»Incantation and Dance« ist in der Tat das erste große Werk für Konzertblasorchester von John Barnes Chance. Er schrieb es 1960 und da trug es zunächst noch den Arbeitstitel »Nocturne and Dance«. Erst als es 1963 verlegt und veröffentlicht wurde, bekam es final seinen offiziellen Namen. Dieses Werk setzte damals neue Akzente und zählt auch heute ohne Frage zu den Klassikern, ist gar ein Eckfeiler in der Geschichte der frühen konzertanten Literatur für großes Blasorchester.
Der Komponist
John Barnes Chance wurde Ende 1932 in Beamont, Texas, geboren. Von seinen frühen Jahren ist nicht viel veröffentlicht. Dem Vernehmen nach war einer seiner Vorfahren, Robert Chance, ein Spieler aus Mississippi, der sich Ende des 19. Jahrhunderts im Südosten Texas niederließ. Seien Eltern, Herr und Frau Robert Floyd Chance, lebten dort ebenfalls. John Barnes, auch Barney genannt, beendete sein Studium zunächst an der University of Texas mit den Regelabschlüssen »Bachelor of Music« und »Master of Music«. Er war von Hause aus Schlagwerker, es folgten aber weitere Studien im zweiten Fach seiner Leidenschaft, dem komponieren. Er erhielt ergänzenden Kompositionsunterricht bei Kent Kennan, Clifton Williams und Paul Pick. Nach seiner Studienzeit war er übergangsweise eine Zeit lang als Pauker beim Austin Symphony Orchestra verpflichtet.
Mit der Art, wie er seine Musik schrieb, wurde er einerseits bekannt für im Grunde tonalen und romantischen Stil, darüber hinaus aber auch für seine Neigung, seine musikalischen Gedanken gerne mit Abhängigkeiten von wohl ausgesuchten Rhythmen zu bilden. Im Jahr 1956 wurde ihm der Carl Owens-Preis zugesprochen, eine Auszeichnung, die sein studentisches komponieren ehrte. Aufgrund eines Stipendiums der Ford-Stiftung für junge Komponisten konnte er von 1960 bis 1962 als »composer-in-residence« in Greensboro, North Carolina arbeiten. In dieser Zeit arbeitete er dann auch an »Nocturne and Dance«.
Zuvor, während seiner Armeezeit, war er Arrangeur und Schlagzeuger für die Fourth und Eighth United States Army Bands. Während seines Dienstes in Seoul, Südkorea, als Mitglied der Eighth U.S. Army Band, stieß Chance auf »Arirang«, ein pentatonisches koreanisches Volkslied. Das wurde ihm später zur Inspiration für sein wohl bekanntestes Werk, für seine Komposition »Variations on a Korean Folk Song« aus dem Jahre 1965. Gerade hier konnte er seiner Affinität zu Percussion-Instrumenten, wie Gongs, Tempelblöcke und andere, aus damaliger Sicht sicherlich noch eher exotische Ergänzungsinstrumente, stilsicher Raum geben.
Wachsende Ambitionen
Chance hatte schon seit den frühsten Anfängen seiner diversen beruflichen Verpflichtungen Musik in verschiedensten Schwierigkeitsgraden komponieren müssen und wollen. Dabei fand er schon immer großen Gefallen daran zu ergründen, was Schülern und Studenten, die er zudem begleitete und dirigierte, innovativ so interessierte. Er tat daher mit Freude und größerer Häufigkeit schon immer etwas, was viele Komponisten zu dieser Zeit noch nicht prioritär auf ihrer To-do-Liste hatten. Er komponierte bewusst und umsichtig für Perkussionsgruppen und, wie beschrieben, diese auch verstärkt eingesetzt in Orchesterwerken. In diesem Zuge wuchsen mehr und mehr seine Ambition, neben seiner reinen Komponistentätigkeit ebenso verstärkt als Musikerzieher zu wirken. In Jahre 1966 wurde er somit folgerichtig zum Professor an die Universität von Kentucky berufen.
Elegy, Blue Lake Overture und Symphony No 2 sind weitere Werke, die ihn bekannt gemacht haben. Interessierte Dirigenten, gerade im Bereich Blasorchester, haben sich zudem gerne einmal auf die Suche gemacht, weitere Werke seines Schaffens für ihre Programmplanungen zu finden. Sie sind aber nicht wirklich fündig geworden. John Barnes Chance verstarb 1972, im Alter von nicht einmal 40 Jahren, allzu früh und mitten in der Blüte seiner Karriere. Er wurde im Hinterhof seines Hauses in Lexington, Kentucky, von einem Stromschlag bei einem häuslichen Unfall getötet.
Chance, dem stets eine sichere Beherrschung jeglicher Instrumentierung bescheinigt wird, schrieb nicht nur Werke für Blasorchester, er schrieb auch für Orchester- und Kammermusik sowie für Vokalmusik.
Die Idee
»Nocturne and Dance« entstand während seiner Amtszeit in Greensboro, North Carolina, im Rahmen des Young Composer Project der Ford Foundation. Chance widmete dieses Stück Herbert Hazelman und der Greensboro Senior High School Band, die diese Version am 6. November 1960 auch uraufführte. Die Premiere von »Incantation and Dance«, nachdem Chance noch einmal Hand an das Werk angelegt hatte, fand am 23. März 1961 mit dem gleichen Orchester statt.
Das Werk ist, formal gesehen, in drei Abschnitte aufgeteilt. Zunächst wird die Stimmung »Incantation«, eine langsame, eher mystische »Beschwörung«, vorgestellt. Dem folgt ein bewegtes kleines »Perkussionskonzert«, welches sowohl ein eigener Abschnitt ist, aber gleichzeitig auch als Brücke zwischen den Hauptabschnitten fungiert. Schließlich wird dann das Thema »Tanz« nicht nur rhythmisch, sondern mit Hilfe aller musikalischen Parameter aufgegriffen. In diesem dritten Abschnitt werden u. a. alle drei Abschnitte gleichzeitig und nicht nur nacheinander gespielt. Länge und Anmutung aller drei Teile unterscheiden sich sehr stark. Sie sind definitiv substanziell kontrastierend, passen obendrein aber auch »übereinander«, so dass das Werk eine große Einheit bei aller Mannigfaltigkeit auszeichnet.
»Incantation and Dance« for Concert Band, Grade 5, Dauer ca. 8 Minuten, wurde in »Second Edition« von Boosey&Hawkes (Hal Leonard) noch einmal mit Hilfe des Original-Manuskriptes komplett neu editiert und korrigierte etliche Fehler aus dem ersten Originaldruck.
Der Aufbau
Das Werk beginnt im Largo, zunächst solo, später zunehmend von tiefen Klarinetten begleitet mit einer ebenfalls eher tiefen Querflöte. Diese Incantation, diese Beschwörung, ist eine kurze, traurige Melodie im legato, dolce, misterioso. Sie ist ebenso geheimnisvoll und rätselhaft, wie auch neugierig und Erwartungen weckend. Dies wohl nicht zuletzt ob ihrer instabilen und nicht eindeutig zu definierenden Tonalität. Die dynamische Ebene bleibt lange sanft, gedämpft und wartend. Sie kommt, auch bei sich füllender Partitur, über pianissimo und piano nicht hinaus.
Ab Takt 33 ändert sich das Tempo in Presto. Von den Bläsern bleibt lediglich eine flirrend tremolierende Akkordfläche in den Klarinetten und tiefen Weichklingern übrig. Derweil bahnen sich nun die Perkussions-Instrumente ihren Weg. Maracas, Claves, Cabasa, Tambourin, Temple Blocks und Timbales. Sich addierend, bringt jedes Schlaginstrument sein eigenes rhythmisches Motiv ein. Motive, die sich später auch im Abschnitt »Tanz« wiederfinden. Ab Takt 53 mischt die Pauke dann auch mit und auftaktige Blockakkorde in Klarinetten, Trompeten und Hörnern steigern weiter die Spannung. Ab Takt 57 sind es gegen den Puls bürstende, stauende Triolenmotive, die feroce, wild, grausam und erbittert, im spannungssteigernden Sinne, sich über den ostinat pulsierenden Grundgroove legen. Bildlich gesprochen kann man die Wildheit und das Fortissimo der akzentuiert wiederholten Triolen als vielleicht den letzten ausgesprochen Zauberspruch vor dem Tanz wahrnehmen.
Schließlich wird dem allen nun noch eine Peitsche hinzugefügt. Deren Impulse, gemeinsam mit kleinen, fast erlösenden, Sechszehntel-Achtelmotiven im Dialog zwischen Blech und Holz, können andeutungsweise auch so interpretiert werden, dass sich die brodelnde Spannung sicher bald komplett entladen könnte. So baut sich, nach und nach, ein ungemein komplexes und treibendes rhythmisches Muster auf. Im Zuge dieser Entwicklungen steigert sich mit der energetischen Intensität natürlich auch die Intensität der Dynamik.
Ein Hauch von Incantation
In den Takten 69 und 70 verselbständigt sich die Sechzehntel-Achtelmotivik und gibt, burlesque verstärkt über einen eintaktigen Taktwechsel zum Dreiertakt, die Bühne frei für den eigentlichen Tanz, der dann wieder regulär im Vierertakt weiter voran drängt.
Im Tanz finden die bereits etablierten rhythmisch Ideen der Percussions-Instrumente, sich erneuernd, nuancierte Verwendung. Ihre rhythmischen (Kern-)Motive bekommen nun in den Bläserlinien eine zusätzliche melodische Ebene. Die ersten zwölf Takte gehören eher den Holzbläsern und das Szenario bedient sich im zwölften Takt wieder gerne des kurzen, burlesquen Taktwechseleinschubs. In den nächsten zwölf Takten gewinnen die Blechbläser zunehmend die Oberhand. Erneut mit dabei der kurze Taktwechsel, der in den anschließenden sechs ekstatischen Takten ein volles Tutti im klangstarken Fortefortissimo freigibt.
Ab Takt 101 beruhigt sich, übergeleitet durch nur einen Takt in Bass-, Kontrabass-Klarinette und Fagott, das Szenario urplötzlich. Zunächst nur in den Klarinetten, schnell gefolgt von den Saxofonen, liegt wieder ein Hauch von »Incantation« in der Luft. Eine kurze Variation des langsamen Eingangsmaterials, angelegt im Grundtempo des Tanzes, perlt einerseits ruhiger, aber andererseits durchaus auch beunruhigend bis Takt 115. Ab hier wirbeln nicht ganz lupenrein diatonische Tonleiterskalen in den Hölzern erneut Spannung auf. Darunter im Blech Varianten der »Zaubersprüche«, die vormals hin zum eigentlichen Tanz hingeführt hatten. Aus den Skalenläufen im Holz werden schließlich Tremoli. Das Blech schwillt mit seinen Rufen wieder zum Tutti an. Ab Takt 127 ist zum Zwischenhöhepunkt das Schlagwerk auch wieder mit von der Partie. Dieser Zwischenhöhepunkt dient gleichzeitig als Wendepunkt und leitet ein dreitaktiges »molto diminuendo« ein.
Reprise des Tanzes
Ab Takt 130 dann die Reprise des Tanzes. Leise machen sich die Perkussions-Instrumente im piano wiederaufbauend auf den Weg. Sie lassen sich aber nicht so viel Zeit wie zu Beginn. Sie benötigen nun, sich erneut addierend, nur je zwei Takte bis zum nächsten Einsatz. Die hohen Hölzer tremolieren, Weichklinger liefern den Orgelpunkt. Nach deutlich Klang steigerndem und rhythmisch kurz spürbar pointierten Einsatz von Trompeten und Horn, spielt eine solistische Klarinette, volltaktig, wie auftaktig positioniert, mit dem immer wieder dominierenden Sechszehntelmotiv. Die Dynamik schwillt erneut an und ab Takt 148, die Perkussions-Instrumente schweigen nun, beginnen die Klarinetten aufs Neue mit dem stampfenden Grundgroove des Tanzes. Die Dynamik ist allgemein leise köchelnd gehalten. Gedämpfte Hörner färben den Orgelpunkt, der, jeweils eröffnet von suchenden Kleinmotiven aus den bekannten Substanzen, die mysteriöse Stimmung weiter erhält. Ein tiefe Soloklarinette im Dialog mit einer Soloquerflöte formen Melodiezüge, die eher suchend wirken. Ab Takt 166 aber platzt das tiefe Blech, gefolgt von den Trompeten, nun dynamisch wenig zimperlich mit dem bestehenden Grundgroove heraus. Ab Takt 172 schreien die hohen Hölzer für zwei Takte kurz mit dem Sechzehntel-Achtelmotiv auf, in Takt 174 wieder piano, nur gedämpfte Hörner und tiefes Holz mit zwei übereinandergelegten Tanzrhythmen. Es brodelt.
Ab Takt 176 folgt dann wohl der Start zum letzten großen erneuten Tanzaufbau. Solistisch beginnend, leise, nur mit Querflöte und einem Dreiersatz der ersten Klarinetten, wird ab jetzt nun Schlag auf Schlag und in Wellen alles, was bislang an rhythmischen und melodischen Komponenten auf dem Tisch lag, wieder und weiter verarbeitet. Aufgeregt, dramatisch, immer wieder mit kleinen solistischen Einschüben der Schlagwerker, die die Energien natürlich nicht abreißen lassen, aber z. B. den Bläsern kurze Atempausen bescheren, strebt das Werk seinen Schlusstakt 235 entgegen, nahezu apotheotisch, gar in wilder Trance.
Instrumentation
Rhythmus ist Trumpf. Nicht nur eine üppige Anzahl von Perkussions-Instrumenten kommt hier genüsslich auf seine Kosten. Auch die Bläser haben, neben melodischer Standartbehandlung, bei wohl gesetzten, aber nicht immer von der Stange klar wahrzunehmenden melodisch-harmonischen Verhältnissen, ein hohes Maß an perkussiven Aufgabenstellungen zu bewältigen.
Solidität in Artikulation, präzise rhythmische Wahrnehmung und damit verbunden sicher auch die Fähigkeit, Intonation unter durchaus veränderten Rahmenbedingungen neu wahrnehmen zu dürfen, stellt so seine Herausforderungen. Dies verbunden mit gelegentlich durchaus anspruchsvollen technischen Aufgaben und großem, kontrollierten Krafteinsatz fordert das komplette Orchester.
Fazit
Mit seinem Reichtum an rhythmischen und motiv-melodischen Ideen, sowie der (für die damalige Zeit sicher) innovativen Behandlung der Perkussions-Instrumente, ist und bleibt »Incantation and Dance« auch heute noch einer der leuchtenden Klassiker der früher konzertanten Musik für große Blasorchester. In der Rangordnung von Einstufungen gehört es sicher nach wie vor in die Höchststufe. Aufgrund der weiteren Entwicklungen in dieser Spartierung ist das Werk aber mittlerweile sicher nicht eines der herausforderndsten dort.
Für diejenigen, die zur verdeutlichenden Beleuchtung ihrer persönlichen Deutung von Musik gerne mit Bildern und Geschichten arbeiten, bietet das Stück so Einiges. Grundsätzlich bin ich ein Freund solcher Vorstellungshilfen, wenn dazu die handwerkliche Faktenlage der Komposition im vollen Maße die prägende Grundlage bleibt. So können spannende Interpretationen, charakteristisch und mit eigener Note, im Rahmen von zu achtender Werktreue, entstehen.

Läuft hier ein Film ab?
»Incantation«, gesungene und gar geschriene Zauberformeln, die zu Beginn eines magischen Rituals Äußerung finden. »Dance«, akustisch erzeugte Bewegungen von großer Intensität. Beides auch visuell gut vorstellbar? Läuft hier, untrennbar mit der Musik verbunden, ein Film ab? Sieht hier jeder die Bilder einer magischen Zeremonie?
Eine Geschichte, wie man ggf. das Geschehen bildlich auffassen könnte, erzählt Ms. Kluga, Band Direktor der Yorktown High School Band in Arlington, Virginia, ganz aktuell 2024 zum North West Band Festival in etwa so:
»Dunkelheit in einer klaren, kalten Nacht. Vollmond über einem kleinen Dorf auf dem Lande. Vermummte dunkle Gestalten formieren sich zu einem Kreis, dicht gedrängt, gespannt und voller Erwartung. Eine Stammesfrau singt eine Melodie zur Eröffnung des Rituals, Stammesmänner wiederholen Teile davon. Alles sanft, leise und konzentriert. Das zeremonielle Feuer ist entfacht (Maracas). Eine kleine Flamme erhellt die Nacht. Zug und Zug, (sich addierende Percussion-Instrumente), steigert sich die Spannung und das Feuer gewinnt an Stärke. Der Ältestenrat, (mit Einsatz der Pauke), gibt das Zeichen zum Beginn des Tanzes, Der ganze Stamm wiederholt, einem Echo ähnlich, die letzten Beschwörungen. Die Stimmen nun fester und voller Zuversicht. Sie spiegeln die wachsende Intensität der Flammen wider. Der Tanz beginnt.«