Wood | Von Hans-Jürgen Schaal

Marius Neset: Musik gibt mir Energie!

Marius Neset
Foto: Roar Vestad

Die Presse spricht vom „Saxofonwunder“ (The Telegraph), von einer „neuen Dimension“ (Süddeutsche Zeitung) des Saxofonspiels. Mitten in der zweiten Corona-Welle hat Marius Neset (36) nun sogar ein un­begleitetes Saxofon-Soloalbum aufgenommen. Der Titel: „A New Dawn„.

Eigentlich geht die musikalische Fantasie des norwegischen Tenorsaxofonisten ins Große, ins ganz Große. Über die Jahre sind die Ensembles seiner Projekte daher ständig weiter gewachsen – vom Quartett zum Oktett, zur Bigband, zum Kammerorchester. Neset machte Alben mit dem Trondheim Jazz Or­ches­tra, der Danish Radio Big Band, der London Sinfonietta. In seiner sensationellen Musik packt er viele Schichten übereinander und zündet dann einen mörderischen Groove. 

„Das Schwierigste für mich wäre, ein Album mit Jazzstandards zu machen“, sagt Marius Neset bescheiden. „Es gibt schon so viele tolle Versionen des American Songbook – ich müsste es auf meine ganz eigene Art angehen. Deshalb ist es für mich in gewisser Weise einfacher, meine eigene Musik zu spielen, weil niemand zuvor sie je gespielt hat.“

Doch die Pandemie hat auch ihn ausgebremst. Im Januar 2021 stand Marius Neset ganz allein im Studio OSLO:Fuzz in der norwegischen Hauptstadt. Ein Soloalbum – das hatte eigentlich nicht auf seiner Agenda gestanden. „Einige dieser Stücke wurden fürs Solo-Saxofon geschrieben, andere für eine Combo, einige sogar für Sinfonieorchester“, sagt Neset. „Aber alle begannen – beim Komponieren – als Solostücke am Saxofon.“ 

Wie fing es eigentlich bei Ihnen an – mit dem Jazz und dem Saxofon?

Marius Neset: Meine Familie ist musikalisch, fast jeder spielt bei uns ein Instrument. Mit fünf, sechs Jahren fing ich mit Schlagzeug und Klavier an, und etwa mit neun geriet ich an den Jazz und ans Saxofon. Mein Onkel spielt Klarinette und Saxofon, und das hat mich wahrscheinlich inspiriert. Ich hatte dann einen großartigen Lehrer. Ich erinnere mich, dass er zu einer meiner ersten Saxofonstunden die Noten von „Donna Lee“ mitbrachte. Mein Vater hat mir noch am selben Tag eine Charlie-Parker-Platte kaufen müssen. Einen Monat lang habe ich dann versucht, dieses Stück nachzuspielen.

Gab es ein Vorbild auf dem Tenorsaxofon?

Meine ersten Vorbilder im Jazz waren Charlie Parker (Altsaxofon) und die Brecker Brothers. Aber mein Vater kaufte immer eine Menge Schallplatten, die ich zu hören bekam. Als ich ­anfing, Jazz zu hören, waren darunter auch viele Scheiben von John Coltrane, Sonny Rollins oder Wayne Shorter. Michael Brecker wurde mein großer Held, als ich ein Teenager war, und ich versuchte, zu seinen Platten mitzuspielen. Sein Stück „Delta City Blues“ [1998, mit unbegleitetem Saxofon-Intro] hat mich inspiriert, Saxofon-Solostücke mit großen Intervallen zu komponieren. Es soll klingen, als wäre man gleichzeitig Bassist und Solist.

Sie sind nicht nur ein virtuoser Saxofonist, sondern auch ein herausragender Komponist. Wollen Sie in Ihren Projekten immer beides sein? Oder schreiben Sie eines Tages vielleicht eine Sinfonie für, sagen wir, die Berliner Philharmoniker?

Zu einem solchen Angebot würde ich sicherlich nicht Nein sagen! Tatsächlich habe ich gerade mein erstes Orchesterstück geschrieben, bei dem ich nicht selbst mitspiele. Aber bei der ­Premiere im Publikum zu sitzen anstatt auf der Bühne, das hat mir Angst gemacht. Ich spiele einfach viel zu gerne, um nur Komponist zu sein. Deshalb war es etwas ganz Besonderes für mich, als ich vor kurzem mein erstes Saxofonkonzert selbst aufführen konnte – mit den Philharmonikern von Bergen unter Ed Gardner. Wenn ich für mich selbst schreibe, greife ich beim Komponieren ständig nach meinem Saxofon. Ich glaube, dass die Musik dann persön­licher wird.

Bei Ihren Solostücken auf dem neuen Album hat man oft den Eindruck, mehrere Instrumente zu hören – so schnell wechseln Sie zwischen den Registern. Stellen Sie sich eine ganze Band vor, auch wenn Sie unbegleitet spielen?

Ja, genau. Und ich muss als Solist natürlich anders spielen, als wenn ich Begleiter hätte. Ich bin verantwortlich dafür, dass die Harmonien und Rhythmen deutlich herauskommen. Ich spiele also quasi gleichzeitig Bass, Schlagzeug, Klavier und Saxofon. Die Herausforderung ist, ­etwas abzuliefern, das musikalisch interessant ist und als Solostück einen Sinn ergibt. Wenn ich allein spiele, kann ich viel dynamischer agieren, kleine Effekte einbauen, etwa ganz sanfte Multiphonics oder Vierteltöne, die in einer Band gar nicht zur Geltung kämen. Ich kann auch Atem­geräusche einsetzen für Grooves und Effekte. Ich denke, Solokonzerte werden mich als Saxofonisten weiterbringen.

Mir gefällt, wie Ihr Saxofon hier aufgenommen wurde. Es klingt für mich als Hörer, als hätte ich das Instrument selbst in der Hand.

Ja, ich war in einem wirklich klasse klingenden Aufnahmeraum. Daniel Wold machte einen super Sound. Ich weiß nicht mehr, was für ein Mikrofon es war, aber es klang alles richtig warm und satt. Ich wollte, dass wir all die kleinen Geräusche der Klappen und des Atmens einfangen, aber dass es dennoch groß und kräftig herauskommt.

Die meisten dieser Solostücke sind richtig schwer zu spielen. Befeuert Ihre Virtuosität Ihr Komponieren – oder ist es umgekehrt?

Beides. Ich verwende das Saxofon ständig, wenn ich komponiere. Auch für mich sind die Stücke nicht leicht zu spielen. Aber viele der Themen spiele ich seit Jahren. Auf manche habe ich eine Menge Übung verwendet, deshalb ist es nicht mehr ganz so schwer für mich. Ich habe das Gefühl, dass ich mit ihnen alles anstellen kann, was ich will – und ab diesem Punkt kann interessante Musik entstehen.

Marius Neset, könnten Sie sich vorstellen, einige dieser Stücke als Saxofon-Etüden auszuarbeiten?

Viele von ihnen sind tatsächlich richtig ausgearbeitet und niedergeschrieben. Ich überlege mir, die Noten zu veröffentlichen, sodass andere Saxofonistinnen und Saxofonisten sie spielen können. Die meisten Stücke sind auch für mich gute Übungen. „Old Poison (XI)“ zum Beispiel ist eine sehr gute Übung für Obertöne, große Intervalle, das Timing, auch für Polyrhythmen. Es werden hier ständig Achtelnoten in Fünfer- und Dreiergruppen gegeneinander gespielt. Wenn ich das mit dem Metronom übe, kann ich damit mein Timing verbessern. 

Sie kommen aus einem Land mit einer großen Musiktradition – Klassik, Folk, Jazz. ­Inwiefern inspiriert Sie die norwegische ­Musik?

Ich habe von klein auf die Musik von Edvard Grieg, Ole Bull und anderen großen norwegischen Komponisten gehört und gespielt. Auch einige norwegische Volksmusik. Das hatte sicherlich Einfluss auf mich. Die Musik, die man als Kind hört, bleibt einem wohl ein Leben lang erhalten. Auch in meiner aktuellen Musik kommen oft noch Sachen zum Vorschein, die ich mit meinen Eltern zu Hause vor 30 Jahren gespielt habe.

Während der Pandemie wurden nicht we­nige Solo- und Duo-Alben veröffentlicht, leider darunter viele langweilige. Ihres ist für mich die große, strahlende Ausnahme. Woher kommt Ihre Power?

Danke, das höre ich gerne. Wenn ich zum Saxofon greife, um zu üben, ist das immer ein wenig, als würde ich eine andere Welt betreten. Wenn ich inspiriert bin, vergesse ich alles um mich ­herum und spiele einfach nur. Ich versuche aus allem, was ich im Übungsraum spiele, Musik zu machen, selbst wenn ich nur Grundlagen übe, etwa die chromatische Tonleiter. Für mich ist Musik eine tiefergehende Art zu kommunizieren, weshalb es manchmal auch so schwer ist, sie in Worten zu beschreiben. Wenn sich die Musik entwickelt, gibt mir das eine Menge Energie. Wenn ich ein ganzstündiges Solokonzert gebe, was natürlich körperlich anstrengend ist, lässt mich die Musik selbst die ganze Anstrengung vergessen. Dann ist mir nur wichtig, mit meinem Spiel eine Geschichte zu erzählen.

Ohne die Pandemie hätten Sie wahrscheinlich gar kein Soloalbum gemacht, sondern etwas ganz anderes.

Ich hatte das Glück, verschiedene Projekte verwirklichen zu können, etwa das erwähnte Saxofonkonzert mit den Bergener Philharmonikern. Absagen musste ich Projekte mit Musikern aus verschiedenen Ländern, weil das mit dem Reisen so schwer war. Ich arbeite jetzt an einem sehr aufregenden Projekt mit einer neuen Gruppe von Musikern aus Großbritannien und Schweden. Darauf freue ich mich sehr, sobald die Pandemie vorüber ist. Hoffentlich können wir 2022 auf Tour gehen.