Musik ist wohl das wichtigste Kulturgut unserer heutigen Zeit. Aber wie erhält man ein so bedeutendes Gut für die Nachwelt? Martin Kunze hat mit seinem Projekt »Memory of Mankind« eine bemerkenswerte Lösung geschaffen: In einer Salzmine im österreichischen Hallstatt sammelt er in einem Archiv aus Keramiktafeln Momentaufnahmen unserer Zeit – geschützt und haltbar für eine Million Jahre.
360 Meter über den Dächern Hallstatts befindet sich der Eingang zum ältesten Salzbergwerk der Welt. Seit 7000 Jahren wird hier Salz abgebaut. Nicht umsonst gehört es zur UNESCO-Welterbestätte Hallstatt/Dachstein-Salzkammergut. Ein geschichtsträchtiger Ort, an dem im Laufe der kommenden Jahrzehnte auch ein Archiv entstehen soll, in dem für die nächsten eine Million Jahre ein »Schnappschuss« unserer heutigen Zeit aufbewahrt werden soll.
Durch einen schmalen Tunnel gelangt man mit einer Bahn 500 Meter weit in den Berg hinein. Hier beginnt für die Touristen die Führung durch das Schaubergwerk. Und etwas abseits des Getümmels präsentiert uns Martin Kunze sein vorläufiges »Memory of Mankind«-Lager: Bis unter die Decke stapeln sich die schweren gelben Tonkisten, die im Laufe der Zeit mit 20 x 20 Zentimeter großen Keramikplatten gefüllt werden und ein Spiegelbild unserer heutigen Gesellschaft abbilden sollen.
Martin Kunze und »Memory of Mankind«
Seit über zehn Jahren beschäftigt sich Kunze gedanklich mit diesem Projekt – er stellte sich jede Menge Fragen über das Was, Wie, Wo und Warum und gelangte so bereits zu einigen sehr durchdachten Lösungen. An der Kunsthochschule studierte er Keramik: »Als Keramiker schafft man Dinge, die auch in 5000 Jahren noch erhalten sind.«
Gleichzeitig stellte er sich die Frage, wie es in der Zukunft wohl mit unseren heutigen Aufzeichnungen aussieht. Zwar werde momentan so viel publiziert wie nie zuvor in der Geschichte, gespeichert werden diese Aufzeichnungen aber hauptsächlich digital beziehungsweise online. Was also wird man aus unserer heutigen Zeit später einmal finden?
Zwei Szenarien hält Kunze für denkbar: Entweder man findet überhaupt keine Überlieferungen mehr, weil wir aus ökonomischen und ökologischen Gründen (beispielsweise aufgrund des hohen Energieverbrauchs und der CO₂-Emissionen durch das Internet) gezwungen waren, Daten zu löschen. Oder man findet ein zufälliges Datenfragment, das ein sehr verzerrtes Bild unserer Zeit widerspiegeln würde.
Weniger als ein Prozent der Aufzeichnungen aus der Antike sind heute erhalten. Da Publikationen damals aber sehr aufwendig waren, wurden nur Inhalte mit einer gewissen Relevanz veröffentlicht – dementsprechend können wir heute trotzdem ein relativ realistisches Bild der antiken Denkweise nachzeichnen. Heute dagegen ist Publizieren sehr einfach; jeder kann veröffentlichen, was immer er möchte.
Und da Pseudo-Wissenschaften derzeit eine breitere Zuhörerschaft finden als richtige Wissenschaften, gibt es mehr Beiträge über Kornkreise als über Gravitationswellen. Ein zufälliges Datenfragment würde dementsprechend nur sehr wenige Dinge enthalten, die uns heute besonders wichtig sind und die wir mit großem Aufwand betreiben – wie zum Beispiel medizinischer Fortschritt, wissenschaftliche Forschung, die Erkundung des Weltalls und Ähnliches.
Der Inhalt des MOM-Archivs
Um diese Szenarien zu vermeiden und ein »Global Alzheimer« zu verhindern, will Kunze in seinem Archiv gezielt Inhalte auswählen und aufbewahren. Die Inhalte sind in drei Gruppen gegliedert: In der ersten Gruppe sollen allgemeine Inhalte gesammelt werden, die ein möglichst umfassendes und objektives Bild unserer Zeit wiedergeben – beispielsweise in Form von täglichen Leitartikeln der größten Zeitungen weltweit.
Die zweite Gruppe enthält spezifische Beiträge von Institutionen, so können beispielsweise Museen ihre wichtigsten Exponate einreichen, Universitäten die besten Abschlussarbeiten und die Nuklearindustrie die Standorte von Atommüll-Lagerstätten festhalten. Eine wichtige Rolle spielen in diesem Bereich außerdem Preise und Auszeichnungen, beispielsweise im Bereich Literatur oder Wissenschaft.
Individuelle Inhalte werden in der dritten Gruppe gesammelt. Jeder darf sich hier beteiligen und einbringen: Auf der MOM-Internetseite kann man beispielsweise einen Textbeitrag bis zu 5000 Zeichen kostenlos hochladen. Einen Filter oder eine Redaktion gibt es nicht, es muss nur erklärt werden, warum gerade dieser Text erhaltenswert ist. »Das ist wichtig für die Relation der Inhalte, wenn zukünftige Historiker die Tafeln eines Tages analysieren«, erklärt Kunze.
Wer 150 Euro spendet, darf eine komplette Tafel (auch mit Bildmaterial) gestalten, bei 350 Euro erhält man sogar ein Duplikat der Tafel in einer Geschenkbox. Dies wird häufig im Rahmen von besonderen Anlässen wie Jubiläen oder Hochzeiten genutzt.
Die dritte Gruppe führte auf wissenschaftlicher Seite anfangs zu »Naserümpfen«, erzählt Kunze schmunzelnd. »Manche haben vor allem den wissenschaftlichen Sinn von tausenden Hochzeits-Tafeln hinterfragt.« Mittlerweile konnten Archäologen und Linguisten diese Bedenken allerdings zerstreuen: Wenn ein Ereignis wie eine Hochzeit besonders häufig im Archiv zu finden sei, betone dies nur die Wichtigkeit dieses Ereignisses für unsere Gesellschaft. Und aus linguistischer Sicht gäbe es nichts Besseres als viele verschiedene Beschreibungen des gleichen Ereignisses.
Kunze sieht vor allem in der dritten Gruppe die größte Stärke des Projekts. Schließlich werde hier thematisch ein unglaublich breites Spektrum abgedeckt – vom Liebesbrief über private Geschichten bis hin zu Abschlussarbeiten: »Hier wird ein Bild unserer Zeit festgehalten, das kein anderes Archiv festhält.« Er betont, MOM sei kein Wissensspeicher, sondern vielmehr ein »Schnappschuss« unserer Zeit. Viel spannender als unser heutiger Wissensstand sei der Weg dorthin, also wie wir dieses Wissen erlangt haben. Deshalb spielen Blogs auch eine wichtige Rolle im MOM-Archiv.
Wie macht man Inhalte haltbar?
Momentan gibt es zwei Möglichkeiten, Inhalte im MOM-Archiv aufzubewahren: Auf »Level1-Tafeln« können Texte und Farbbilder verewigt werden. Die Tafeln bieten Platz für etwa 50 000 Zeichen in Schriftgröße 4. Dank eines speziellen Druckverfahrens und besonderer temperaturbeständiger Farbkörper eignen sich diese Tafeln vor allem für Fotos. Die Tafeln sind hitzebeständig bis 1200 Grad Celsius und resistent gegenüber Chemikalien, Wasser, Strahlung, Magnetismus und Druck.
Bis zu fünf Millionen Zeichen sowie Grafiken in Schwarzweiß bekommt man darüber hinaus auf einer »Level2-Tafel« unter, dem sogenannten keramischen Mikrofilm. Das entspricht etwa fünf Büchern mit jeweils 400 Seiten. Dabei werden mikroskopisch eingravierte Buchstaben beziehungsweise Linien auf dünne, aber dennoch hochstabile keramische Platten übertragen. Lesbar sind diese bereits mit einer Zehnfach-Lupe. Die »Level2-Tafeln« sind temperaturresistent bis 1400 Grad Celsius, beständig gegen Säuren und Laugen, Druck und elektromagnetische Strahlung.
Musik im MOM-Archiv: Klänge für die Ewigkeit
Als wichtigstes Kulturgut unserer Zeit soll natürlich auch Musik im MOM-Archiv verewigt werden. »Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass man Instrumente mit Bauanleitungen abbildet«, überlegt Kunze. Und natürlich eine Erläuterung des Notenliniensystems sowie Noten von verschiedenen Werken. »Für Partituren eignet sich beispielsweise der keramische Mikrofilm. Etwa 140 Seiten würde man auf einer Tafel unterbringen. Wer möchte, darf uns also gerne seine Kompositionen zukommen lassen.«
Aber natürlich denkt Kunze auch hier schon viel weiter: Er will die Musik in seinem Archiv auch hörbar machen! Derzeit wird an einer dauerhaft haltbaren CD geforscht. Eine erste Überlegung war, Schallplatten aus Porzellan zu machen oder Soundfiles auf keramischem Mikrofilm grafisch aufzuzeichnen. Ein Prototyp aus Silizium-Scheiben mit einer Wolframbeschichtung existiert bereits. Darauf können digitale Daten geschrieben werden.
Theoretisch wäre es auch möglich, diese Scheiben mit einem CD-Audio-Format zu beschreiben. Das CD-Audio-Format ist sehr einfach, fast noch analog. Es hat kaum Korrekturmechanismen und Kompressionen, sodass man relativ einfach darstellen kann, wie aus diesem digitalen Format wieder ein analoges wird. »Wir sind dann zu dem Schluss gekommen, dass eine Kombination aus Bedienungsanleitung und diesen Audio-CDs eine entzifferbare Möglichkeit ist, wie man Musikdateien im Archiv einlagern könnte.«
Die Klangqualität sei zwar nicht ganz so gut wie bei neueren digitalen Formaten wie zum Beispiel MP3-Dateien, diese wären allerdings wiederum komplizierter darzustellen. »Immerhin ein Anfang«, findet Kunze, »und wer weiß, was uns noch einfällt.« Auch über das Speichern bewegter Bilder und die Aufbewahrung von Videos wird bereits nachgedacht.
Die Herstellung einer solchen CD kostet Kunze zufolge etwa 500 Euro. Er überlegt bereits weiter: »Vielleicht wäre das ein guter Ansatz für eine Crowdfunding-Aktion. Man könnte verschiedene Alben zur Auswahl stellen und sobald man die 500 Euro zusammen hat, wird die Archiv-CD produziert.«
Music everywhere – and forever
Schon nächstes Jahr im Herbst will er die erste CD im Archiv einlagern. Für Oktober ist in Hallstatt eine Konferenz unter dem Titel »Here and Now – What does the Future need to know?« geplant, die von MOM und dem Human Document Project organisiert wird. Die Konferenz dauert drei Tage und umfasst neun Panels zu unterschiedlichen Themen. Jedes Panel wird von einigen Experten besprochen, darunter Biologen, Verhaltensforscher und Historiker.
Das Panel zum Thema Musik, »Music everywhere – and forever«, schließt die Konferenz ab. Darin soll es um folgende Fragen gehen: Was war zuerst da? Sprache oder Musik? Ging das eine aus dem anderen hervor? Übernimmt Musik den Teil der Kommunikation, den wir mit Sprache nicht ausdrücken können? Sind wir Menschen die einzige Spezies, die musiziert?
Am nächsten Tag ist dann ein großes Event in der Salzmine anberaumt: Kunze würde dafür gerne den britischen Musiker Peter Gabriel gewinnen, dessen künstlerische Arbeit sich schwerpunktmäßig auf die Produktion und Förderung von Weltmusik konzentriert. »Peter Gabriel ist ein Fachmann für Weltmusik, der uns bestimmt bei der Frage weiterhelfen kann, welche Musik repräsentativ im MOM-Archiv aufbewahrt werden soll.«
Die Vorbereitungen hierfür laufen bereits auf Hochtouren. Mit der österreichischen Musikverwertungsgesellschaft »austro mechana« hatte Kunze bereits erste Gespräche. Schließlich will man mit den Kopien für das MOM-Archiv keine Urheberrechte verletzen. Aber er ist zuversichtlich: »Die finden unsere Idee und das MOM-Projekt auch sehr gut, da finden wir bestimmt eine Lösung.«
Die Schatzkarte
Abgesehen von einem äußerst beständigen Speichermedium sind für ein Archiv dieser Art aber auch gewisse geologische Voraussetzungen nötig. Die Salzmine in Hallstatt wurde also nicht aus symbolträchtigen Gründen als Standort ausgewählt. Das MOM-Archiv liegt hier tief unter der Oberfläche und ist somit vor Erosionen geschützt. Gleichzeitig kann es nicht durch einen steigenden Meeresspiegel geflutet werden.
Die geologische Struktur des umliegenden Gesteins verhindert, dass das Archiv zerdrückt wird und ein natürlicher Vorgang sorgt dafür, dass sich die Kammern mit der Zeit selbst verschließen. Somit wird auch verhindert, dass das Archiv durch Zufall von einer technisch unterentwickelten Gesellschaft gefunden wird und seine Inhalte aus Unverständnis zerstört werden.
Aus diesem Grund wird der endgültige Standort übrigens auch noch einmal 1,5 Kilometer weiter in den Berg hinein verlegt. Am derzeitigen Standort wurden nämlich an einigen Stellen prähistorische Grabungsaktivitäten nachgewiesen.
Aber wie kann man das Archiv in der Zukunft dann überhaupt jemals finden? Mit einer kleinen keramischen Scheibe, dem Token. Jeder, der bei MOM mitmacht, erhält diese »Schatzkarte«, auf der der Eingang zum Archiv markiert ist. Sie soll von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Und je mehr Menschen sich an dem Projekt beteiligen, desto mehr Tokens sind im Umlauf.
Auf der Vorderseite sieht man unter anderem den Umriss von Europa und ein Fadenkreuz mit dem Kreuzungspunkt Hallstatt. Die Rückseite zeigt den Umriss des Hallstätter Sees sowie die relative Lage des Archiv-Eingangs zum See. Den Token kann nur entziffern, wer ein exakt vermessenes Koordinatensystem hat und geologische Prozesse versteht, also einen Wissensstand hat wie wir seit etwa Mitte der 1980er Jahre. Der Token ist Karte und Barriere zugleich. »Nur wer die Schatzkarte lesen kann, kann auch mit unserem Vermächtnis etwas anfangen«, erklärt Kunze.
Scherben
Bei aller Begeisterung für dieses wirklich beeindruckend durchdachte Projekt stellt sich dennoch eine Frage: Was passiert, wenn eine Keramiktafel herunterfällt und in die Brüche geht? Kunze grinst über das ganze Gesicht, als habe er auf diese Frage gewartet: »Die Informationen sind damit ja nicht verloren. Seit Jahrhunderten kleben Archäologen uralte Scherben wieder zusammen. Ich denke, das sollte auch in der Zukunft kein Problem sein.«