„Manhattan Pictures“ ist ein abwechslungsreiches, farbenfrohes und anspruchsvolles Werk des belgischen Komponisten Jan Van der Roost aus den 1990er Jahren. Stefan Kollmann stellt es vor.
Die europäische Blasmusik heute ist geprägt von einer Generation von Komponisten, die während der vergangenen Jahrzehnte das Repertoire erheblich bereicherten und mit bedeutsamen und interessanten Originalkompositionen erweiterten. Einer der wichtigsten Vertreter dieser Generation ist zweifellos Jan Van der Roost.
Die Komposition
Der Untertitel verrät das Konzept: „4 Mosaics for Concert Band“ – vier Sätze sollen, wie bei Mosaiken durch Zusammenfügen der Einzelstücke, ein Gesamtbild entstehen lassen. Dabei handelt es sich hier um vier fiktive Mosaikteile, die das Besondere an Manhattan, das multikulturelle, das unentwegt lebendige, das pulsierende, das hektische Leben in diesem besonderen Stadtteil New Yorks darstellen sollen.
Der erste Satz
Gleich in den ersten Takten des ersten Satzes (Allegro deciso) lässt der Komponist fremdartige Klänge und Abläufe entstehen. Klarinetten, Fagotte, Klavier, Marimba und Tempelblocks sorgen für eine eher asiatisch eingefärbte Klanggrundlage. Hinzu kommt die Tatsache, dass durchlaufend Achtelnoten zu spielen sind, die aber absolut ungleichmäßig betont werden: mal auf der Zählzeit 2+, dann auf 1+, auf 3 oder 4+; immer wieder etwas versetzt und damit spannend und diffizil. Zusätzlich wird die Zählzeit 1 durch Trompeten, Flöten, Es-Klarinette, Pauke und Xylofon mit zwei Sechzehntel- und einer Achtelnote hervorgehoben. Eine punktierte Viertelnote f mit Achtel und angehängter ganzen Note erklingt in Oboen und Hörnern, die Posaunen mit Dämpfer spielen ganze Noten mit fortepiano auf b, c, f. Saxofone, Bassklarinette und Bariton jeweils nur eine Achtelnote auf den Posaunentönen.
Alles in allem ist dies ein furioser Einstieg in eine quirlige und aufgewühlte Szene des berühmtesten Stadtteils der Millionenstadt. Immer wieder erklingen voluminöse, fast jazzartige Blechbläser-Einwürfe und Passagen, die die musikalische Vielfalt von Manhattan darstellen sollen. Dazu passen dann auch die häufigen Taktwechsel: 7/8-, 4/4-, 2/4- und 6/8-Takte wechseln sich ab und lassen dadurch viel Bewegung und rhythmische Vielfalt entstehen. Unterschiedliche, sehr geschickt eingesetzte Klangfarbenwechsel sorgen für enorme Abwechslung und spannende Höreindrücke. Ein kraftvoller und energiegeladener Anfang, der mit einer prächtigen, glänzenden, lang auszuhaltenden F-Dur-Fermate im Blech endet.
Der zweite Satz
Die Idee des zweiten Satzes (Vivace) lässt sich mit der Überschrift „Minimal-Music“ gut beschreiben. Die Klarinetten 2 + 3 beginnen im ¾-Takt jeweils mit drei Achtel (notiert c, d, e) in Oktaven und rhythmisch versetzt und zwar so, dass die 3. Klarinetten ihre drei Achtel und dann ab Zählzeit 2+ die 2. Klarinetten ihre drei Achtel spielen. Vier Takte werden wiederholt, bevor das Englischhorn, die Fagotte (in den Posaunen gibt es dafür Stichnoten, falls diese Instrumente nicht anwesend sind) und die Harfe mit einer Mischung aus Viertel- und Halbenoten in B-Dur für eine weitere Klangebene sorgen.

Nach weiteren vier Takten steigen die Alt- und Tenorsaxofone mit punktierten Rhythmen ein. Ab Takt 13 umspielen die Flöten inklusive der Piccoloflöte das Klanggeschehen mit Achtelbewegungen, die allerdings in Fünfergruppen angeordnet sind. Sie werden dann von der Trompetengruppe, die mit Dämpfer Viertel, Achtel und punktierte Rhythmen spielt, unterstützt. Vier Takte später kommen mit ähnlichen rhythmischen Abläufen die Oboen dazu.
Bassklarinette, Kontrabassklarinette, Kontrabass und eine Tuba steigern den Energieaufbau mit Achtel- und Viertelnoten, die sich aber immer rhythmisch verschieben. Die restlichen Orchesterinstrumente wie Baritonsaxofon, Bariton (mit Dämpfer), Klavier, Stabspiele, Snare Drum und 1. Klarinette werden zur weiteren Steigerung hinzugefügt, alle mit unterschiedlichen rhythmischen Varianten, bis in Takt 44 ein klangvolles, glänzendes Minithema in den Hörnern und Posaunen erklingt. Das führt zu einem großartigen Klangmix und einem orchestralen Höhepunkt, der wiederum ab Takt 76 in einem kleinen Thema in den Hörnern, Posaunen und Tuben mündet. Ab Takt 80 hören wir fast die gleiche rhythmische Klangkonstruktion wie zu Anfang, nur immer mehr reduziert, das heißt: Es setzen immer mehr Instrumente nach und nach aus, bis im letzten Takt nur noch Piccolo und Fagott jeweils eine Achtel Note b, vier Oktaven versetzt, intonieren. Ein besonders kreativer und äußerst spannend gestalteter Satz.

Infobox
- Manhattan Pictures wurde 1993 mit einer Widmung für Dirk Brossé (ebenfalls belgischer Komponist und Dirigent) komponiert und 1994 vom de Haske Verlag publiziert.
- Das Werk umfasst vier Sätze, die nur mit musikalischen Tempoangaben versehen sind. Durch die Abfolge der vier fiktiven Mosaikteile soll ein Gesamteindruck des multikulturellen New Yorker Stadtteils »Manhattan« präsentiert werden.
- Besonderheiten bei der Besetzung: Englischhorn, Kontrabassklarinette, Klavier, Harfe, (die leider in der Partitur nicht notiert sind!), Celesta (ad lib.), Marimbaphon, mind. 6, besser 7 Schlagzeuger:innen mit relativ viel Stabspiel.
- Insgesamt 405 Takte, kein permanent tonaler Bezug, verschiedene Modulationen, letzter Satz Abschluss in C-Dur.
- Schwierigkeitsstufe 4-5
- Dauer insgesamt ca. 13 Minuten
Der dritte Satz
Wenn man den dritten Satz (Mesto) betiteln möchte, würde sich die Überschrift »Filmmusik-Ballade« am ehesten eignen. Ein sehr ruhiges, fast schon wiegendes Tempo (Mesto = betrübt, traurig), das durch Achtelbewegungen in den 2. und 3. Klarinetten und Hörnern eingeleitet und ab dem 2. Takt durch die Harfe und Bassklarinette ergänzt wird, bildet die Grundlage für diesen langsamen Satz. Die 2. und 3. Flöte mit ganzen Noten im Terzabstand, Fagotte im Dezimab-stand, die erste Klarinette mit einem Tremolo sowie Posaunen mit Dämpfer und Vibrafon, Triangel und Tam-Tam lassen eine skurrile Klangebene entstehen, auf der sich dann spannende Soli kraftvoll und verspielt entfalten können.
Den Anfang macht ab Takt 3 die Flöte in einem langsamen ausdrucksstarken Solo, das nach neun Takten in einem Triller endet, der „Ribatutta“, also langsam beginnend und schließlich schneller, ausgeführt werden soll. Die Klangfarben wechseln etwas und ein mitreißendes Klarinettensolo erklingt, das ein wenig an einen „Gershwin“-Blues erinnert. Die Passage wird abgerundet durch ein kurzes Oboensolo, das durch einen Einschnitt kurz unterbrochen wird und in einen kleinen Wiederholungsteil mündet, der die Solisten von vorher nochmal in Szene setzt.
Allerdings jetzt mit der Unterstützung der Harfe und später mit Glockenspiel und Celesta. Ab Takt 24 erklingt ein klangprächtiges, berauschendes Tutti, indem das Flötensolo vom Anfang jetzt in allen Flöten, der Es- und 1. Klarinette und den Altsaxofonen zu hören ist. Eine kurze Hornmelodie, die vom Klarinettensatz und anschließend von den Trompeten und Posaunen mit Dämpfer abgelöst wird, leitet über in den Reprisenteil, in dem das Klarinettensolo wiederholt wird und in einem auskomponierten „fade out“ geschmackvoll und kreativ ausklingt.
Der vierte Satz
Der letzte und vierte Satz (Presto) ist eine Hommage an die US-amerikanischen Komponisten Bernstein und Gershwin. Der Verlag schreibt dazu: „Der nervöse und dynamische Charakter der ersten zwei Teile kehrt mit einer reichen und manchmal ungewöhnlichen Instrumentation in ein fesselndes Finale zurück.“ Flöten und Bassklarinetten ereifern sich im Oktavabstand in einer jazzartigen Melodielinie, die immer wieder unter anderem von aufwirbelnden Percussionseinwürfen unterbrochen wird. Leicht veränderte rhythmische Pattern wechseln sich in den Holz- und Blechbläsern ab, wobei die Instrumentation und die Effekte wie Taktwechsel, Triller, fp und Akzentverschiebungen für große Abwechslung sorgen.
Ab Takt 97 erreicht man dann einen „Meno mosso“-Abschnitt , der in seiner Konzeption an einen bayrischen Zwiefachen erinnert. 2/4-Takte wechseln sich mit 6/8-Takten ab und werden durch 5/8 und 3/8 komplettiert. Ein sehr witziger Einfall, der zu Recht mit der Bezeichnung „Ironico“ überschrieben ist. Weitere rhythmisch betonte Abschnitte in den Holz- und Blechbläsern folgen, die nach und nach zu einem fulminanten Finale „Più mosso“ ab Takt 153 überleiten. Jetzt sind alle Register quasi außer Rand und Band. Starke Blechbläserfanfaren (Hörner: „Bells up“), trillernde Holzbläsergruppen und wirbelnde Percussions-Passagen streben zu einem „affrettando al fine“, einem immer schneller werdenden Schlussteil, der seinen Höhepunkt in einer strahlenden, triumphalen C-Dur-Fermate im Blech findet.
Eine fantastische Komposition
Eine fantastische Komposition, die hervorragend die klangliche Vielfalt eines konzertanten oder sinfonischen Blasorchesters aufzeigen kann und zudem ideal für Wettbewerbe, Wertungsspiele und Konzerte geeignet ist. Jan Van der Roost hat mit „Manhattan Pictures“ ein großartiges und packendes Werk kreiert, das allen Musikerinnen und Musikern und, ich finde das sehr wichtig, auch dem Publikum große Freude bereiten wird!

Der Komponist
Jan Van der Roost wurde 1956 im belgischen Duffel geboren. Schon in jungen Jahren kam er mit den prominenten Namen der Musik für Blasorchester, Fanfarenorchester und Brass Band in Berührung, was ihn dazu inspirierte, selbst zu komponieren. Er studierte Posaune, Musikgeschichte und Musikpädagogik am Lemmens-Institut in Leuven (Löwen). An den Königlichen Konservatorien von Gent und Antwerpen qualifizierte er sich in weiterführenden Studien zum Dirigenten und Komponisten.
Beim Komponieren deckt seine Kreativität eine große Bandbreite an Genres und Musikstilen ab. Sein musikalisches Schaffen umfasst u.a. zwei Oratorien, ein Gitarrenkonzert, jeweils ein Solokonzert für Trompete, Klarinette und eine Komposition für zwei Klarinetten und Sinfonieorchester, zahlreiche Werke für Brass Band, Fanfarenorchester und Blasorchester.