Manche sagen, er habe aus der Not eine Tugend gemacht. Denn Miles Davis (1926 bis 1991) war – spieltechnisch gesehen – nicht der großartigste Trompeter. Doch sein klarer Sound und sein sparsamer Stil eroberten die Ohren der ganzen Welt.
Seine Lehrer hatten viel an dem Anfänger auszusetzen: „Du bist der schlechteste Trompeter, den ich kenne.“ Auch Bigband-Kollegen waren mit dem Youngster unzufrieden: „Er klang furchtbar, er konnte überhaupt nicht spielen.“ In der virtuosen Bebop-Combo von Charlie Parker versuchte sich der junge Miles vor temporeichen und technisch anspruchsvollen Herausforderungen möglichst zu drücken. Bei seiner ersten Plattensession mit Parker (1945) ließ er sich zum Beispiel im Uptempo („Koko“) von dem versierteren Dizzy Gillespie vertreten. Dennoch bestand Parker darauf, dass Miles festes Mitglied in seiner Band wurde. Denn die reduzierte, vorsichtige, lyrisch-melodische Art, in der Miles improvisierte, bildete einen effektvollen Kontrast zu Parkers explosiven Saxofonläufen.
Einer, der schon früh bemerkte, welche Qualitäten in Miles Davis steckten, war der französische Schriftsteller, Jazzkritiker und Jazztrompeter Boris Vian (1920 bis 1959). Über Parkers „Now’s The Time“ schrieb Vian 1949, das Solo von Miles Davis darin sei „einer der großen Momente des Bebop“. Treffend bescheinigt er Miles’ Spiel hier „eine vollkommene Entspanntheit“, eine „wahrhaft besänftigende Gelöstheit und Hingabe“. Seine kurze Improvisation besitze eine neue und präzise innere Logik, sein Ton eine „wundersame Sonorität, recht nackt und kahl, fast ohne Vibrato“: „Er bewegt sich fast ausnahmslos in einem mittleren Register.“ Mit anderen Worten: Eingesperrt in den Hochleistungs-Käfig des Bebop, verweigerte Miles Davis einfach das virtuose Funktionieren-Müssen. Seine Phrasierung war sparsam, ließ Pausen, schuf Emotion. Sein Solo in „Now’s The Time“ kündigte bereits den Cool Jazz an.
Wie auf Eierschalen
Mitte der 1950er-Jahre hat Miles Davis seinen Sound und sein Spiel perfektioniert – nicht im Sinne von technischer Virtuosität, sondern im Sinn einer Selbststilisierung. Ein wichtiger Einfluss war dabei der Pianist Ahmad Jamal, der eine eigene Art besaß, sparsam zu phrasieren, mit intelligenten Pausen. Auch Miles Davis versuchte, Raum zu lassen, nackte, asketische Phrasen zu spielen, mit einem nackten, asketischen Trompetenklang. „Am Sound erkennt man ihn wie nur wenige Trompeter sonst“, schreibt der Jazzkenner Peter Niklas Wilson. „Die singulär lyrisch-fragile, doch dabei nie sentimental-rührselige Qualität seines Tons war es, die ihn zur Ikone machte.“
Miles Davis selbst sagte: „Du musst den wichtigsten Ton herauspräparieren, den Ton, der den Sound nährt.“ Seine Trompete schien immer wie aus dem Nichts zu kommen – mit wenigen Tönen, mit diesem dunklen Klang. Als er 1955 den Harmon-Dämpfer für sich entdeckte, gab er seinem ikonischen Spiel noch eine zweite Klangfacette. Man verglich seinen Sound mit einem Mann, der auf Eierschalen geht.
Miles Davis wird zu einem der weltweit populärsten Jazzmusiker
Die Suggestivkraft seines Trompetenspiels machte Miles Davis in den späten Fünfzigern zu einem der weltweit populärsten Jazzmusiker. Auch der französische Filmemacher Louis Malle (1932 bis 1995) war von dieser Ästhetik angetan. Malle und Miles lernten sich 1957 in Paris kennen. Miles erzählt: „Er sagte, er habe meine Musik schon immer gemocht – und ob ich nicht die Musik zu seinem Film ‚Fahrstuhl zum Schafott‘ schreiben könnte? Da es um einen Mord ging und der Film als Thriller gedacht war, ließ ich die Musiker in einem alten, sehr düsteren, dunklen Gebäude spielen.“ Miles’ Quintett improvisierte damals direkt zu den vor ihren Augen ablaufenden Szenen dieses makabren „film noir“. Peter Niklas Wilson schreibt: „Wenige Soundtracks haben die Verwendung des Jazz im Film so definitiv geprägt wie diese Musik. Und wenige Filme haben so definitiv dazu beigetragen, dem Jazz die Semantik von Urbanität, Ausweglosigkeit, Verbrechen aufzuprägen wie Louis Malles ‚Fahrstuhl zum Schafott‘.“
Inszenierung eines Sounds
Miles Davis’ Trompetenspiel birgt das Geheimnis aller guten Filmmusik: die emotionale Suggestionskraft, die nicht zu viel festlegt, sondern der Ausdeutung durch den Hörer Raum lässt. Viele Miles-Davis-Alben funktionieren ganz ähnlich wie Soundtracks. Ein großer Komponist war Miles Davis nie. Aber er war sehr gut darin, vorliegendes Material harmonisch und melodisch zu reduzieren, einen lyrischen Kern herauszuschälen. Unzählige Balladen hat er auf diese Weise im Jazz populär und zu sogenannten „Standards“ gemacht. Viele seiner Platten waren im Grunde effektive „Inszenierungen“ für sein Trompetenspiel. Ob der sparsame akustische Cool-Jazz-Sound, ob Gil Evans’ Orchesterpartituren („Porgy and Bess“, „Sketches of Spain“), ob die Electric-Fusion-Konzepte um 1970 („In a Silent Way“, „Bitches Brew“) oder auch spätere Klangwerke, die für Miles gefertigt wurden („Siesta“, „Amandla“): Immer ging es darum, für diese einzigartige Instrumentalstimme einen Rahmen, eine Bühne zu schaffen.
Miles’ Aufnahmen werden noch heute häufig verwendet, um Filmszenen aller Art zu unterlegen. Auch an mehreren spezifischen Filmmusik-Projekten war der Trompeter später noch beteiligt. Für einen Dokumentarfilm über den Boxer Jack Johnson ging er 1970 mit seiner Fusion-Band ins Studio. Der Bassist Marcus Miller schrieb für den Film „Siesta“ (1987) eine Musik, die von Gil Evans’ Orchestersprache inspiriert ist – als Begleitung für Miles Davis’ unverkennbares Trompetenspiel.
Ganz auf Miles Davis zugeschnitten
Für den Jazzfilm „Dingo“ (1991), in dem Miles auch eine Schauspielerrolle übernahm, fertigte Michel Legrand die Filmmusik – auch sie ganz zugeschnitten auf Miles’ Trompete. Legrand verstand es, so Peter Niklas Wilson, „jenen Miles aus der Reserve zu locken, den die meisten Fans hören wollen: den Harmon-Mute-Miles der späten Fünfziger.“
Auch für den Film „The Hot Spot“ (1990) – eine Hommage an den Stil des alten „film noir“ – konnte man Miles Davis gewinnen. Im Rahmen bodenständiger Urban-Blues-Musik (John Lee Hooker, Taj Mahal) entfaltet er hier noch einmal seine suggestive Trompetenkunst. „Davis’ Harmon-gedämpfte Trompete bildet den perfekten Widerpart“, schreibt Wilson. Die Musikexperten von AllMusic nennen den Soundtrack zu „The Hot Spot“ „eine wunderbare Musik, für die der Zuhörer dem schlechten Film dankbar sein sollte.“
Trompete im Klangraum
Die einsame, spärliche, scheinbar weltentrückte, nichts und alles sagende Trompete in einem eigens für sie geschaffenen Klangumfeld – das wurde (weit über Miles Davis hinaus) zu einer dauerhaften Erfolgsformel für filmische Suggestivkraft. Der Amerikaner Mark Isham zum Beispiel ist mit seiner Trompete (die er auch elektrisch verstärkt spielt) und seinen Synthesizern erst zum New-Age-Star und dann zu einem der wichtigsten Filmkomponisten Hollywoods aufgestiegen. Natürlich weiß er, was er Miles Davis verdankt: 1999 widmete er ihm das Album „Miles Remembered: The Silent Way Project“.
Auch der polnische Trompeter Tomasz Stańko (1942 bis 2018) war talentiert darin, sein Instrument filmeffektiv einzusetzen – dies schon als Solist beim Soundtrack-Komponisten Krzysztof Komeda. „Ich schreibe gar nicht viel Filmmusik“, sagte mir Stańko in einem Interview im Jahr 2009. „Man holt mich nur, wenn sie meine Art von Stimmung brauchen können. Miles war mein erstes Idol – vor allem als Person, seine Philosophie, sein Charisma. Bei ihm galt: Das Wichtigste ist die Einfachheit. Ich kann dir nicht sagen, warum Einfachheit so wichtig ist. Vielleicht, weil sie unser Ego reduziert. Miles spielte manchmal nur einen einzigen Ton und überließ den Rest seiner Band.“