In einem Rilke-Gedicht heißt die Musik “hörbare Landschaft”. “Soundscapes” – Klang-Landschaften – sind heute ein stehender Ausdruck. Und möglicherweise mehr als nur eine Redewendung. Hans-Jürgen Schaal präsentiert einen musikphilosophischen Ansatz.
Verschiedene Philosophen (Schelling, Schlegel, Schopenhauer u.a.) haben die Musik mit der Architektur verglichen – mit einem kunstvollen Bauwerk, das man aber nicht mit den Augen, sondern mit den Ohren erlebt und erforscht. Viele Komponisten haben räumliche, architektonische oder landschaftliche Vorstellungen von ihrer Musik. Claude Debussy (1862 bis 1918) war bei seinen schwebenden, »impressionistischen« Klängen von Freiluft-Szenarien inspiriert, von Wolken, Licht und Meer – er mochte die »Seestücke« von Malern wie Whistler und Turner. György Ligeti (1923 bis 2006) wollte in jungen Jahren selbst Architekt werden: »Ich glaube nicht, dass ich eine besondere musikalische Begabung hatte«, sagte er später. »Mich interessierten Konstruktionen – Strukturen und die Art, wie man Gebäude baut. Architektur und Musik liegen für mich sehr nahe beieinander.« Seine Musik beschrieb Ligeti als »Netzstrukturen«, die eigentlich »keine akustische, sondern eher eine konstruktive Vorstellung« seien.
Noch fantastischer (nämlich in kosmische Welten reichend) waren die räumlichen Musikkonzepte von Iannis Xenakis (1922 bis 2001), der tatsächlich als Architekt gearbeitet hat (er war ein Schüler von Le Corbusier). Er verstand das Komponieren als ein Entwerfen von Formen und Farben: »Man stellt sie sich vor, kombiniert sie, lässt sie gegeneinander stoßen und sich entwickeln wie die leuchtenden Landschaften der Galaxien und interstellaren Gase, die von jungen, blauen Sternen angestrahlt werden.« Auch in anderen Genres hat man Musik häufig wie eine fantastische Landschaft wahrgenommen. Der Fotograf Herman Leonard meinte einmal über ein Solo des Jazzpianisten Bud Powell: »Es transzendierte die Töne. Es waren Bögen und Konturen und Hügel und Täler und Berge… und Wasserfälle.«
Imaginäre Landschaft
Doch Musik ist nicht gefestigt wie eine geschaffene Architektur oder eine ruhende Landschaft. Musik verändert sich in der Zeit. Deshalb sprachen die Philosophen von der Architektur als einer »erstarrten« Musik (Schelling), einer »gefrorenen« Musik (Schopenhauer) oder einer zur »Plastik« gewordenen (Schlegel). Umgekehrt könnte man sagen: Musik ist eine bewegte, flexible Architektur, eine rasch sich verändernde Landschaft. Wann erleben wir eine reale Architektur oder eine reale Landschaft, die sich so rasch verändern? Klar: wenn wir uns selbst durch den Raum bewegen. Wenn wir durch eine eindrucksvolle Kathedrale schreiten, verschieben sich ständig die Perspektiven, verschieben sich Linien, Formen, Lichtwirkungen. Wenn wir durch eine Landschaft wandern, setzen sich Geländeformen fort oder reißen ab, wechselt unser Blick auf Wälder, Berge und Seen, tauchen neue Details auf oder verschwinden.
In ähnlicher Weise entwickelt sich ein Musikstück – in Kontinuität und Veränderung zugleich. Wenn Musik in der Zeit abläuft, wandern wir quasi durch eine Audio-Umgebung. Der britische Musikwissenschaftler Michael Spitzer beschreibt die Musik als »Weg durch eine imaginäre Landschaft«: »Eine Landschaft zu durchwandern ist etwas Wesenhaftes der westlichen Musik; es ist keine Metapher.« Der Semiotiker Wolfgang Wildgen meint: »Melodie- und Tonhöhenbewegungen sind Wege in einer Potential-Landschaft.«
Der hörende Frühmensch
Unser Ohr ist nicht auf Beethoven oder Jazz geeicht, sondern auf die Savanne. Einige Millionen Jahre lang lebten die Frühmenschen als Jäger und Sammler – und als potenzielle Beute von Raubtieren. Unsere Augen und Ohren sind dafür gemacht, den Raum zu erkennen. Tagsüber ist dabei das Sehen hilfreicher, nachts das Hören. Im Dunkeln imaginieren wir den uns umgebenden Raum, durchmessen ihn in unserer Vorstellung. Wenn wir heute in einem fremden Haus übernachten oder nachts irgendwo im Freien zelten, schaffen wir uns hörend ein imaginäres, oft fantastisches »Bild« der Umgebung. Friedrich Nietzsche schrieb einmal: »Das Ohr […] hat sich nur in der Nacht und in der Halbnacht dunkler Wälder und Höhlen so entwickeln können, wie es sich entwickelt hat.« In der Struktur unseres Gehirns ist die Unterscheidung von Tönen, Klängen, Geräuschen tief verankert.
Die ersten Melodien und Rhythmen der Menschen entstanden aus der hörenden Begegnung mit der Umwelt, aus der Orientierung in der Landschaft und dem Gleichmaß des Gehens. Von den Aborigines in Australien heißt es, ihre Lieder seien Wegbeschreibungen. Der Philosoph Ernst Bloch charakterisierte einmal den Taktschlag in der Musik so: »Wir sind die Wandernden, es ist unser Gehen und Kommen, das in den Dingen geschieht.« Erst als der Mensch sesshaft wurde, entstanden kunstvollere Klänge. Die Musik wanderte für uns weiter – durch Fantasie-Landschaften. Noch immer assoziieren wir in der Musik unbewusst das nomadische Gehen. Wir sprechen von »andante« (ruhig gehend) und »alla marcia« (wie ein Marsch) und vom »walking bass« (Betonung aller vier Viertel). Jean Françaix verglich seine Suiten mit »Spaziergängen in einer abwechslungsreichen Landschaft«. Richard Strauss hat in seiner »Alpensinfonie« nicht die Bergwelt vertont, sondern eine Wanderung durch sie hindurch.
Semiotisches Potenzial
Wir sind es gewohnt, mit den Augen in imaginäre Welten einzutauchen. Ein Gemälde, ein Film, eine 3-D-Projektion, eine Kunstinstallation versetzen uns visuell in eine andere Realität. Genau dasselbe hat die Musik schon immer mit unseren Ohren getan. Und unsere anderen Sinne wollen teilhaben an dieser Seelenreise in ein anderes Land. Musik ist immer für eine Vielzahl von visuellen und sprachlichen Assoziationen zu haben – sie hat da viele »Andockstellen«. Als Filmmusik oder als Opernmelodie zum Beispiel kann ein und dasselbe Stück sowohl tragische wie friedliche, düstere wie hoffnungsvolle Szenen und Texte unterlegen. Die Fantasie-Landschaft der Musik ist da ebenso flexibel wie unsere Fantasie selbst. Der Musikwissenschaftler Nicholas Cook spricht von einem »Bündel semiotischen Potenzials«, das in der Musik steckt.
Im 19. Jahrhundert, als sinfonische Dichtungen und Programm-Musik in Mode waren, hat man Instrumentalmusik häufig mit Erzählungen, Romanen, Theaterstücken verglichen. Zumal die Sonatenform gerne zum dialektischen Drama überhöht wurde. Dabei ist die Sonate auch nichts anderes als ein Musikstück, das von einem Ausgangspunkt aus loswandert (von einem Thema oder mehreren) und durch einen Prozess der Durchführung, Verarbeitung oder Veränderung führt (wie kunstvoll auch immer). Das ist im Grundsatz der Bau jedes westlichen Musikstücks, selbst in Pop und Jazz, aber auch der Ablaufplan eines einfachen Spaziergangs. (Wenn das Thema am Ende wiederholt wird, zeigt das, dass wir sesshaft geworden sind und von unserem Weg heimkehren. Eine wirklich nomadische Musik würde von einem Punkt A zu einem Punkt B führen – auch dafür gibt es genug Beispiele.)
Das romantische Bild vom Musikdrama führt uns nicht weit. In der Instrumentalmusik wird nicht gestritten oder debattiert, sie hat keine verbalen Inhalte. Musik erzählt nicht, Musik argumentiert nicht, aber sie bewegt sich fort. Musik wandert – und wir mit ihr. Die Veränderungen und Gegensätze in der Musik sind die Kontraste einer musikalischen Landschaft, die wir durchstreifen. Es gibt sanfte Landschaften, aber es gibt auch bizarre, überraschende Szenerien. Und gespannt verfolgen wir, wie sie sich auf unserem Weg entwickeln.
Wandern mit dem Raumschiff
Im imaginären Gelände der Musik bewegt man sich nicht immer nur zu Fuß. Schon von Beethovens Sinfonien hieß es gerne, ihre Reise führe »per aspera ad astra« – durch das Raue zu den Sternen. Auch Seereisen oder Eisenbahnreisen gehören zu den imaginären »Wanderungen« hinter Musikstücken. Camille Saint-Saëns war ein begeisterter Tourist und ließ sich beim Komponieren gerne von Schiffsreisen übers Meer inspirieren. »Maiden Voyage« (Herbie Hancock) oder »Sea Journey« (Chick Corea) sind bekannte Jazzstücke. Ernst Bloch hörte hinter der Musik des 19. Jahrhunderts häufig Bahnfahrten – durch Bergwerke hindurch oder in Hauptbahnhöfe hinein. Zahllose Musikaufnahmen werden als »Soundtracks für einen imaginären Road Movie« beschrieben – Klang gewordene lange Autofahrten mit abenteuerlichen Stationen. In der »spacigen« Rockmusik um 1970 reiste die Musik häufig auch durch fantastische Science-Fiction-Welten, in den Makro- oder Mikrokosmos oder gar durch die Zeit.
Das »landschaftliche« Potenzial der Musik ist nicht nur das Potenzial der Komponierenden und Improvisierenden, sondern auch das der hörenden Fantasie. Viele Maler – unter den bekanntesten: Klee und Kandinsky – haben versucht, die fantastischen Welten der Musik, wie sie sie erleben, im Bild einzufangen, teils sogar die Veränderung und Bewegung suggerierend. Nicht wenige Musizierende fühlen sich selbst zur abstrakten oder halb abstrakten Malerei berufen. Es gibt Trickfilme mit Motiven von Vasarély, in denen sich die Bilder entwickeln und verschieben wie die Klänge und Strukturen in einem Musikstück. Schon der Musikkritiker Eduard Hanslick hat Musik einmal mit einer bunten Arabeske verglichen, die wie in einem Kaleidoskop, wenn man es schüttelt, ständig eine etwas andere Gestalt annimmt. Die Fantasiewelt der Musik ähnelt manchmal unseren nächtlichen Träumen, in denen wir fliegen können oder über Wasser gehen. Solche Träume sind lebenswichtig für unsere Psyche. Genauso wie die Musik.