Renold Quade stellt monatlich Werke vor, die in Blasorchestern auf den Pulten liegen bzw. durchaus einmal dorthin gehören. Diesmal steht eine lästige Fliege im Mittelpunkt: „The Fly“ – Invention For Wind Band des Spaniers Oscar Navarro.
Vanessa Reske beschreibt in einem kurzen Aufsatz über Fliegen, dass etwa 10 000 Arten dieser Insektengattung allein in Mitteleuropa bekannt sind. Es gibt Fruchtfliegen, Stubenfliegen und Fleischfliegen – und alle haben keinen sonderlich guten Ruf. Sie summen um uns herum und nerven uns, wenn wir essen, schlafen oder arbeiten. Fliegen faszinieren aber auch. Sie sind enorm flink. Ihre meisterhaft schnellen Reaktionen im Flug, ihre Anpassungsfähigkeit und ihr Geruchssinn beeindrucken nicht nur die Wissenschaft schon seit mehr als hundert Jahren.
Eine Stubenfliege lebt übrigens nur zwei bis vier Wochen. Da ist keine Zeit für langwierige Entwicklung. Bei Menschen setzt man da mal gerne neun Monate und dann noch mal gut 20 Jahre an. Bei Stubenfliegen geschieht das alles in zehn Tagen. Und dann gilt es: Nahrung finden, sich paaren, bis zu 500 Eier ablegen und sterben. Eine Fruchtfliege, Drosophila, lebt in der Natur gar nur etwa zwei Wochen.
Der Komponist

Oscar Navarro Gonzalez, 1981 in Novelda, Alicante (Spanien) geboren, schloss schon früh erste Studien, unter anderem auf der Klarinette, im heimatlichen Konservatorium mit Auszeichnung ab. Er bemühte sich schnell und umtriebig um berufsorientierte musikalische Ausbildung und begann alsbald sein Kompositions- und Dirigierstudium bei seinem Mentor und Freund Ferrer Ferran an der Allegro International Music Academy in Valencia. Die renommierte Thornton School of Music der Universität von Südkalifornien (Los Angeles) gab ihm im Anschluss Gelegenheit, dort Komposition für Filmmusik und Fernsehproduktionen zu studieren. Er arbeitete vor Ort mit Hollywoodgrößen wie Joel McNeely, Pete Anthony, Michael Giacchino oder auch Christopher Young zusammen und erwarb sich weitere Auszeichnungen, wie zum Beispiel das „Harry Warren-Stipendium“ für Filmmusik und Fernsehen.
Seine Musik spielen heute Orchester auf der ganzen Welt und er wird auch immer wieder gerne von der Bläserszene beauftragt, kompositorisch tätig zu werden. Er erhielt Aufträge von Army und Navy Wind Bands, dem Internationalen Musikfestival von Altea oder auch vom Valencia Institute of Music. Seine Werke veröffentlicht er im Eigenverlag.
Die Invention
Invention bedeutet, zunächst ganz grundlegend aus dem lateinischen übersetzt: Erfindung, Gedanke. Bereits Johann Sebastian Bach benannte so Musikstücke, die aus einem Gedanken entstanden, sich aber nicht als Kanon oder Fuge weiterentwickelten. Seine gleichnamige Sammlung mit zwei- und dreistimmigen Klavierstücken im imitatorischen Stil ist ein Standardwerk in der Musikgeschichte.
Das Stammwort „invenire“ wird zudem aber auch in vielfältigeren Nuancen verwendet: „auf jemanden oder etwas stoßen, etwas (vor)finden, auffinden, meist zufällig, manchmal auch durch Suchen“. Daher wird der Begriff Invention seit Bachs Zeiten in der Musik gerne als eine Art Ersatzbezeichnung für Musikstücke verwendet, deren eindeutige Gattungsbezeichnung nicht klar definiert ist, oder auch schlicht für Stücke, die besonders ideenreich oder neuartig daherkommen. Musikstücke, die sich im Prinzip aus einem musikalischen Einfall, dem Inventio, heraus nähren und sich in der anschließenden Ausarbeitung, der Elaboratio, weiterentwickeln.
Die Idee
Die wohl inspirationsgebende Geschichte, die Navarro zu diesem nicht zu unterschätzenden Werk motiviert hat, kann im Prinzip ganz einfach erzählt werden. Da ist eine Fliege, die anscheinend in einen Raum einfliegt, in dem ein Mensch ganz friedlich vor sich hindöst. Das unterstreicht dieser durch mehr oder weniger entspannte Schnarchgeräusche. Aber plötzlich ist er irritiert, gar gestört, vom surrenden Flügelschlag des Insekts, das immer wieder recht nah an ihm vorbeistreift. Zunächst noch recht „kleinmotivisch“ beginnt eine erste Orientierung, in der Mensch und Fliege das Terrain abzustecken scheinen.
Nach diesem sich gegenseitig Beobachten beginnt dann gezieltes Suchen und schließlich eine durchaus immer turbulenter werdende Verfolgungsjagd. Und da schlägt sich die Fliege definitiv nicht schlecht. In vielen Facetten beweist sie Schnelligkeit, Geschick, gar auch ein wenig Übermut und Raffinesse. Sie schlägt immer wieder mit virtuosen Kapriolen ihre Haken. Aber wenn man der Komposition glauben darf, dann hat er sie am Ende doch erwischt, der Mensch die Fliege.
Dieses Werk ist Teil einer umfangreichen Suite mit dem Titel „Bestiarum“. Neun Komponisten schlossen sich zu einem Projekt zusammen, welches die augenzwinkernde Idee verfolgte, eine Art „Karneval der Tiere“ für die Blasorchesterwelt zu schaffen. Beteiligt an „Bestiarum“ sind folgende Komponisten mit ihren jeweiligen tierischen Ideen: Bert Appermont mit „Tropical fishes, a deep blue adventure“, Philip Sparke mit „Dance of the whale, a ballet for the endangered species“, Ferrer Ferran mit „Tyrannosaurus Rex“, Jan Van der Roost mit „The Snail“, Kevin Houben mit „The Kangaroo“, Robert W. Smith mit „The Apes“, Victoriano Valencia mit „The Woodworm“, Luis Serrano Alarcón mit „Charlie, The Chameleon“ und Oscar Navarro mit „The Fly“.
Der Aufbau
Der Beginn des Werks ist zunächst, im wahrsten Sinne des Wortes, zum Schnarchen. Die Klarinetten liefern, auf speziell beschriebene Art und Weise, Atemgeräusche. Sie atmen quasi ein und die Tuben dann quasi aus, mit einen „Schnarch-Cluster“. Alles ist noch sehr leise. Unter Zuhilfenahme des speziellen Fliegeninstruments, der „La Mosca“, fliegt dann besagte Fliege über das Orchester hinweg und somit auch über den süß vor sich hinträumenden (schnarchenden) Menschen. Vereinzelte flinke Triolen suggerieren bereits leise Störungen der Schlafphase.
Die „lästige Fliege“ nervt nun quer durchs ganze Orchester
Ab Takt 16 wird dann endgültig klar, dass die Träume des Schlafenden zu Ende sind. Im Tempo 138, accelerando und crescendo, pulsieren nun wohlgeordnet die vormals punktuellen Triolen und führen hin zum Presto in Takt 26. Die „lästige Fliege“ nervt nun quer durchs ganze Orchester. In vier- und zweitaktigen Phrasen, verteilt in der gesamten Partitur, folgen aufsteigende und absteigende Achtelbewegungen aufeinander. Im Abschnitt ab Takt 57, während die Basspartie gerade melodiöse Verantwortung übernimmt, mischen sich ⁷/₈-Takte ins Geschehen und suggerieren in meiner Wahrnehmung „bemühte Schläge mit der Fliegenklatsche“. Derweil die Fliege diesen – auf ihre Art und Weise „trillernd“, „jubilierend“ – auszuweichen weiß. Ab Takt 70 zieht sie sich anscheinend ein wenig aus der Gefahrenzone zurück und ab Takt 76, in einem kleinen Interludium bei leicht ausgedünnter Partitur, scheinen sich Fliege und Mensch zunächst einmal neu zu orientieren. Sie checken das Umfeld und bringen sich für das nächste Duell frisch in Position.
Und das lässt auch nicht lange auf sich warten. Ab Takt 83 erfolgt der Wiederaufgriff der Gedanken von Takt 26. Man erreicht aber den „schlagenden“ ⁷/₈-Teil deutlich früher. Wie dem auch sei, auch hier scheint es der Gejagten leichtfüßig bzw. leichtflügelig möglich, trotz des enormen Aufwands, den der Jäger betreibt (Takt 122), locker zu entkommen. Die Posaunen ironisieren das schelmische knappe „Vorbeifliegen“ immer wieder mit Links-rechts- und Rechts-links-Bewegungen, die nicht nur optisch, sondern auch räumlich-akustisch deutlich werden.
Die Fliege nimmt enormen Anlauf zu einem neuen Angriffsziel
Die Fliege, so scheint’s, ist nach wie vor sehr angriffslustig. Ab Takt 123 nimmt sie enormen Anlauf zu einem neuen Angriffsziel, überschätzt aber offensichtlich kurz ihre Fähigkeiten und schmiert in Takt 139 überraschend ab. Sie landet, wohl etwas benommen von ihren Kapriolen, kurz auf dem Boden und muss sich mit einem Tempo- und Charakterwechsel ab 140 sicherlich erst einmal wiederfinden. Eine Posaune mit Wah-Wah-Dämpfer erzählt davon.
In Takt 144 noch einmal scheinbar harmlos die Flügel ausschlagend (im Fagott), starten ab Takt 145, beginnend in der Piccoloflöte, fortgesetzt vom Xylofon, im flotten Tempo primo, die wohl bislang virtuosesten Kapriolen. Noch ist die Fliege mit sich alleine, aber mächtig energetisch aufgeladen und wohl zu allem bereit. Ab Takt 161 nimmt sie ihr Ziel wieder fest ins Visier. Und ab Takt 172 beginnt der dritte große Anlauf zur Jagd, nach dem Muster der Eingangsidee aus Takt 26. Hier erfährt die Auseinandersetzung ihre höchste energetische Dichte.
Wild und turbulent verläuft das Geschehen bis Takt 188, wo sich dieses Mal der schlagende Siebener-Takt nicht wieder einfindet. Es bleibt aber – weitaus ruhiger, jedoch umso verwirrter – die suchende Melodik in den Bässen. Da hat wer die Fliege anscheinend ein wenig aus den Augen verloren. Aber Takt 204 ist es aber wieder da, dieses freche Insekt, das sogar, nach Hinweis in der Partitur, die Dreistigkeit besitzt, kurz auf der Nase des verzweifelten Menschen, konkret des Dirigenten oder der Dirigentin, Platz zu nehmen, bevor es sich keck zu einem vermeintlich sicheren Platz schleicht. Aber da ist die Rechnung nicht ganz aufgegangen. Nach kurzem irritiertem Suchen wird sie dann doch entdeckt. Und die Dirigentin bzw. der Dirigent setzt in höchster Verzweiflung zum finalen Abschlag an.
Die Instrumentation
Zur Besetzung eines gut ausgebauten Konzertblasorchesters gesellt sich ein „Selbstbauinstrument“, die „La Mosca“, hinzu. Für sie ist dem Stimmensatz eine Bastelanleitung beigefügt. Dieses Instrument, verteilt auf diverse Orchestermusikerinnen und -musiker, räumlich versetzt im Orchester, erzeugt surrende „Fliegenfluggeräusche“, deren Erscheinen detailliert ausnotiert ist und deren Intensitäten (Tonhöhe, Geräuschstärke) durch variieren der Schwinggeschwindigkeit merkbar verändert werden kann. Ebenfalls sind vier „Whips“, also „Peitschen“, im Orchester verteilt, die quasi akustische „Fliegenklatschen-Darsteller“ sind. Durch ihre unterschiedliche räumliche Positionierung (3. Klarinette, Baritonsaxofon, 3. Trompete, Percussion) verhelfen auch sie der Wahrnehmung der Verfolgungsjagden zu einer breiten Auffächerung.
Die regulären Orchesterstimmen sind durchweg recht anspruchsvoll, in Sachen Technik, aber auch in Sachen seriöser Umgang mit Effekten. Piccoloflöte und Xylofon sind mit je einem virtuosen Solo ausgestattet. Die Posaune mit Wah-Wah-Dämpfer wird kurz erzählend solistisch eingesetzt. Alle im Orchester sind gefordert. Einzelne Register gelegentlich auch mit kleinen optischen Effekten, die in Sachen Instrumentenhaltung die klassische Komfortzone kurz spielerisch verlassen.
Fazit
Lustig daherkommen auf hohem Niveau hat von jeher etwas mit Timing und der dazugehörigen Disziplin zu tun. Da muss nicht nur möglichst jeder Ton „sitzen“, da ist auch ein nuancierter Umgang mit klassischen Sitz- und Spieltechniken erforderlich, wenn sie nicht belanglos und schwächend verpuffen wollen. Das Durchdringen und Transparentmachen der gelegentlich recht dichten Strukturen ist sicher schon eine Menge Arbeit. Hier gilt es, viele Details und viel räumliche Beweglichkeit klug aufeinander abzustimmen und aus komplexen Klangbildern herauszuarbeiten. Die kleinen choreografischen Zusatzaufgaben sind in diesem Zusammenhang mehr als nur Beiwerk. Sie zentrieren die in der Musik dargestellten Intentionen zum rechten Zeitpunkt.
Für das Publikum ist das Werk sicherlich von großem Unterhaltungswert. Und wenn es richtig gut läuft, dann kann das Publikum auch mehr von der Geschichte mitnehmen als lediglich eine lustige Verfolgungsjagd im Stile von Tom und Jerry.