Orchestra | Von Renold Quade

Junior Variations von Henk van Lijnschooten

Foto: Reuven Hayoon auf Pixabay

Sind die „Junior Variations“ von Henk van Lijnschooten nur etwas für Weihnachten? Schließlich erkennt man in unseren Breiten die Melodie von „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ auf Anhieb… Meiner Meinung nach ist ein Konzert in der Vorweihnachtszeit, in der Zeit, in der man sich auf Harmonie und Gemeinsamkeit vorbereiten und besinnen möchte, sicher ein guter Platz für dieses Werk. 

Es war schon Ende der 1970er Jahre, da machte sich in den Niederlanden das Ministerium für »Cultuur, Rekreativ en Maatschappelyk«, das Ministerium für »Kultur, Freizeit und Soziales«, so seine Gedanken, wie man sinnvoll das gemeinsame Musizieren von Jugendorchestern und Erwachsenenorchestern fördern könnte. Zu dieser Zeit waren die Niederländer eine in Sachen Blasmusik schon eine bestens aufgestellte Nation. Die Pflege des Blasorchesterwesens, egal ob in Harmonie-, Fanfare- oder Brassbesetzungen, war bereits gut organisiert und genoss, inklusive guter Musikausbildung, dort politisch und gesellschaftlich hohes Ansehen.

Es war an der Tagesordnung, besonders in der Provinz Limburg, dass nicht nur die Hauptorchester numerisch eindrucksvoll mit leistungsfähigen Erwachsenen besetzt waren, auch ihren Nachwuchs rekrutierten sie nicht minder umfänglich und niveauvoll zum größten Teil aus der eigenen, vereinsnahen Musikausbildung. Und da blickte nicht nur Deutschland anerkennend über die Grenze nach Westen. Niederländische Anregungen motivierten in ganz Europa.

Mit Henk van Lijnschooten agierte zu dieser Zeit ein anerkannter und umtriebiger Kopf in dieser von Aufbruchstimmung geprägten Szene an führender Position. Seine pädagogischen Impulse waren für die gesamte europäischen Bläserentwicklung von großer Bedeutung. 

Der Komponist

Lijnschooten
Henk van Lijnschooten (Foto: Archiv/Joachim Buch)

Hendrikus Cornelis van Lijnschooten wurde 1928 in Den Haag geboren und erhielt ebenda ersten Instrumentalunterricht in den Fächern Violine und Klarinette. Diesen setzte er am dortigen Königlichen Konservatorium fort und begann seine Berufskarriere 1946 als Klarinettist bei der Royal Military Band. Zu dieser Zeit hatte er auch schon Tätigkeiten als Dirigent von Amateurorchestern aufgenommen und sich zudem längst so seine ersten Gedanken zur Bläserpädagogik gemacht, da er mit Kollegen bereits begonnen hatte, erste Lehrpläne für Verbundprüfungen zu entwerfen. Umfangreiche Studien in Musiktheorie, Komposition und Dirigiertechnik hatte er ja bereits bei Fritz Konberg genossen und so absolvierte er am Den Haager Konservatorium folglich abschließend seine Ausbildung zum professionellen Blasorchesterdirigenten. 1957 wurde er zum Dirigenten des Blasorchesters der Königlich Niederländischen Marine ernannt, mit dem er bis 1964 umfangreiche Reisen nach Übersee und durch ganz Europa unternahm.

Nach seiner Militärzeit war er ab 1965 über fünf Jahre Dozent für Holzblasinstrumente am Konservatorium in Rotterdam und unterrichtete im Schwerpunkt zunehmend Blasorchesterdirektion an den Konservatorien in Utrecht, Rotterdam und Arnheim. Im Jahre 1983 erschienen seine »100 Dirigierübungen«, 1989 sein »Wörterbuch der Blasmusik« und 1991 seine »Inleidung tot het dirigieren«, in der deutschen Fassung 1993 unter dem Titel »Grundlagen des Dirigierens und der Schulung von Blasorchestern«.

Komponist für Blasorchesterformationen

1985 ernannte ihn die niederländische Königin Beatrix Wilhelmina Armgard zum Ritter des Ordens von Oranien-Nassau. Außerdem wurde er Träger der »La Médaille pour Mérite des Arts, Sciences et Lettres« der Académie Française.

Seine Tätigkeit als Komponist, hauptsächlich für Blasorchesterformationen, nahm in den 60er Jahren so richtig Fahrt auf und reichte bis in die 90er Jahre hinein. Sein vielfältiges Oeuvre umfasst, immer mit klarem Blick auf seine Zielgruppen und deren Möglichkeiten, eine beachtliche stilistische Bandbreite. Stets an pädagogischen Themen interessiert und die Blasorchesterszene weiterzuentwickeln, organisierte er sein Schaffen nicht zuletzt durch die Benutzung von ordnenden Pseudonymen. Unter seinem Hausnamen, Henk van Lijnschooten, schrieb er eher konzertant, als Michel van Delft wandte er sich gerne Jugendorchestern zu und als Ted Huggens kreierte er eine ganz eigene poppig-rockige Art, mit alten Stilen umzugehen.

Als Referent, Gastdirigent und Jurymitglied war er in vielen Ländern Europas, wie auch in den USA, in Kanada, Japan und der Sowjetunion ein gern gesehener Gast. Er verstarb am 1. November 2006 in Ambacht, in der niederländischen Provinz Südholland. 

Die Idee

Die Idee zu dieser Auftragskomposition ging dahin, ein Werk zu schaffen, das ein Blasorchester mit einem Jugendblasorchester aktiv auf der Bühne verbinden sollte. Der Gedanke hatte natürlich die Basis, dass viele Musikvereinigungen in den Niederlanden sowohl respektable Erwachsenenorchester als auch Jugendorchester unter einem Dach pflegten und somit nichts näher lag, als mit einer verbindenden musikalischen Aufgabe den kooperativen Zusammenhalt beider Klangkörper innerhalb eines Vereines zu stärken. Denkbar war aber auch eine Lösung, die zur »band«, zum Hauptorchester, eine »mini-band« (in der aktuellen Version »youth band«) derart dazustellte, das zum Beispiel ein Saxofonquartett oder eine andere kammermusikalische Besetzung diesen Part übernehmen konnte. 

Lijnschooten

Zum Ausgangspunkt nahm Lijnschooten ein in ganz Europa verbreitetes und den meisten als Kinderlied bekanntes Thema aus Frankreich. Es ist im Original über je vier Takte in simpler Liedform a-b-a aufgebaut. Von »Ah! Vous dirai-je, Maman« ist im deutschsprachigen Raum vor allem die Melodie durch das Weihnachtslied »Morgen kommt der Weihnachtsmann« bekannt. Die, vom Komponisten übrigens immer wieder einmal gerne gepflegte Großform des Werkes, ist die der Variation. Sie erlaubt auf Basis eben einer einfachen und eingängigen Melodie, vielfältige Entwicklungen anzustoßen, die in der Lage sind, ganz unterschiedliche Atmosphären und Stimmungen zu erzeugen. 

Der Aufbau

Eine zwölftaktige Einleitung eröffnet pulsierend. Zunächst im schnellen Viervierteltakt, dann in Dreivierteltakt. Das ist bereits in der Einleitung ein Wink mit dem Zaunpfahl, was Taktwechsel betrifft. Die Motivik, ein gestauchtes kurzes Achtelmotiv addiert sich in Manier eines Openers auf dominantischem Spannungsklang. Dieses Motiv ist aus den ersten Tönen das a-Teils geformt. Ein kraftvolles unisono nimmt ab Takt 9 ein wenig die Spannung heraus und mündet in Takt 12 in eine beruhigende, akkordische Fermate. 

Andante elegante, Takt 13 bis Takt 18, präsentiert das komplette Thema des Werkes in Es-dur. Die Takte 19 bis 24 sind dem grundsätzlich noch hinzuzurechnen. Sie verlängern die Einführung ein wenig mit reprisenhafter Variante und modulieren. Beide »Ensembles« dialogieren schon gleich von Beginn und sind gut beraten, sich umsichtig Raum zu geben. 

In Takt 25 startet, nach kurzer Fermate, die Überleitung zur ersten Variation. Wir befinden uns nun in F-Dur. Ein von staccati angetriebenes allegro vivace läutet den Charakterwechsel ein. Die »miniband« gibt crescendierend einen neuen Impuls vor, ein Tutti fängt mit Akzenten im forte ab.

Angeführt von der »band« und deren Bässen

Ab Takt 31 die erste Variation, angeführt von der »band« und deren Bässen. Diese Bass-Variation basiert auf Achtelketten, deren Kopfnoten die Melodietöne markieren. Die Oberstimmen scheinen lediglich zu stützen. Die Bewegung in den Bässen lässt dabei vergessen, dass wir hier eigentlich eine Augmentation, eine Verbreiterung der Melodie um das Doppelte, vorfinden. Den b-Teil übernimmt keck und decrescendierend ganz kurz die »miniband« im staccato. Den Dialog führt die »band« mit Aufgriff des a-Teils weiter fort, und stolpert über einen Taktwechsel attacca in die Variation 2.

Die beginnt ab Takt 43. Die »miniband« gibt nun den Ton an, im forte, mit langen Tönen, mit den Kopfnoten der Melodie. Die »band« schlägt mit halben Noten nach. Kurze Achtel in beiden Ensembles, verbunden mit schnellen Taktwechseln, federn die jeweils zweiten Teile der Melodien burlesque ab. 

Nach möglicher kurzer Ruhefermate beginnt in Takt 67 die Variation 3. Poco lento, in g-moll und im Dreivierteltakt formuliert die »band«, kirchentonal (ohne Leittöne) harmonisiert, im Stile eines »alten Liedes«, den melodischen Ausgangsgedanken des a-Teils vollkommen neu. Die »miniband« nimmt sich des b-Teils an und präsentiert ihn in Anmutung einer sequenzierenden Umspielung. Den Wiederaufgriff des a-Teils übernimmt die »band« und endet mit Fermate.

Beide Ensembles, zunächst im Stile eines Wiener Walzers

Ab Takt 90 folgt wieder ein ganz anderes Bild in Variation 4. Nun in B-dur formulieren beide Ensembles, zunächst im Stile eines Wiener Walzers, im Dialog die nächste melodische Variante. Und wenn man gerade das Gefühl hat, im neuen Duktus angekommen zu sein, bricht die »miniband« das Geschehen, spritzig und heiter, mit einem harmonisch synkopierten Riff im Viervierteltakt, wieder auf. Lebendigkeit erzeugen auch die Vorhaltsklänge auf der jeweils zweiten Zählzeit, die sich dann, in quasi gewichtslose Konsonantklänge, auf Zählzeit drei auflösen. 

Variation 5 startet, im selben Grundtempo, aber nun im federnden 6/8-Takt, leichtfüßig ab Takt 127. Im Stile einer Figuralvariation, unter Beibehaltung der Originalmelodie, brillieren zunächst solistische Klarinetten über den a-Teil, in der »band«. Die »miniband« übernimmt, nicht minder federnd, die Neuinterpretation des b-Teils. Quasi in Form einer von unisono, über eine kleine Dissonanz zum eher Konsonanten führenden, Galoppbewegung.

Attacca, double slow, folgt ab Takt 151 ein kurzes Zwischenspiel, das an die Themenvariante der Takte 21–24 erinnert. Dieses Zwischenspiel ist der Türöffner zur Variation 6, die ab Takt 155 den Ted Huggens in Henk van Lijnschooten ein wenig durchschimmern lässt. In Form einer eher sanften, aber auch leicht rockigen Popballade erklingt eine entspannte freie Variation, die aber die formale Dreiteiligkeit beibehält.

Im Stehen spielen

Attacca, ab Takt 170, greift ein Allegro vivace, nun wieder in Es-Dur, überleitend über vier Takte, den öffnenden Gedanken der Einleitung wieder auf. Ab Takt 174 folgt das Finale. Die »miniband« wird an dieser Stelle aufgefordert, im Stehen zu spielen. Das Finale ist zunächst durchweg im treibenden, geraden Rockstil angelegt, würzt aber mit ständigen Taktwechseln. Das große Tutti präsentiert zunächst die rhythmisch verbreiterte Melodie des a-Teils, mit Taktwechseln, die durchaus verwirren, aber noch nicht so rhythmisch vertrackt sind, wie der sich anschließende b-Teil. Hier hat die solistische »miniband« innerhalb der Taktwechsel zudem noch Synkopierungen zu verarbeiten, die sich durchaus leichter hören, denn lesen lassen. Da der, nun übrigens swingend durchlaufende Grundrhythmus aber zumindest konstant ist, wenn auch die Betonungen wechseln, ist neben solidem »mathematischem Wissen« auch akustische Orientierung hier sicher eine gute Hilfe. 

Ab Takt 201, subito molto rallentando, fängt ein großes unisono des Themenkopfes in der »band« die Energie ab und staut nach zwei Takten zu einer Fermate. Die »miniband« antwortet in ähnlicher Manier und eine große Tuttifermate beendet das Werk.

Die Instrumentation

Der im Werktitel untergebrachte Begriff »Junior« betont, dass man die Bedürfnisse eines jugendlichen Nachwuchsorchesters im Blick hatte. Dies spiegelt sich auch in der Instrumentation wider. Um eine breite Verwendungsmöglichkeit des Werkes zu sichern, hat van Lijnschooten die Besetzung der »mini-band« sehr variabel gehalten, wohl wissend, dass manche Jugendorchester nicht in allen Registern voll ausgebaut sind. Definitiv besetzt sein müssen drei Oberstimmen, ein Schachzug der der Tatsache entgegenkommt, dass oftmals in den Bässen eher Lücken in der Besetzung zu verzeichnen sind. Dementsprechend sind hier verhältnismäßig viele Stimmkombinationen ausnotiert, um eine jeweils praktikable und ausgewogene Besetzung zu finden.

Die in Form eines Particells aufgeschriebene Partitur lässt beide Besetzungen kompakt im Blick behalten und ermöglicht es auch zwei Dirigenten, gut miteinander zu kommunizieren. Idealerweise sollten die beiden Orchester nebeneinander auf der Bühne sitzen, Fantasie zu sinnvollen anderen »räumlichen Verschachtelungen«, je nach Möglichkeiten und Gegebenheiten, hat aber auch Raum. 

Der Schwierigkeitsgrad der Junior Variations wurde übrigens damals sehr unterschiedlich gesehen und eingeschätzt. Sicherlich auch ein undankbares Geschäft, da ja in einem Werk mit zwei Adressaten operiert wird. Die holländischen Verbände stuften das Werk in die unterste der drei ihnen zur Verfügung stehenden Kategorien ein, die österreichischen Verbände, mit fünf Kategorien, in die Oberste. Die BDMV hat für das Werk keine Einstufung vorgenommen.

Meiner Einschätzung nach kann heute ein engagiertes Mittelstufenorchester die Variationen ansprechend bewältigen. Ein stabiles rhythmisches und metrisches Empfinden sollte aber auf jeden Fall solide zur Verfügung stehen, damit die, der Verspieltheit der Variationen geschuldeten ständigen Wechsel, mit Übersicht umgesetzt werden können. Das gilt besonders im »Finale« des Stückes, welches »band« und »miniband« zu diesem Thema doch beachtlich fordert. Anforderungen in Sachen Tonhöhen und Technik halten sich grundsätzlich in Grenzen, aber der Schalk des Komponisten und seine Liebe zu rhythmisch variantenreicher Verspieltheit fordern hier und da eben seinen Tribut. 

Fazit

Ich erwische mich ja immer wieder, dass ich auch einmal gerne den Blick zurück wage. Ist das schlimm? Und wann und warum mache ich das eigentlich? Nun ja, eigentlich gerne dann, wenn ich auf der Suche nach etwas Neuem bin, und ich nicht so richtig zufrieden bin mit dem, was sich mir, unter der von mir gerade gesuchten Überschrift, so bietet.

Und sind die Junior Variations nur etwas für Weihnachten? Schließlich erkennt man in unseren Breiten die Melodie von »Morgen kommt der Weihnachtsmann« auf Anhieb. Meiner Meinung nach ist ein Konzert in der Vorweihnachtszeit, in der Zeit, in der man sich auf Harmonie und Gemeinsamkeit vorbereiten und besinnen möchte, sicher ein guter Platz für dieses Werk. Auch wenn kurioserweise, man muss es aus der Zeit der Entstehung des Textes verstehen, der ursprünglich »säbelrasselnde« Originaltext den ein oder anderen irritieren könnte. Aber es gibt auch weichgespülte neue Textvorschläge. Unter diesem Aspekt, von meiner Seite geschenkt, denn es geht im Kern immer um Freude, um Vorfreude auf den Brauch des Schenkens. Zudem ist diese einfache Melodie ganz sicher eindeutig positiv belegt. 

Mit Blick auf die Ursprungsquelle, ein populäres französisches Kinderlied, welches um 1740 entstanden sein soll, oder gar auch auf Mozarts Klaviervariationen darüber aus dem Jahre 1778, spricht einer »Ganzjahresnutzung« ebenso nichts entgegen. Die Ursprungsidee hat mit Weihnachten definitiv nichts zu tun. 

Aber wieder zurück zum Weihnachtsgedanken. In den Kreislauf des Lebens gehört in jedem Jahr das Weihnachtsfest. Ein Fest zum Jahresende, welches keiner von uns missen möchte. Im Spannungsfeld zwischen Glauben, Tradition, Jahresabschluss und Konsumfreude hat gerade dann auch Musik ihren wichtigen Platz, einen Platz, der die Menschen verbindet. Unter diesem Aspekt ist die Erinnerung an ein über 40 Jahre altes, gut gelungenes und die Musiker verbindendes Musikstück doch glatt wieder innovativ.