Brass | Von Klaus Härtel

Lucienne Renaudin Vary feiert Astor Piazzolla

Piazzolla
Foto: Parlophone Records Ltd / Simon Fowler

„Ohne Musik wäre ich verloren“, lacht Lucienne Renaudin Vary. Die Trompeterin ist gerade einmal 21 Jahre jung und legt nun mit den „Piazzolla Stories“ bereits ihr drittes Solo-Album vor. Darauf feiert sie den 100. Geburtstag des Tango-Nuevo-Erfinders Astor Piazzolla. Warum? Vielleicht, weil der Argentinier die Musik damals mindestens genauso liebte, wie die junge Französin heute. 

„Schon als ich klein war, mochte ich Astor Piazzolla“, erzählt Lucienne Renaudin Vary. Irgendwann einmal aber hatte sie das Vergnügen, im bekanntesten Theater Argentiniens, im Teatro Colon in Buenos Aires, zu spielen. „Und ich war nicht dort, um Piazzolla zu spielen. Aber seine Melodien waren überall und waren so inspirierend. Ich dachte also: Da muss ich mal ein Album machen – und da ist es.“ Sie lacht. 

„Seine Musik hat so viele Seiten, so viele Facetten“, sagt die mehrfach preisgekrönte Solistin. „Er nahm viele Einflüsse in sich auf – und diese Hommage an ihn soll neben seinen eigenen Kompositionen auch genau diese Einflüsse zeigen.“ Das Ergebnis: „Piazzolla Stories“ – 14 Titel, die die Hörer tief in die künstlerische Welt des legendären Tango-Nuevo-Erfinders eintauchen lassen.

Die Liste der „Geburtstagsgäste“ ist illuster: Johann Sebastian Bach, Alberto Ginastera, Nadia Boulanger, Niccolò Paganini, Carlos Gardel. Diese Namen scheinen aus voneinander weit entfernten Gebieten der Musik zu kommen, und doch vereinen sie sich in Piazzollas Person. Gardel war einer seiner größten Mentoren, Bach und Paganini verehrte Piazzolla als große Repräsentanten der europäischen Klassik und als Vorbilder, Ginastera als ersten Klassiker Argen­tiniens. Die Pariser Kompositionslehrerin Nadia Boulanger wiederum ermutigte Piazzolla, sich bei seinen Kompositionen auf seine eigenen Wurzeln zu besinnen, anstatt alte Meister zu kopieren. Und als Piazzolla all diese Elemente dann verband, hatte er den Tango Nuevo erfunden. 

Unterschiedliche Begleitungen

Mit unterschiedlichen Begleitungen vom Sinfonieorchester über das Streichquartett bis hin zur Duobesetzung mit Akkordeon und Gitarre (Richard Galliano und Thibaut Garcia) wandert ­Lucienne Renaudin Vary durch dieses reiche multistilistische Terrain und stellt den Jubilar in ein ganz neues Licht. Die Trompeterin liebt die große Vielfalt Piazzollas. „Seine Musik ist so kraftvoll und ungeheuer tanzbar. Sie ist stark, emotional und wahnsinnig gefühlvoll“, schwärmt die 21-Jährige. 

Piazzolla

Astor Piazzolla 

(*11. März 1921 in Mar del Plata; † 4. Juli 1992 in Buenos Aires) ist heute vor allem durch seine Tangos wie „Oblivion“, „Adios Nonino“ und „Libertango“ bekannt. Da der Tango damals in der argentinischen Oberschicht einen schlechten Ruf hatte, schämte sich Piazzolla in der Anfangszeit für ­seine Werke. Als er 1954 nach Paris ging, um bei Nadia Boulanger Komposition zu studieren, verschwieg er ihr, dass er bereits mehrere Tangos komponiert und gespielt hatte und präsentierte ihr seine klassischen Kompositionen, die von Ravel, Bartók und Strawin­sky beeinflusst waren. Boulanger war diejenige, die Piazzolla darin bestärkte, weiterhin Tangos zu komponieren, da seine ei­gene Handschrift hier besonders gut hervorkomme. Als Piazzolla nach Argentinien zurückkehrte, erfand er den „Tango Nuevo“. Er veränderte Rhythmik, Harmonik und Tempi; hinzu kamen Stile aus der ­Barockmusik wie der Kontrapunkt und die Fugenform sowie Elemente aus dem Jazz.

Ob es schwer ist, zwischen den einzelnen Stilen hin und her zu schalten? Sicherlich nicht, meint Lucienne. „Seit ich jung bin, mache ich das. Es ist Musik!“ Die Trompeterin zuckt mit den Schultern. „Warum sollte es den Ansatz zerstören, wenn ich heute Klassik und morgen Jazz ­spiele?“ Das seien schlicht zwei verschiedene Sprachen. „Du zerstörst ja auch nicht dein Französisch, wenn du ab und zu Deutsch sprichst.“

Nun möchte Lucienne Renaudin Vary eben Piazzolla repräsentieren. „Ich versuche es zumindest“, lacht sie. „Ich hoffe, dass die Leute dies merken.“ Piazzolla sei ja nun einmal kein Trompeter gewesen, doch „wir haben wahnsinnig gute Arrangements auf dieser Platte. Die meisten hat Jérôme Ducros geschrieben. Ich bin mir sicher, dass Piazzolla die Trompete gemocht hätte, denn sie ist sehr melodisch, gesanglich.“

„Ich merke, wenn es zur Trompete passt“, sagt Lucienne

Es ist aber nicht so, dass Lucienne Musik hört und ständig daran denkt, wie man das nun mit der Trompete interpretieren könnte. Behauptet sie. „Ich genieße in erster Linie Musik. Ich mag lyrische Dinge. Aber doch: Ich merke sofort, wenn es zur Trompete passt.“

Astor Piazzolla hatte ein sehr bewegtes Leben, war viel unterwegs – New York, Buenos Aires, Paris, Italien. „Ich denke, dass man diese Erfahrungen in seiner Musik hört, die spricht für sich. Hinter der Musik steht ein Mensch.“ Auch Lucienne Renaudin Vary ist immer in Bewegung. „Ich will mich verändern. Ständig. Dieses aktuelle Album etwa ist sehr anders als das davor.“ Die Musik ist ihr die größte Motivation. Gerade „in diesen Zeiten“. Sie liebe es, auf der Bühne zu stehen, sagt sie, und Musik mit echten Menschen zu teilen. Doch selbst wenn es gerade keine Konzerte gebe – „die Musik ist ja trotzdem da. Ich kann auch in meinem Schlafzimmer Trompete spielen.“

Und doch vermisst sie Reisen. Seit sie neun Jahre alt ist, spielt sie Trompete. Und seit dem ersten Tag wusste sie, dass sie das beruflich machen will. Ob der „Musikerberuf“ zuvorderst Talent oder harte Arbeit ist ? „Ich weiß es wirklich nicht“, erklärt sie. Eines aber weiß sie: „Du musst die Musik lieben. Und dein Instrument.“ Lucienne ist sich sicher, dass „genug Platz für jeden Trompeter, ja für jeden Menschen auf dieser Welt ist. Ich sehe das nicht als Wettbewerb.“ Sie macht das, was sie macht, einfach gerne. „Wenn das mal nicht mehr der Fall sein sollte, höre ich sofort auf“, erklärt sie. Unvorstellbar im Moment. Denn „ohne Musik wäre ich verloren“.