Wood | Von Hans-Jürgen Schaal

Jimmy Giuffre, der sanfte Revolutionär

Giuffre
Im "Lighthouse" in Hermosa Beach fing alles an (Foto: Coolcaesar - Own work, CC BY-SA 4.0)

Vor 100 Jahren wurde er geboren: Jimmy Giuffre (1921 bis 2008), der still und leise den Jazz aus seinen Schablonen befreit hat. Über sein Stück „Pony Express“ (1958) sagte er: „Es stoppt und geht dann weiter, es sind nicht die üblichen symmetrischen Taktgruppen, es gibt hier Erweiterungen, Zwischenspiele, Tempowechsel, Abschnitte ohne und Abschnitte mit festem Tempo.“

Es ist das Jahr 1948, als Howard Rumsey das Lighthouse entdeckt. Howard Rumsey ist Jazzbassist in Los Angeles – und das Lighthouse ein Lokal in Hermosa Beach vor den Toren der Stadt. „Haben Sie hier schon einmal Konzerte veranstaltet?“, fragt Rumsey den Wirt. Man beschließt, einen Versuch zu wagen. „Ich engagierte die lautesten Musiker, die ich finden konnte“, erzählt Rumsey. „Wir sperrten die Türen zur Straße auf und schmetterten los. Die Leute tröpfelten herein, und bald war der ganze Raum voll.“

In Hollywood spricht es sich bald herum, dass in Hermosa Beach regelmäßig Jamsessions steigen. Jedes Wochenende ­stauen sich die Autos der Fans am Pier. Mit der Zeit bildet sich auch ein fester Stamm von Mu­sikern heraus – Rumsey nennt sie ab 1951 die Lighthouse All-Stars. Dabei geht es längst nicht mehr nur ums Jammen. Man entwickelt eine gemeinsame neue Ästhetik, ähnlich wie die Bebopper ein paar Jahre vorher im Minton’s in Harlem. Die Lighthouse All-Stars werden zur Keimzelle des West Coast Jazz.

Shorty Rogers, Jimmy Giuffre und Shelly Manne werden zu den prägenden Figuren des West Coast Jazz

Fälschlicherweise gilt der West Coast Jazz bei vielen als fröhlich-unbeschwerte „Beach Music“. Das Gegenteil kommt der Wahrheit näher. Die West-Coast-Musiker holen ihre Anregungen bei den abstrakten Sounds des Cool Jazz und den Innovationen der modernen Konzertmusik. Sie experimentieren mit neuen oder offenen Choruslängen („free form“), mit Polytonalität, Quartharmonik und tonalen Zentren, mit Reihentechnik, Kanonformen, improvisiertem Kontrapunkt. Shorty Rogers (Trompete), Jimmy Giuffre (Tenorsaxofon) und Shelly Manne (Schlagzeug) bilden das Kerntrio der ersten Lighthouse All-Stars – sie werden auch zu den prägenden Figuren und Stützen des West Coast Jazz. Diese drei machen gemeinsame Aufnahmen im Shelly Manne Sextet (1952), im John Graas Octet (1953), im Teddy Charles Quintet (1953), als Leith Stevens All-Stars (1953), im Jimmy Giuffre Septet (1954) und – am erfolgreichsten – als Shorty Rogers’ Giants (1953 bis 1956). 

Rogers, Giuffre und Manne nehmen auch eine halbe LP nur als Trio auf: „The Three“ markiert die Jazz-Avantgarde von 1954. In den sechs ­Stücken experimentiert das Trio unter anderem mit einer Zwölftonreihe („Three On A Row“), einem Kanon-Rondo („Pas De Trois“) oder mit freier Kollektiv-Improvisation („Abstract No. 1“). Vor allem Jimmy Giuffre erlebt die Lösung von harmonischen Abläufen als eine Befreiung aus dem „Gefängnis des Vertikalen“. Der Saxofonist denkt seine Musik zunehmend linear – in individuellen Stimmführungen.

„Ich habe Kontrapunkt studiert, um Komponist zu werden – aber alles lässt sich auch im Jazz verwenden“, sagte Giuffre. „Ich begann unkonventionelle Dinge zu entwickeln. Natürlich muss es Harmonik geben. Wenn du kontrapunktisch schreibst, denkst du zwar nicht in vertikaler Harmonie, aber im Hintergrund hast du die Harmonik von Pedaltönen.“ Giuffres Befreiung vom Vertikalen schlägt sich im Sommer 1953 in Stücken wie „Fugue“ und „Evolution“ nieder. Hier kann man schon hören, warum einige Jahre später der Free Jazz ausgerechnet an der Westküste seinen Anfang nehmen sollte.

Neue Dimensionen von Gefühl

Von Haus aus spielte Jimmy Giuffre das Tenorsaxofon. 1947 gehörte er zu einem Quartett von vier jungen Tenor­saxofonisten in L.A., die alle vom sanften, kühlen Klang Lester Youngs inspiriert waren und im Zusammenspiel miteinander einen ganz eigenen Sound produzierten. Der Orchesterleiter Woody Herman wurde damals auf die vier aufmerksam und machte sie zum Kern seiner neuen Bigband, der „Second Herd“. Allerdings wollte Herman ein Baritonsaxofon mit dabei haben – deshalb verzichtete Jimmy Giuffre auf den Bigband-Job, schrieb für Herman aber das Erkennungsstück der Vier-Saxo­fone-Band: „Four Brothers“. Später war Giuffre flexi­bler. In den West-Coast-Formationen, die oft meh­rere Bläser hatten (nach dem Vorbild von Miles Davis’ Capitol Orchestra), übernahm er auch einmal das Bariton- oder das Altsaxofon.

Jimmy Giuffre (Foto: Herb Snitzer / ECM)

Ein neues Kapitel seiner Karriere begann, als er die Klarinette hinzunahm – 1953 machte er die ersten Aufnahmen mit ihr. Bei Giuffre klang die Klarinette völlig anders als zum Beispiel bei ­Benny Goodman. Giuffre spielt sie „cool“, gedämpft und leise, vorwiegend im unteren Register, mit viel Atem. Seine Ehefrau Juanita sagte einmal: „In meiner Jugend mochte ich die Kla­rinette nicht, aber als ich ihn spielen hörte, war sie ­etwas ganz ­Neues, eine brandneue Er­fahrung. Eine Klarinette kann schrill und scharf klingen, aber wenn er sie spielte, war sie sanft und schön.“

Je leiser Giuffre die Klarinette blies, desto leiser mussten auch die Mitspieler werden. Das »beharrliche Pochen der Rhythmusgruppe« begann ihn zu stören. In seinen Bands verzichtete er immer häufiger auf ein Klavier,
der Schlagzeuger musste auf die Brushes wechseln und öfter mal aussetzen. „Nur so konnte ich den Sound meines Instruments hören“, ­sagte Giuffre. „Es heißt, wenn der Jazz sanft werde, verliere er seinen Enthusiasmus und seine Funkiness. Ich glaube aber, dass er gleichzeitig einige neue Dimensionen von Gefühlen eröffnet, die von zu viel Lautstärke eher verdeckt werden.“ 

Im Trioformat

1956 veröffentlichte Giuffre die Platte „Clarinet“, auf der er ausschließlich die Klarinette spielte. Das ungewöhnliche Album enthält vorwiegend ruhige Stücke, die meist kammermusikalisch oder meditativ anmuten. Für sein dunkles, gehauchtes Klarinettenspiel findet Giuffre exquisite Klangkombinationen – zum Beispiel mit Celesta, mit drei Flöten, mit zwei weiteren Klarinetten oder mit drei Doppelrohrblattinstrumenten. Nur in wenigen Stücken ist noch ein Schlagzeuger mit dabei. Auch in seiner festen Band – inzwischen ein Trio – ersetzte er damals das Schlagzeug, nämlich durch eine Gitarre (Jim Hall). Sehr erfolgreich wurde sein sanft-tänzerisches Trio­stück „The Train And The River“, das er selbst als „blues-based folk-jazz“ beschrieb.

Auf der Studioaufnahme (Dezember 1956) spielt er in diesem Stück nacheinander Baritonsaxofon, Klarinette und Tenorsaxofon. Als Giuffre keinen passenden Bassisten mehr fürs Trio fand, ersetzte er auch den Bass – durch eine Ventilposaune (Bob Brookmeyer). Die ruhige, folkig-kammermusikalische Haltung blieb dieselbe. „Ich mag friedliche Stimmungen“, erklärte ­Giuffre einmal. „Diese Vorliebe ist in den Triosound eingeflossen. Ich habe immer Angst, Menschen zu verletzen, ich streite deshalb auch nicht. Ich bin einfach kein heftiger Mensch, nicht energisch.“

Dennoch ging Jimmy Giuffre immer wieder über­raschende, revolutionäre Wege. „Ich ver­suche etwas zu erfinden, indem ich meinen eigenen Sound auf dem Instrument und in der Komposition entwickle.“ 1958 definierte er den Four-Brothers-Sound neu, indem er ein Album lang per Playback vier Tenorsaxofone spielte. Begleiten ließ er sich dabei von seinen damaligen Trio-Partnern Jim Hall und Bob Brookmeyer, wobei Letzterer ausschließlich am Piano saß. Zwei Jahre später präsentierte sich Giuffre als Third-Stream-Komponist mit zwei ambitionierten Konzertsuiten für Klarinette und Streichorchester. „Man kann diese Musik nicht klassisch nennen“, sagte er. „Manches geht Richtung Impressionismus, aber vermutlich ist es doch Jazz. Das Feeling von Jazzbands, die Haltung – das hat sich einfach über die Jahre in dich eingegraben. Das macht dich aus.“ 

„Es war eine Befreiung“

Noch einmal erneuerte Giuffre das Trioformat, als er sich 1961 mit Paul Bley (Piano) und Steve Swallow (Bass) zusammentat. Diese Band, in der Giuffre nur Klarinette spielte, war von Or­nette Coleman inspiriert, dem Pionier des Free Jazz. „Ornette und ich hatten eine Jamsession“, erzählte Giuffre. „Wir schnitten uns von allem los, und eine Menge wilder Dinge passierten. Es war eine Befreiung.“ Zweifellos entdeckte ­Giuffre bei Coleman damals Spuren jener formsprengenden Impulse, die er selbst einmal in die Welt gesetzt hatte.

Mit seinem neuen Trio nun schuf er einen beispiellosen, frei improvisierten Kammermusik-Jazz. In den Jahren 1961 und 1962 entstanden drei Studioalben („Fusion“, „Thesis“, „Free Fall“), doch das Publikum schien mit dieser mutigen, visionären Musik überfordert zu sein. Das Trio Giuffre-Bley-Swallow löste sich wegen schierer Erfolglosigkeit auf. Heute gehört diese Band zu den großen Legenden der neueren Jazzgeschichte. Die Firma ECM erwarb die Rechte an den ersten beiden Alben und hat sie 1992 wiederveröffentlicht. Zu dieser Zeit kam das Trio sogar für einige Aufnahmen und Konzerte wieder zusammen. Noch heute erscheinen Live-Mitschnitte der Europatournee von 1961.

Giuffre

Meilensteine

  • Shelly Manne: „The Three“ & „The Two“ (Contemporary, 1954)
  • Jimmy Giuffre: Clarinet (Atlantic, 1956)
  • The Jimmy Giuffre 3 (Atlantic, 1956/57)
  • Jimmy Giuffre Trio: Western Suite (Atlantic, 1958)
  • Jimmy Giuffre Trio: Free Fall (CBS, 1962)