Er hat den Ruf, der deutsche Paul Desmond zu sein. Mit seiner Band „pure desmond“ tritt der Saxofonist Lorenz Hargassner seit mehr als 20 Jahren in die Fußstapfen des Cool-Jazz-Stars von einst. Hin und wieder aber muss er ausbrechen aus seiner Rolle.
Als er sich erstmals fürs Saxofon begeisterte, war er 14 und mochte noch Popmusik. Der Song „Englishman In New York“ von Sting hatte es ihm angetan – ein Remix davon kam 1990 auch in die deutschen Charts. Branford Marsalis spielt in diesem Stück einige Füllsel auf dem Sopransaxofon, und es gibt auch eine kurze Swingpassage, in der er soliert, etwa 20 Sekunden lang. Diese Aufnahme bewirkte, dass Lorenz Hargassner das Saxofon und den Jazz kennenlernen wollte. „Aber der Lehrer in unserer lokalen Musikschule meinte, ich müsse mit der Klarinette anfangen. Und auch das ginge erst, wenn die Zahnspange weg wäre. Meine Großeltern haben mir dann eine Klarinette geschenkt, als ich 16 war, obwohl ich eigentlich nie Klarinette spielen wollte.“
Der Desmond-Kitzel
In Hargassners Elternhaus gab es nur wenige Jazz-Schallplatten. Eine dieser wenigen war Dave Brubecks „Time Out“ von 1959, eines der meistverkauften Jazzalben der Geschichte. Darauf enthalten: der Welthit „Take Five“ im 5/4-Takt mit dem berühmten Solo des Altsaxofonisten Paul Desmond (1924 bis 1977), eines Musikers mit sanftem Sound und hoher Virtuosität. Desmonds Improvisation hat den jungen Hargassner begeistert – so sehr, dass sein Vater (ein klassisch geschulter Konzertpianist) das Solo für Lorenz’ Klarinette transponiert hat. „Das habe ich dann bei einem Klassenabend mit der Klarinettenklasse und meinem Vater zusammen gespielt.“
Die Beschäftigung mit dem Cool-Jazz-Saxofonisten Paul Desmond hatte aber viel weiter reichende Folgen. Natürlich hat Hargassner bald von der Klarinette aufs Altsaxofon „umgelernt“. Und er hat während seines Studiums zahlreiche Transkriptionen von Desmonds Improvisationen und Arrangements gemacht und Solo-Analysen erstellt. „Dabei fängt man irgendwann an, auch das zu hören, was nicht da ist – die ‚ghost notes‘ zum Beispiel, die nahezu lautlos bleiben, aber für die Phrasierung notwendig sind und eine neue Logik in die Phrase bringen. Man fängt an nachzuempfinden, was der Solist empfunden hat. Es ist eigentlich eine Schande, Desmonds Sound als cool zu bezeichnen. Diese subtile Betonung mancher Noten, dieses leichte Vibrato, diese Akzentuierung bestimmter Phrasen, das Aus-sich-Herausgehen und Sich-wieder-Zurückziehen in einer Phrase – das ist schon einzigartig.“
Hochzeitskapelle im Cool-Jazz-Sound
Aus den Paul-Desmond-Studien entstand kurz nach der Jahrtausendwende auch Hargassners Projekt „pure desmond“ (in Kleinbuchstaben). „Pure Desmond“ ist der Titel einer Desmond-Platte von 1975. Nach ihr war eine Fan-Site im Internet benannt, die Hargassner häufig besucht hat – daher der Projektname. Eigentlich sollte sein Bandprojekt nur ein kleines Praxis-Experiment sein: „Ich wollte meine Desmond-Transkriptionen mit der gleichen Instrumentierung nachspielen – einfach ausprobieren, ob wir den gleichen Sound, die gleiche Atmosphäre erzeugen können.“ Noch während seines Studiums bot Hargassner das sanfte, nostalgische Desmond-Projekt als akustische Untermalung an – für Hochzeiten und ähnliche Anlässe.

Das Vorbild für „pure desmond“ ist das Paul-Desmond-Quartett mit dem Gitarristen Jim Hall. Diese Besetzung hat von 1959 bis 1966 ein halbes Dutzend Alben gemacht. Hargassners „Nachschöpfung“ dieser Musik zur Fest-Beschallung war so erfolgreich, dass seine Band in Hannover regelmäßige Club-Auftritte bekam – dabei hatte er nie vorgehabt, mit „pure desmond“ Konzerte zu geben. Auch CDs hat man dann gemacht, im Eigenverlag, um sie beim Auftritt zu verkaufen und um neue Kunden zu finden. Man begann sogar, Popsongs und Weihnachtslieder in den Desmond-Sound zu übersetzen.
Preis der Schallplattenkritik
Erst nach zehn Jahren (2012) gingen die Musiker dazu über, eigene Stücke für „pure desmond“ zu schreiben und Jazzstandards zu arrangieren – sie erschienen auf der CD „When Lights Are Low“. Das war das vierte oder fünfte Album von Hargassners „Hochzeitskapelle“ und das allererste, das „offiziell“ veröffentlicht wurde – ein aktuelles Album im Stil des historischen Cool Jazz, völlig aus der Zeit gefallen. „Ich erinnere mich an unser erstes Konzert im Hamburger Birdland“, sagt Hargassner. „Ich dachte, die Jazzpolizei würde uns kreuzigen mit unserem traditionellen Sound und unserem Schwerpunkt auf Arrangement und Komposition. Dabei haben die uns die Bude eingerannt und waren völlig begeistert. Das Album hat dann den Vierteljahrespreis der deutschen Schallplattenkritik bekommen.“
Seitdem ist „pure desmond“ für Lorenz Hargassner weit mehr als nur eine kleine Hintergrund-Mucke. „Dieses Projekt ist mittlerweile ‚meine‘ Band und mein absolutes Herzensanliegen. Es ist mir klar, dass man mich wohl immer mit Paul Desmond in Verbindung bringen wird. Und je mehr ich mich musikalisch in ihn eingefühlt habe, desto mehr habe ich auch seine Empfindungen nachvollziehen können.“ Inzwischen ist die Band beim 9. Album angekommen. Längst hat sie begonnen, Musik aus ganz verschiedenen Genres für den Paul-Desmond-Sound zu adaptieren – etwa Stücke von Madonna, Ennio Morricone oder gar John Cage. „Ich glaube, da gibt es keine Grenzen“, sagt Hargassner. „Wir klingen immer nach uns, egal was wir spielen.“
Sich neu erfinden
Die enge Identifizierung mit dem Altsaxofonisten Paul Desmond ist für Hargassner ein komplizierter Balance-Akt – man will ja als Künstler die eigene Persönlichkeit nicht opfern. „An Desmond komme ich nicht mehr vorbei. Ich habe angefangen, mein Faible für diesen Sound zu akzeptieren. Wenn ich einfach drauflos spiele, kommt eben das heraus. Aber ich will den Desmond-Sound auf meine eigene Weise interpretieren. Die Gratwanderung dabei ist, zwischen Tradition, Vorbild und der eigenen, heutigen Interpretation zu vermitteln.“
Hin und wieder probt Hargassner den Ausbruch aus der Desmond-Rolle. Etwa in Live-Konzerten mit Brave New World, der progressiven, elektrischen Jazzrock-Band des Keyboarders Adam Holzman, der u.a. mit Miles Davis und Steven Wilson gearbeitet hat. „Da erkennt man dann schon einen ganz anderen Saxofonisten in mir“, sagt Hargassner. „Es macht mir großen Spaß, mich da auch einmal ganz neu zu erfinden. Die Vorbilder loszulassen und selber zu schwimmen – das ist gar nicht so einfach.“
Zeitlos schöne Standards

Am meisten zu Hause fühlt sich Hargassner aber im swingenden Jazz. Für seinen neuesten Alleingang „ohne Desmond“ wählte er ein Programm exquisiter Jazz-Standards, die 60 oder mehr Jahre alt sind: Stücke von Ellington, Gershwin, Monk… Statt eines Gitarristen hat Hargassner hier ein Klavier dabei. Und statt seiner seit 20 Jahren eingespielten Band setzt er auf ungeprobte Spontaneität. Das Quartett, das auf dem Album „Golden Standards“ zu hören ist, hatte nämlich zuvor nie zusammen gespielt. „Wir haben im Vorfeld per E-Mail über das Programm diskutiert. Jeder konnte Lieblingsstücke vorschlagen. Aber wir haben nicht geprobt. Ich habe immer die Idee der Jamsession gemocht – die Möglichkeit, den Jazz-Spirit zu befreien und einfach das zu spielen, was du im Augenblick fühlst und hörst. Dieses Zusammen-Spielen mit anderen Leuten hat mir in der Pandemie sehr gefehlt.“
Immerhin hatte Hargassner zur Orientierung ein paar „Lieblingsversionen“ der Jazz-Standards im Kopf – und die gab er auch den Mitmusikern vorab per Spotify-Playlist zum Sich-Einhören. „Es gibt natürlich schon gute Versionen dieser Stücke“, sagt er. „Das sollte aber niemanden daran hindern, es diesen Interpreten nachzutun. Ich erlebe diese Stücke als zeitlos und klassisch schön – so wie die g-Moll-Sinfonie von Mozart oder das Klarinettenquintett von Brahms. Mit einem krampfhaft ‚zeitgemäßen‘ Arrangement würde man diesen tollen alten Kompositionen nicht gerecht werden.“