiter geht’s, attaca, allegro ritmico. Diesmal sind es ab Takt 57 die Hölzer, die über vier Takte nicht nur ein neues Tempo, sondern auch einen neuen Groove festlegen. Was sich ab Takt 61 bei vollem Tutti im Blech wie ein Thema anfühlt, ist im Grunde genommen eine fulminante Überleitung zum „Tempo primo ma alla breve“ ab Takt 69. Über zweimal vier Takte wird von Saxo­fonen und Posaunen ein weiterer Groove etabliert, der ab Takt 77 den Hörnern den Boden für ein definitiv neues achttaktiges Thema ebnet. Dieses wird ab Takt 85 von den Hölzern ganz kurz witzig und tänzerisch durchbrochen, derweil der Grundgroove aber beständig weiterläuft. Ab Takt 91 nehmen die Trompeten das Thema wieder auf und führen in ein kleines Schlagwerksolo, welches vier Takte vor Takt 103 einen weiteren melodiösen Gedanken einleitet, der bis Takt 126 frisch voranschreitet. 

Ab Takt 127 wird es nun wieder ein wenig „misterioso“. Mit langem Atem formen die Querflöten in recht tiefer Lage ein neues, ruhig fließendes Ostinato, zu dem eine Klarinette und später, rhythmisch prägend, der Trompetensatz hinzukommen. Das neue Klangbild hat sich gerade verfestigt, da dürfen die Posaunen „appas­sio­nato“ (auftaktig zu Takt 139) in eher tiefer Lage und tiefem Satz eine Melodie darüberlegen. Ab Takt 153 dünnt sich das Szenario extrem aus, die Rhythmen reduzieren sich und es läuft auf eine kurze Generalpause hinaus, die aber schelmisch und eher überraschend mit einem Tutti-Einsatz beendet wird.

Reise durch das Land der Fantasie

Eine kurze Solokadenz des Baritons leitet nun den vorletzten Teil dieser abwechslungsreichen Reise durch das Land der Fantasie und der harmonisch veredelten Rhythmen ein. Aus einem warmen Klang der Posaunen erhebt sich, an­dante espressivo, affetuoso, ab Takt 162 in den Klarinetten eine achttaktige Melodie, an deren Ende ein Altsaxofon noch einen kurzen auffälligen Akzent addiert. Trompete (Flügelhorn) und Bariton setzen den Gedanken nun holzbegleitet weiter fort und führen hin zu Takt 179, wo sich über wenige Akkorde (forte und im Tutti) ein schwebendes, träumendes Szenario aufbaut. Einerseits hat die Musik etwas sanft Drängendes (zum Beispiel in den Posaunen), andererseits aber auch etwas von Weite und un­end­licher Freiheit, durch einen Mix von ausnotierten und (in den Klarinetten) freien aleatorischen Bausteinen. 

Allegro ritmico, im Zweihalbetakt und in der Andeutung eines leichtgängigen Calypso-Grooves, beginnt ab Takt 190 der letzte Teil. Bis zum Auftakt zu 208 ist der Rhythmus der Star, dann ergießt sich eine sim­ple, wohlklingende Melodie ins Geschehen, die ab Takt 224 zur Coda abbiegt. Noch einmal rhythmisch leicht vertrackt, da zumindest ein wenig metrisch verrückt, überrascht die Schlusswendung und beendet das Werk mit einem Tuttischlag auf der Zählzeit vier.   

Kraas
Thiemo Kraas (Foto: privat)

Die Instrumentierung

Die Besetzung entspricht dem Standard eines Oberstufenorchesters und stellt auch, was die Lagen der Instrumente und deren spieltechnische Anforderungen betrifft, grundsätzlich niemanden vor unlösbare Aufgaben. Aber ein gewisser Pfiff liegt schon in der Luft, der das Werk nicht zu einem „leicht von der Stange spiel­barem“ macht.

Der Kompositionsstil ist hier sicher verstärkt der Tatsache geschuldet, dass der Komponist von Haus aus ein gelernter Schlagzeuger ist. Er bietet somit nicht nur „seinem“ Schlagwerkregister eine dankbare Spielwiese, er strukturiert grundsätzlich einzelne Passagen gerne mithilfe von rhythmischen Schichtungen, die die sonst eher melodiös geprägten, um nicht zu sagen eher weniger perkussiv eingestellten Mitmusizierenden mit ordentlich Spaß an Rhythmik und Metrik versorgen. Darin liegt ein besonderer Reiz der Komposition, der auch ins Klangliche hinein Wirkung zeigt, da die rhythmischen Schichtungen harmonisiert werden. 

Kraas’ Tonsprache entfaltet sich nicht zuletzt sehr eindrucksvoll wegen eben dieser instrumentatorischen Nuance, die sich ob seiner verwobenen Netze der Rhythmik ergibt. Wirkungsvolle Soli stehen zudem gerne neben großen Klangflächen, die sich häufig aus den obertonreichen Tenor- und Basslagen heraus entwickeln. Wer Thiemo Kraas kennt, der erlebt ihn als sehr ruhigen und bedächtigen Arbeiter, der mit viel Liebe zum Detail zu Werke geht. Und nur so wird’s auch gehen bei der Interpretation: die bunten Puzzleteile ergeben nur fein aufeinander abgestimmt ein schlüssiges Klangbild. 

Fazit 

Die aktive Anregung des Malers Heinze wird ­sicher nicht die einzige sein. Diese „Aufforderung“, der Fantasie freien Lauf zu lassen, hat auch einen hohen Unterhaltungswert, der die namens­gebende „Imagasy“ sicher noch einmal umso mehr beflügelt. Für die Interpreten hat die Musik hohes Animationspotenzial. Sie ist gespickt mit liebevollen Möglichkeiten, in Gestaltungsbereiche vorzudringen, die nicht reinen Standardsituationen geschuldet sind.