Vor über 40 Jahren verließ Josef Jiskra seine böhmische Heimat und kam nach Deutschland, wo er 20 Jahre lang als Stadtmusikdirektor in Crailsheim die süddeutsche Blasorchesterszene prägte. Bereut hat er seine Entscheidung, nach Deutschland zu kommen, nie. Vielmehr bringt er mit seinen Kompositionen den Orchestern hierzulande ein Stück seiner Heimat nahe.
Herr Jiskra, Sie sind 1979 nach Deutschland gekommen. Was hat Sie dazu bewogen, Ihre Heimat trotz erfolgreicher Karriere zu verlassen?
Ich lebte damals mit meiner Familie in Karlsbad. Meine Frau war Deutsche – sie war im Sudetenland geboren. Sie wohnte damals als Einzige aus ihrer Familie noch in der Tschechoslowakei, ihre Mutter und ihre Schwester beispielsweise lebten in Ulm. In dieser Zeit siedelten viele Sudetendeutsche nach Westdeutschland um. Auch meine Frau wollte gerne diesen Schritt gehen. Ich selbst bin aus tiefstem Herzen Tscheche und wollte mein Heimatland eigentlich nicht verlassen. Ich habe mir das auch sprachlich nicht zugetraut, da ich nicht wusste, was beruflich auf mich zukommen könnte. Letztendlich hat mich meine Frau mit ihrer realistischen Argumentation aber dazu gebracht, nachzudenken. Und nach reichlicher Überlegung haben wir uns dazu entschieden, den Übersiedlungantrag zu stellen. Wir bekamen die Ausreisegenehmigung und haben am 18. September 1979 um halb sieben abends schließlich die Grenze Richtung Deutschland überquert.
Wie war denn die Anfangszeit in Deutschland für Sie?
Vor allem sprachlich war es sehr schwierig. Wie gesagt: Im Herzen bin ich Tscheche, und das wird sich auch nie ändern. Meine ursprüngliche Heimat ist und bleibt Böhmen, auch wenn ich mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft habe. Allerdings habe ich schon mein ganzes Leben lang das Motto: Dort, wo ich lebe und mir “mein Brot” verdiene, fühle ich mich wohl. Deshalb ging es mir auch in Crailsheim gut – trotz anfänglicher Startschwierigkeiten. Ich wurde sehr freundlich und hilfsbereit von der Stadt und all meinen Musikerinnen und Musikern aufgenommen. Daher habe ich als Dank dafür gleich in meinem ersten Jahr den “Crailsheimer Festmarsch” komponiert und der Stadt Crailsheim gewidmet.
Hatten Sie mit Heimweh zu kämpfen? Wie gingen Sie damit um?
Das soll jetzt nicht gefühlskalt klingen, aber richtiges Heimweh hatte ich nicht. Natürlich habe ich oft an meine Verwandtschaft in meiner damaligen Heimat gedacht. Aber ich habe mich freiwillig und bewusst dazu entschieden, mit meiner Familie in Deutschland ein neues Leben anzufangen. Dementsprechend wollte ich auch nicht jammern. Ich habe diese Entscheidung nie bedauert. Mir war bewusst, dass ich jederzeit zu Besuch in meine böhmische Heimat kommen darf.
Wie verarbeiten Sie das Thema Heimat in Ihren Kompositionen?
Wissen Sie, als Komponist bin ich Autodidakt. Am Konservatorium in Prag habe ich im Hauptfach Posaune studiert. Als ich später im Rahmen meiner Anstellung im Karlsbader Symphonieorchester Werke von Brahms, Tschaikowsky oder Dvořák gespielt habe, konnte ich beobachten, wie diese großen Komponisten gearbeitet haben. Dadurch habe ich sehr viel gelernt. Lange habe ich mir nicht zugetraut, konzertante Werke zu schreiben. Bis zum damaligen Zeitpunkt hatte ich mich ausschließlich mit “meiner” böhmischen Blasmusik beschäftigt.
Im April 1989 hat mich dann allerdings ein Mitglied des Musikbeirats des Landesmusikverbandes Baden-Württemberg angesprochen, weil er deutsche Komponisten suchte, die originale konzertante Blasmusik schreiben. Da war er bei mir ja genau an der richtigen Stelle. (lacht) Ich habe dann zuerst einmal abgelehnt, weil ich mir das nicht zutraute. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich nur – wie bereits erwähnt – der Unterhaltungsmusik gewidmet. Der Gedanke hat mich allerdings nicht mehr losgelassen. Und so kam es, dass ich schon ein paar Wochen später dem Verantwortlichen die fertige Partitur mit Einzelstimmen von “Bohemia”, eine rhapsodische Dichtung zur Huldigung meiner ehemaligen Heimat, im Manuskript geschickt hatte. Es wurde vom Musikbeirat als Auftragskomposition angenommen und beim Landesmusikfest in Aalen im Jahr 1990 uraufgeführt.
Dieser Erfolg hatte mich dann letztendlich motiviert, eine Trilogie über meine Heimat zu schreiben – die Tschechoslowakei bestand damals aus Böhmen, Mähren und der Slowakei. Auf “Bohemia” folgte “Mährische Skizzen” und darauf schließlich “Slowakische Fantasie”. Diese Werke spiegeln den positiven Bezug zu meiner Heimat wider.
Inwiefern spielen musikalische Stilmittel aus Ihrer Heimat in diesen Werken eine Rolle?
Bei “Bohemia” habe ich beispielsweise das tschechische Heimatlied “Čechy krásné, Čechy mé” (“Mein schönes Böhmerland”) benutzt, das die rhapsodische Dichtung umrahmt. In den “Mährischen Skizzen” habe ich mich vor allem der mährischen Rhythmik bedient, die in Richtung Czardas geht und phasenweise eine etwas melancholische Stimmung hat. Und in der “Slowakischen Fantasie” habe ich die slowakische Hymne verwendet, die in Fragmenten immer wieder auftaucht und erst im Finalteil in ihrer ganzen Schönheit erklingt.
Ein weiteres Werk mit Bezug zu meiner Heimat ist übrigens “Jánošík” – eine historische Persönlichkeit aus der slowakischen Geschichte, die in westlichen Ländern gern mit Robin Hood verglichen wird. Im Gegensatz zu ihm hat Jánošík aber von 1688 bis 1713 tatsächlich gelebt und wurde äußerst brutal hingerichtet. Vor zwei Jahren hat das Zentralorchester der Armee der Tschechischen Republik in Prag die Komposition mit in ein Konzertprogramm aufgenommen – eine große Ehre für mich!
Hören Sie einen Unterschied bei der Aufführung eines dieser Werke, je nachdem ob es von einem deutschen oder einem Orchester aus Ihrer Heimat aufgeführt wird?
Das ist ganz unterschiedlich. Zwar spielen in Deutschland sehr viele Kapellen böhmische oder auch mährische Blasmusik, leider hört man aber auch immer wieder, dass einige wenig Bezug dazu haben. Verstehen Sie mich nicht falsch, natürlich gibt es auch hierzulande sehr gute Kapellen, die die böhmische Stilistik gut interpretieren und meistern können.
Ich erkläre Ihnen an einem Beispiel, wie mir das erste Mal klar wurde, dass es sehr wohl einen Unterschied macht, wer ein Stück aufführt: Im Rahmen meiner Tätigkeit als Kreisverbandsdirigent im Kreisverband Hohenlohe hatten wir einmal ein sinfonisches Blasorchester aus Moskau eingeladen, das im Zuge einer Konzertreise zum Bayerischen Landesmusikfest in Bamberg auch ein Konzert in Schwäbisch Hall spielen sollte. Dabei haben die Moskauer Musikerinnen und Musiker auch meine Komposition “Rhapsodische Metamorphosen” aufgeführt und ich muss Ihnen sagen: Das war wunderschön und hat mein Herz berührt! Ich habe mit diesem Titel 1997 beim Bundeskompositionswettbewerb im Rahmen des 2. Landesmusikfestes in Nordrhein-Westfalen den ersten Preis gewonnen. Die damalige Aufführung war auch sehr schön. Aber erst bei der Interpretation meiner “Rhapsodischen Metamorphosen” des Moskauer Orchesters wurde mir bewusst, dass es einen Unterschied macht, wenn ein slawisches Orchester slawische Musik spielt.
Haben Sie es als Ihren Auftrag betrachtet, deutschen Orchestern die richtige Spielweise der Musik aus Ihrer Heimat nahezubringen?
Ich denke, jeder Dirigent und jede Dirigentin möchte dem Orchester die eigene Vorstellung zu einem Werk so gut wie möglich nahebringen. Das habe auch ich versucht. Ob es mir immer gelungen ist, kann ich nicht garantieren.
Im Rahmen meiner Dirigententätigkeit bei der Stadtkapelle Crailsheim habe ich auch ein Tanz- und Blasorchester geleitet, also eine kleinere Besetzung, mit der hauptsächlich Unterhaltungsmusik und böhmische Blasmusik gespielt wurde. Mit dieser Gruppe hatten wir einmal auf einer Feier in Göppingen einen Auftritt, bei dem eine weitere deutsche Tanzkapelle zu Gast war. Im Gespräch mit ihrem Kapellmeister wurde ich wegen meines sprachlichen Akzents auf meine Herkunft angesprochen. Als ich ihm verraten habe, dass ich Tscheche bin, reagierte er mit einem vielsagenden “Aha!” Ich habe ihn gefragt, was er damit meint. Er erzählte mir, dass einer seiner Musiker aus Südwestböhmen stammt. Und nachdem er uns gehört hatte, meinte er, dass unsere Blaskapelle keine deutsche, sondern eine tschechische sei. Das war für mich eine große Ehre, dass er das so empfunden hat. Er hat einfach erkannt, dass wir stilistisch anders spielen.
Worin besteht denn die unterschiedliche Spielweise von deutschen und tschechischen Orchestern?
In den 80er Jahren war ich in Ulm bei einem Konzert der Tschechischen Philharmonie. Da wurde mir der Unterschied von deutschen und tschechischen Orchestern ganz bewusst vor Augen geführt: Tschechische Orchester spielen meines Erachtens einfach sehr viel weicher! Es fällt mir schwer, das richtig in Worte zu fassen, vielleicht ist das auch mein subjektiver Eindruck. Aber für mich steckt in den Interpretationen dieser Orchester immer sehr viel mehr Gefühl.
Hat sich in den über 40 Jahren, die sie mittlerweile in Deutschland leben, auch etwas an Ihrem Kompositions-Stil verändert?
Natürlich gibt es da eine Entwicklung. Zum einen hat sich die Art meiner Kompositionen geändert, zum anderen auch die Instrumentation. Bis 1989 habe ich ja nur böhmische Blasmusik geschrieben, aber selbst da musste ich mich sehr schnell den deutschen Orchestern und ihrer Besetzung anpassen: In böhmischen Kapellen sind in der Begleitung immer Es-Trompeten besetzt. Das gibt es hier bis heute nicht. Vor 40 Jahren war die Begleitung in Deutschland meistens im 2. und 3. Tenorhorn. Meiner Meinung nach ist das etwas unpassend, weil das Tenorhorn nicht so schön scharf oder spritzig klingt wie die Es-Trompete. Trotzdem habe ich mich natürlich an diese Gegebenheiten angepasst.
Bei der konzertanten Musik war der Wegweiser meines kompositorischen Schaffens oftmals die Größe und Leistungsfähigkeit des jeweiligen Orchesters. Mein letztes konzertantes Werk war das “Concertino für Tuba und Blasorchester”, ein Auftragswerk des Polizeiorchesters Nordrhein-Westfalen. Ein nicht ganz einfacher Titel – vor allem für den Solisten. Auch darin werden böhmische Volkslieder angedeutet. In dieser Thematik rund um meine Heimat fühle ich mich bis heute immer noch am wohlsten. Trotzdem fühle ich mich zwischenzeitlich auch in Deutschland wie zu Hause – wie in meiner richtigen Heimat.
Dieser Beitrag erschien in der Printausgabe 7-8/2021 der Fachzeitschrift für Blasmusik, BRAWOO – Brass Wood Orchestra.