Zugegeben, wenn ein Rheinländer in diesen Tagen an Karneval dachte, dann befanden sich schon recht viele Seelen in seiner Brust. Während ich diesen Artikel schreibe, ist längst klar, dass nicht nur am Rhein dieses Brauchtum im Jahre 2022 nicht gepflegt werden kann. Dennoch, die aktuellen Turbulenzen weisen wahrlich einen gewissen “Karneval des Lebens” aus. Was immer Jindřich Praveček vor etwa 30 Jahren dazu bewogen hat, das “Leben”, einen schnellen italienischen “Volkstanz” und den “Karneval” zusammenzubringen, hat wohl allein seine damalige Inspiration zu verantworten. Für mich ist das Ergebnis aber gerade jetzt im coronageprägten emotionalen Wechselspiel von Verunsicherung, Wut, Demut, Ärger und Hilflosigkeit ein munterer Begleiter.
Das noch vorab: Das Stück ist Musik für die tschechische Seele und somit, im tschechischen Sinne ausgeführt und aufgeführt, nicht bar einer gewissen Direktheit und durchaus auch Härte. Virtuosität, gepaart mit strenger Disziplin und Kompromisslosigkeit, somit gegebenenfalls nicht jedermanns Ästhetik, aber ohne Frage sehr charakterstark.
Der Komponist
Jindřich Praveček wurde am 28. Juni 1909 in Výprachtice (Tschechien) geboren. Seine musikalischen Grundkenntnisse erwarb er von seinem Vater, der von Beruf Lehrer war, bevor er schließlich die Musikschule in Pardubice besuchte. Sein umfängliches Musikstudium, Violine und Dirigieren inbegriffen, schloss er 1935 in der Meisterklasse des Prager Konservatoriums ab. Bereits 1933, je nach Quelle auch 1931, trat Praveček als einer der jüngsten Militärkapellmeister seine erste Stelle beim damaligen 33. Infanterieregiment in Eger an. Danach war er Chefdirigent der Garnisonskapellen von Kosice, Brünn, Prag und Königgrätz. 1945 wurde er Leiter der Militärmusikschule, die er völlig neu aufbauen musste. Nicht nur als Musiker durchaus ein eigener Geist, wurde er nach dem kommunistischen Staatsstreich 1948 zunächst entlassen, aufgrund seiner Qualifikation aber bald wieder eingestellt, um ein repräsentatives Militärorchester aufzubauen. 1950 wurde er Chefdirigent des neu gegründeten Zentralorchesters der Volksarmee in Prag. 1956 wurde er wegen “politischer Unzuverlässigkeit” erneut aus dem Militärdienst entlassen.
Er widmete sich ab dann zahlreichen böhmischen und mährischen Blasorchestern, unter anderem gemeinsam mit dem Musikinstrumentenhersteller Amati auch dem Aufbau eines Jugendblasorchesters. Er führte auch dieses Orchester zu beachtlichen Erfolgen, wie zum Beispiel 1970 beim internationalen World Music Contest (WMC) in Kerkrade.
Praveček komponierte wohl mehr als 150 Werke und verfasste etliche Schriften über Blasinstrumente und Blasorchester. Von seinem umfangreichen kompositorischen Schaffen ist die Ouvertüre “Rodny Kraj” (Heimatland), eine klangvolle Komposition, die die Schönheit seiner böhmischen Heimat beschreibt, wohl sein bekanntestes Werk. Als Dozent, Berater und Jurymitglied war er in seinem Genre stets ein gefragter Mann. Er verstarb am 11. Februar 2000 in Prag.
Apropos “Karneval”
Die “fünfte Jahreszeit”, oder korrekter: der Brauch vor der 40-tägigen Fastenzeit zwischen Aschermittwoch und Ostern, hat landauf, landab alleine schon in unseren Breiten viele Namen: Karneval, Fastnacht, Fasnet, Fasching, Fastelovend, Fasteleer. Aber auch international spielen die Elemente ausgelassene Musik, Umzüge, Verkleiden und Masken von jeher in diesem Zeitraum eine große Rolle, ob in Rio, Venedig, Quebeck, Luzern oder in New Orleans.
In frühen Zeiten vom Reformationsgedanken und dem Protestantismus des 16. Jahrhunderts eher verdrängt, waren es damals die opulenten Feiern und Feste in den Schlössern und an den Fürstenhöfen im Barock und im Rokoko, die stark angelehnt an die Maskeraden der italienischen Commedia die Freude an diesem Feiern wieder erweckten.
Im frühen 19. Jahrhundert übernahmen in den Städten vermehrt die jungen Gesellen der Handwerkszünfte die Ausrichtung der närrischen Maskenbälle. Im rheinischen Raum insbesondere das Bürgertum, nachdem die französischen Besatzer den Karneval ab 1804 wieder erlaubten. “Maskeraden und Mummerei” etwa waren ab 1779 in Köln, als potenzielle Kriegsgefahrenquelle, zwischenzeitlich auch wieder verboten gewesen. In der Folge erstarkte alsbald auch wieder der fast ausgestorbene Straßenkarneval und die Tradition, auch im Sinne der älteren Formen, die in Süddeutschland, Österreich, der Schweiz und im Elsass stets gepflegt wurden, “im humoristischen Ambiente” Kritik an Kultur, Politik und Kirche üben zu dürfen.
Die Tarantella
Was machte man in Süditalien und im südlichen Mittelmeerraum um 1600 dem Vernehmen nach, wenn man von einer giftigen Spinne oder einem Skorpion gebissen oder gestochen wurde? Musiker kamen ins Haus und begannen zu spielen, damit der unglückliche Patient bis zur völligen Erschöpfung tanzen konnte, mit dem Ziel, das Gift aus dem Körper zu treiben. Wildes Tanzen war eine Therapie. Wahrlich geht ein früher schriftlicher Hinweis auf diese Tanztiraden auf Schriften von Athanasius Kircher (1602 bis 1668), Jesuit und Universalgelehrter, zurück.
Die Tarantella als “neapolitanischer Tanz”, entlehnt aus dem schmerzhaften Biss der dort vorkommenden Spinne “Tarantella”, ist ab etwa 1700 belegt. Es ist eine schnelle Musik aus Italien im ³/₈- oder ⁶/₈-Takt, die sich dann mehr und mehr zum allgemeinen Volkstanz auswuchs. In der Romantik griff die Instrumentalmusik die kesse Tanzform auf. Schubert, Rossini, Liszt, Rachmaninow, Borodin, Tschaikowsky und Chopin ließen sich von ihr inspirieren. Im Auftrittslied des Barbiers Caramello in “Eine Nacht in Venedig” (Johann Strauss Sohn) verkündet dieser: “Eine neue Tarantelle zeig ich hier Euch auf der Stelle”. Kurt Weill nutzt diese tänzerische Grundidee in der Gerichtsszene von “Mahagony”.
Der Aufbau
Mit dreimal drei quirligen Takten, einer auftaktigen Motivik, die auf rhythmischen Grundbausteinen der Tarantella beruht, startet das Werk schon sofort recht aufgeregt. Pauke und kleine Trommel beginnen bzw. umschließen diese frühe motivische Standortbestimmung.
Ab 1 ertönt dann über 15 Takte das verspielte Hauptthema des Werks. Die ersten acht Takte verlaufen mit zweimal vier Takten in der Norm, die folgenden sieben Takte beginnen schon damit, eben diese aufzubrechen. Ab 2 verspielt sich das Kopfmotiv zunächst über dreimal zwei Takte im Dialog von Trompete(n) und Querflöten weiter, bevor es dreitaktig Anlauf nimmt, um einen neuen melodischen Gedanken im Blech freizulegen, der sich über sieben Takte zu 3 hinzieht. Dort baut sich, eingeleitet von den Posaunen, klanggesteigert von Hörnern und Trompeten, über 21 Takte ein drängender und sich gleichsam stauender Teil auf. Die Hölzer bleiben ihrer “Tarantella-Motivik” treu, derweil Blech und auch Schlagwerk mit stellenweise gefühltem Dreiertakt und Duolen dagegenhalten.
Letzten Endes setzt sich das verspielte Holz aber wieder durch und ab 4 präsentieren die Saxofone erneut das tänzerische Hauptthema, diesmal über elf Takte. Ab 5 beginnen, nun in Mollfärbung, sofort weitere Variations- und Durchführungstechniken. Passagen von vier- und dreitaktigen Sinnabschnitten wechseln einander ab. Aber auch in den “geraden” Taktpassagen sind die Zusammenhänge alles andere als symmetrisch. Meine “Erbsenzählerei” möge hier verdeutlichen, mit wieviel lausbübigem Schabernack und rhythmisch, periodischem Geschick Praveček hier Unruhe, Aufgeregtheit und Spannung erzeugt – letzten Endes aus der Substanz eines einzigen tänzerischen Gedankens.
“Dazu köcheln die Saxofone, im solistischen Wechselspiel, weiterhin die Tarantella-Rhythmik”
Ab 6 bäumt sich das ganze Orchester noch einmal kurz auf. Aus Tutti-Dreiergruppen werden Duolen, die sich von der Sopranlage bis zur Basslage herabbewegen. Schließlich werden diese von Tenor- und Baritonsaxofon solistisch und decrescendierend wieder in Dreiergruppen eingefangen und lassen das Geschehen in einen offensichtlich ruhigeren Teil münden.
Ab 7 säuselt das hohe Holz leise wogend ein langgezogenes, breit angelegtes, harmonisch wohl ausgesetztes und auch nicht wirklich symmetrisches neues Thema. Dazu köcheln die Saxofone, im solistischen Wechselspiel, weiterhin die Tarantella-Rhythmik. Ab 8 melden sich frech und laut die Trompeten zu Wort. Das hohe Holz antwortet zunächst gelassen, aber schon bald drückt aus der Mitte der Partitur ein crescendierender Anlauf.
Ab 9 bricht sich ein Bass-Solo Bahn, melodisch durchaus verwandt mit dem vergleichsweise zarten und melodischen Gedanken der Hölzer in 7, aber marcato, im Forte und durchaus “ruppiger”. Diese Unruhe unterstützen Taktwechsel einzelner Instrumentengruppen, die zur selben Zeit Dreier- und Zweiermetrik bedienen. Ab Takt 152 obsiegt der ²/₄-Takt schnörkellos und geradlinig für drei Takte. Ab Takt 155 erobert sich der ⁶/₈-Takt aber wieder fordernd die Oberhand zurück. In der Folge bleibt es durchaus dramatisch und laut, aber bei sich verdünnendem, dialogisierendem Partiturbild, welches in einem kurzen Solo der kleinen Trommel überleitend ausläuft.
“Ab Takt 265 ertönen Zwischenrufe von Trompeten und Hörnern im Dialog mit Septolengeschnatter im Holz”
Keck präsentieren federführend die hohen Flöten ab 10 noch einmal das Hauptthema, analog zu 1, über die vollen 15 Takte. Ab 11 bekommen, klanglich wirkungsvoll und wahrnehmbar, die Flügelhörner fortführend eine tragende Rolle, dialogisierend mit dem tiefen Holz. Nach erneutem Crescendo, ebenfalls analog zu 2, erklingen ab Takt 193 im Tutti die bereits bekannten weiterführenden Gedanken in veränderter und differenzierter Instrumentation. Ab 13 folgt eine erneute Beruhigung. Das weiche Blech (Flügelhörner, Tenorhorn, Bariton) greift die ruhige und leise Passage in ihrer eigenen Klanglichkeit wieder auf. Gefolgt ab 14 von der diesmal weniger dramatischen Übernahme nun durch die Hölzer, wobei die Hörner und Posaunen den Gegenpart bilden. Derweil würzen natürlich beständig viele kleine motivische “Nickeligkeiten”.
Ab Takt 265 ertönen Zwischenrufe von Trompeten und Hörnern im Dialog mit Septolengeschnatter im Holz. Bei 15 strahlen zunächst die Trompeten und Hörner im klangvollen Forte, später, ebenfalls im Forte, das weiche Blech, das den vergleichsweise cantilenen Gedanken im Forte auf seine Art noch einmal präsentiert und weiterträgt. Hin zu 16 bäumt sich mit dramatischem Steigerungspotenzial, natürlich beständig immer weiter befeuert von der nie zu drängen aufhörenden “Tarantella-Motivik” in den Hölzern, ein dreifaches Forte zu einem erneuten Zwischenhöhepunkt auf. Ab Takt 297 scheinen das tiefe Holz und die Saxofone wieder etwas Ruhe verbreiten zu wollen, doch weisen darunter die kleine Trommel, und im Anschluss die Umspielungen in den Klarinetten, schon unmissverständlich den Weg zum Schlussprestissimo.
Dazwischen schiebt sich aber ab 17, wieder recht harmlos, zunächst noch einmal der Aufgriff des Hauptthemas, diesmal in den Klarinetten. In der Folge entwickeln und steigern sich die Abläufe mit dem bekannten Material; aber immer wieder neu instrumentiert und motivisch geschüttelt bis zum ekstatischen Prestissimo ab 20. Das zieht in Schlussgruppenmanier noch einmal alle Register und lässt das Werk mit einem strahlenden Fortissimoklang, crescendierend und mit Sforzato-Anschluss ausklingen.
Die Instrumentation
Schon auf den ersten Blick hat das Partiturbild eindeutig “tschechiche” Züge. Die beiden Flügelhornstimmen, sofort darunter die Tenorhorn- und Baritonstimmen, sind rein optisch im unteren Drittel der Partitur zwischen den Posaunen- und Basstubastimmen positioniert. Der Holzsatz wird, bis auf Englischhorn, komplett bedient, Trompeten, Hörner und Posaunen sind mit je vier Stimmen am Start, Streichbass ist neben zwei Tuben besetzt, das Schlagwerk ist vollumfänglich klassisch und rein traditionell besetzt.
Technisch und in Sachen Artikulation geht es durchaus überall “zur Sache”. Da ist Virtuosität und Wendigkeit gefragt. Und ein wenig kontrollierte Kraft und Ausdauer sollte man auch mitbringen, um die fordernde Dynamik nicht zu übersteuern. Die Trompeten zeigen gelegentlich gerne ihre Schärfe, während die Flügelhörner gleichsam virtuos, aber auch genretypisch klangvoll eingesetzt werden.
Fazit
Diese temperamentvolle Komposition des Altmeisters der tschechischen Blasmusik ist in der Höchststufe eingeordnet, dauert gut fünf Minuten und war 2005 Pflichtstück beim “Internationalen Blasmusikfestival Prag”.
“Karneval des Lebens”. Ideengebend war sicher ganz allgemein eine drängende Ungestümheit und die Lust, aufbegehrende und stürmische Zeiten, die das Leben nun einmal immer wieder vorhält, musikalisch zu beschreiben. Das Ganze ist formal im Stil einer Tarantella, die sich in Rondoform in virtuoser Verspieltheit immer wieder gerne auch einmal um sich selbst zu drehen scheint. Dabei war es sicher schlitzohrig, auch den Begriff Karneval mit ins Boot zu nehmen. Verweist er doch ein wenig darauf, bei aller Ernsthaftigkeit, die Lust am Leben nicht zu verlieren sowie auch einmal in der Lage zu sein, nicht immer alles im Leben absolut und mit Endzeitstimmung zu bewerten. Eine Nuance, die mir sehr sympathisch ist.