Musik und Mathematik? Natürlich war Pythagoras an allem schuld. Die Anekdote, wie der antike Philosoph durch den Schlagklang unterschiedlich schwerer Schmiedehämmer das mathematische Prinzip der Konsonanz entdeckt hat, wurde jahrhundertelang nacherzählt und ausgeschmückt.
Es ist ja auch wirklich eine hübsch erfundene Legende. Doch eine Nachprüfung hätte freilich gezeigt, dass die Tonhöhe des Hammerschlags keineswegs vom Gewicht des Hammers abhängt – die Anekdote aus der Schmiede hält also wissenschaftlich betrachtet nicht stand. Das physikalische Prinzip darin aber beschreibt zutreffend das Klangverhalten verschiedener Saitenlängen, Luftsäulen, Triangeln usw. – und darum geht es hier ja eigentlich.
Pythagoras soll das von ihm gefundene Konsonanz-Gesetz angeblich mit einem Monochord, einem Zupfinstrument mit Resonanzkasten, nachgeprüft haben. Er stellte dabei fest: Zwei Töne konsonieren oder harmonieren (also: klingen besonders schön zusammen), wenn ihre Schwingungen (Saitenlängen) in einem einfachen ganzzahligen Verhältnis zueinander stehen. 1:2 – die Oktave, 2:3 – die Quinte, usw. Heute würde man sagen: Zwei Töne konsonieren, wenn ihre Obertonspektren weitgehend übereinstimmen. Die Oktave und die Quinte klingen einfach schon im Grundton am kräftigsten mit.
Die Arithmetik der Seele
Mehr als 2000 Jahre lang konzentrierte sich die sogenannte “Musiktheorie” auf Pythagoras’ angeblichen Besuch in der Schmiede. In der Antike und im christlichen Mittelalter waren die Gelehrten überzeugt davon, dass die Mathematik der Kern aller Musik sei. Die Arithmetik mache die Schönheit der Musik aus, sie erkläre auch die tiefe Wirkung von Musik auf die menschliche Seele. Das einfache, klare Maß – 1:2, 2:3 usw. – sei das eigentliche Geheimnis der Klangkunst.
“Musiktheorie ist die Wissenschaft vom richtigen Abmessen”, schrieb der Kirchenvater Augustinus (354 bis 430). Noch Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 bis 1716) meinte: “Musik ist die versteckte arithmetische Tätigkeit der Seele, die sich nicht dessen bewusst ist, dass sie rechnet.” Die Mathematik der Musik projizierte man auch in die Planetenbahnen, in die Engelsgesänge, in die Rhythmen, die Emotionen. Augustinus lehnte fünf- und siebenfüßige Verse ab, weil ihnen das “Gleichmaß” fehle. Descartes glaubte, dass jede Tonstufe, jede Taktart mit mathematischer Präzision eine bestimmte emotionale Wirkung habe.
Konsequenterweise wurde die Musik darum lange Zeit zum “Quadrivium” gerechnet, also zu den vier mathematischen Disziplinen (neben Arithmetik, Geometrie und Astronomie). Das Konsonanz-Prinzip hat man dabei sozusagen absolut gesetzt, als erkläre es restlos, was Musik eigentlich ist. Über die Schönheit einer Komposition entschied daher nicht das Gehör oder das Gefühl, sondern allein die Mathematik. Lediglich Oktaven, Quinten und Quarten waren als Zusammenklänge erlaubt. Dem Komponisten Claudio Monteverdi (1567 bis 1643) wurde sogar die Inquisition angedroht, weil er gegen diese starren Regeln verstoßen hatte. Monteverdi forderte dagegen, Vernunft und Gefühl walten zu lassen. Aber nur gegen Widerstände hat man schließlich auch Terzen und Sexten als “eingeschränkt konsonant” akzeptiert. Nur allmählich lernte man, zwischen “akustischen” und “musikalischen” Dissonanzen zu unterscheiden.
Die Lust an der Dissonanz
Heute verstehen wir, dass bei der Zuordnung zum Quadrivium nicht eigentlich die Musik gemeint war, sondern vielmehr die Akustik, die elementare Physik des Zusammenklangs. Doch für die kreative Gestaltung von Musik spielen die Konsonanzen der Akustik kaum eine größere Rolle als für die Malerei die chemische Zusammensetzung der Farben. Über die Ästhetik von Musik, ihre Dynamik, ihre Melodiegestaltung, ihre Formgebung usw. sagt die akustische Physik nichts aus. Diese Erkenntnis setzte sich aber erst im 18. Jahrhundert allmählich durch.
Der Komponist Johann Mattheson (1681 bis 1764) betonte mit Nachdruck, dass eine Melodie nicht Mathematik sei, sondern Poesie: eine emotionale »Klangrede«. Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712 bis 1778) sah die Mathematik der Konsonanzen und Harmonien geradewegs als eine Fessel für die gestalterische musikalische Freiheit. Er schrieb: “Selbst wenn man über tausend Jahre die tonalen Verhältnisse und die Gesetze der Harmonie berechnete: Wie sollte man aus dieser Kunst je eine Kunst der Nachahmung machen können?”
Das Konsonanz-Prinzip ist ein Grundstein aller Musik
Das Konsonanz-Prinzip ist ein Grundstein aller Musik, weshalb Oktaven und Quinten in vielen (aber durchaus nicht allen) Musikkulturen eine wichtige Rolle spielen. Für den kreativen Ausdruck und die Gestaltung eines Musikstücks jedoch reicht dieses Prinzip nicht aus. Schon Leibniz musste (widerwillig) feststellen, dass in der Musikpraxis auch Abweichungen von der Elementar-Mathematik ihr Recht haben. “Zufällig gefallen Dissonanzen bisweilen dennoch, und sie werden mit Erfolg angewendet”, schrieb er 1712. “Sie werden dem Angenehmen wie Schatten […] dazwischengesetzt, damit man sich schließlich umso mehr der Ordnung erfreut.”
Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900) sprach sogar unverstellt von der “lustvollen Empfindung der Dissonanz in der Musik”. Der Universalgelehrte Hermann von Helmholtz (1821 bis 1894) sah die Konsonanz zwar als den physikalischen Ausgangspunkt in der Musik, doch erlaube sie sehr verschiedene musikalische Systeme. “Wieviel Rauigkeit […] der Hörer als Mittel des musikalischen Ausdrucks zu ertragen geneigt ist, hängt von Geschmack und Gewöhnung ab.” Je nach dem Obertonspektrum verschiedener Instrumente kann übrigens auch die mathematisch abgemessene Konsonanz durchaus “rau” klingen.
Kunst ist nicht Mathematik
Dass musikalische Schönheit nichts mit mathematischen Relationen zu tun habe, das war auch dem Musikkritiker Eduard Hanslick (1825 bis 1904) wichtig. Die Mathematik, so schrieb er, betreffe schließlich nur die physikalische Seite der Tonkunst, nicht aber die künstlerische. “Der ästhetische Bereich fängt erst an, wo die Elementarverhältnisse in ihrer Bedeutung aufgehört haben. Alle Monochord-Experimente, Klangfiguren, Intervallproportionen und dergleichen gehören nicht hierher.” Denn ein Musikwerk, so schreibt Hanslick weiter, sei schließlich kein physikalisches Experiment, sondern “ein Freies, Geistiges, daher unberechenbar. Am musikalischen Kunstwerk hat die Mathematik einen ebenso kleinen […] Anteil wie an den Hervorbringungen der anderen Künste. […] Eine wirklich positive, schaffende Kraft muss man ihr nicht einräumen.”
Für den Philosophen Ernst Bloch (1885 bis 1977) besitzt diese Frage auch eine wichtige humanhistorische Bedeutung. Die Musik als Kunstwerk ist für ihn vor allem ein Produkt von Geist, Gesellschaft und Geschichte – dass sie sich nicht um mathematische Vorschriften kümmert, ist ihr geradezu wesentlich. “Mathematik bleibt der Schlüssel zur Natur”, schreibt er, “niemals aber kann sie der Schlüssel zur Geschichte sein.” Speziell die klassische Sonate versteht Bloch als die Emanzipation menschlicher Kreativität und Subjektivität von bloßer physikalischer Gesetzmäßigkeit. Musik ist für ihn vor allem historische Dynamik, Richtung, Zeit, Gestaltung – das Gegenteil von mathematisch-ewigen Regeln. Bloch schreibt: “Zeit und Geschichte, Neuheit und schöpferischer Auszug […], Bewusstsein des utopischen Felds und steigende Subjekt-Objektivierung […] – alle diese Momente […] sind grundsätzlich nicht mathematisch. Nicht die Mathematik, sondern die Dialektik ist das Organon der Musik.”