Wood | Von Hans-Jürgen Schaal

Mitch Miller. Oboist, Populist, Produzent

Oboist
Pressefoto mit Tänzerinnen der Fernseh-Show "Sing Along with Mitch" (Foto: NBC Television)

Der Komponist Virgil Thomson nannte ihn einen „absolut erstklassigen Oboisten“. Doch nicht für seine Sibelius- und Mozart-Aufnahmen wurde Mitchell William Miller (1911 bis 2010) berühmt, sondern als Produzent und Vermarkter von Popmusik. Für die einen war er der erfolgreichste A&R-Manager seiner Zeit, für die anderen ein Agent des Teufels.

Wenn amerikanische Kinder auf die ­Junior High School kommen, erhalten sie dort ein Musikinstrument – dabei hat der Zufall schon manche Karriere begründet. Als Mitch Miller einst an die Reihe kam, war an seiner Schule nur noch die Oboe übrig. Doch er blieb dabei – und schon als 15-Jähriger durfte er mit dem Syracuse Symphony Orchestra auf­treten. Sein Studium an der Eastman School of Music in Rochester schloss er 1932 „cum laude“ ab. Miller spielte die Oboe danach in Sinfonie- und Unterhaltungsorchestern, war 1935 bei der Broadway-Premiere von Gershwins „Porgy and Bess“ beteiligt und 1938 bei der Radioproduktion von Orson Welles’ „Krieg der Welten“. Er machte auch Aufnahmen unter Stokowski und Kostelanetz und arbeitete mit dem Budapest String Quartet.

Zu den Highlights seiner Klassik-Karriere ge­hören Plattenaufnahmen von Dvořáks „Aus der Neuen Welt“ (wo er das legendäre Englischhorn-Solo im Largo-Satz spielt) und Mozarts Oboenkonzert (mit ihm als Solisten). Auch bei der US-­Premiere von Richard Strauss’ Oboenkonzert 1948 war Miller der Solist. Dabei hätte eigentlich John De Lancie den Part spielen sollen, schließlich hatte De Lancie Strauss zu dem Konzert angeregt – er war 1945 als amerikanischer Soldat in Garmisch stationiert gewesen. Da De Lancie aber nur 2. Oboist der Philadelphia Symphony war, konnte er den 1. Oboisten, seinen Lehrer Marcel Tabuteau, nicht übergehen. Also wählte er eine diplomatische Lösung und übergab die Premiere an Mitch Miller. „Miller war zu dieser Zeit einer der zwei oder drei größten Oboisten der Welt“, sagt der Komponist Virgil Thomson. 

Der Pop-Produzent

Schon 1932 war Mitch Miller zum Sinfonie­orchester der CBS gestoßen, die damals noch ein reiner Radiobetrieb war. Hier sammelte der Oboist eine Menge Erfahrungen und übernahm immer mehr leitende Aufgaben. So wurde das Label Mercury auf ihn aufmerksam und holte ihn 1948 als A&R-Manager für Klassikproduktionen, zum Beispiel mit dem Fine Arts Quartet. Weil das gut funktionierte, wurde Miller sogar zum Direk­tor der Popmusik befördert. Prompt verantwortete er einige Riesenhits, vor allem mit Frankie Laine, Patti Page und Vic Damone – das machte die Konkurrenz neidisch. Als Millers Ex-Kommilitone Goddard Lieberson in die Leitung von CBS aufrückte, holte er Miller von Mercury zurück und gab ihm beim Hauslabel Columbia denselben Job: A&R-Direktor der Pop-Abteilung. 

In dieser Funktion war Mitch Miller 15 Jahre lang unglaublich erfolgreich. Er nahm etliche kommende Stars unter Vertrag, warb auch seine Schützlinge von Mercury ab und führte zahl­reiche Künstler an einen neuen Höhepunkt ihrer Karriere. Miller arbeitete unter anderem mit Tony Bennett, Johnny Cash, Rosemary Clooney, Ray Conniff, Doris Day, Percy Faith, Aretha Franklin, Mahalia Jackson, Johnny Mathis, Carl Perkins, Johnnie Ray, Frank Sinatra und Jo Stafford. Für jeden Interpreten wählte er die Songs aus, traf Entscheidungen übers Arrangement und beaufsichtigte die Aufnahmen. Dabei erwies er sich in allem als ein echter Innovator.

Denn er ignorierte Genregrenzen, machte schlichte Countrysongs zu Pop-Hits oder verwendete „klassische“ Klangfarben wie Cembalo oder Waldhörner. Auch revolutionierte er die Studiotechnik – zu seinen Spezialitäten gehörten Overdubbing und Echokammer. Miller war ein Virtuose der Klang-Aura: „Für mich ist die Kunst des Popsängers, leise zu singen“, sagte er. „Der Popsong ist eine intime Eins-zu-eins-Erfahrung mithilfe der Elek­tro­nik.“ Bis 1953 konnte Miller als Produzent bereits über 50 Top-Hits vorweisen. Er galt als der „Künstlerzar“, als der Mann mit dem „Midas Touch“. Columbia wurde dank ihm zum führenden Label der USA.

Miller der TV-Populist    

Mitch Miller war überzeugt, dass er das Rezept für erfolgreiche Schlagermusik gefunden hatte. Er startete daher auch eine eigene Band: Mitch Miller & The Gang. Ihr Material waren bekannte Melodien, ihr Wahrzeichen ein Männerchor. Zu den größten Plattenerfolgen dieser Band gehörten „Tzena, Tzena, Tzena“, „The Yellow Rose of Texas“ sowie ein Medley aus „March from the ­River Kwai“ und „Captain Bogey March“, die beide durch den Film „Die Brücke am Kwai“ (1957) bekannt geworden waren. Dieses Medley stieg sogar in Deutschland auf Platz 1 und verdiente sich hier eine Goldene Schallplatte. Das hiesige Publikum wurde von Miller mit deutschsprachigen Aufnahmen belohnt („Jonny, sing dein Lied noch mal“).

Miller

Doch er ging noch ein Stück weiter: Miller animierte sein konservatives amerikanisches Publikum zum Mitsingen. Dafür erkundigte er sich im Vorfeld bei Organisationen wie den Pfadfindern oder den Rotary-Clubs nach den beliebtesten Gemeinschaftsliedern – und genau die ließ er für seinen Männerchor vierstimmig arrangieren. Elf seiner Alben unter dem Motto „Sing Along with Mitch“ erhielten zwischen 1959 und 1962 in den USA die Gold-Auszeichnung. Die Idee war auch im NBC-Fernsehen so erfolgreich, dass „Sing Along with Mitch“ dort zur wöchentlichen Sendung wurde. Dabei hat man den Liedtext für die Zuschauer zum Mitsingen mit eingeblendet. Mitch Millers bärtiges, strahlendes Gesicht wurde zum Inbegriff einer realitätsfernen Heile-Welt-Ideologie. Die Sendung provozierte daher zahlreiche Parodien, etwa in der Zeichentrick­serie „Familie Feuerstein“ („Hum Along with Herman“).

Miller der Rock-’n’-Roll-Hasser

Millers größter Antrieb, populäre Melodien noch populärer zu machen, war offenbar der Hass auf die Musik der Jugend: den Rock ’n’ Roll. Er ­nannte die frühe Rockmusik „musikalische Baby­nahrung“ und eine „Anbetung der Mittelmäßigkeit“. „Das ist keine Musik, das ist eine Krankheit“, sagte er. Für eine Fernsehdiskussion 1956 bemühte Miller sogar zwei Psychiater, die den schlechten Einfluss des Rock ’n’ Roll auf die Jugend bezeugen sollten. Als A&R-Direktor bei ­Columbia hat er es konsequent abgelehnt, Musiker wie Elvis Presley oder Buddy Holly unter Vertrag zu nehmen. Das Label verschlief deshalb die Rock-Welle – es bediente stattdessen die Elterngeneration der weißen Mittelschicht.

Als Miller die „British Invasion“ ebenfalls verschmähte und die Beatles nicht signte, waren seine Tage bei Columbia gezählt. Auch seine TV-Sendung bei NBC wurde 1966 endgültig abgesetzt – die populären Belanglosigkeiten passten nicht mehr in die unruhige, konfliktreiche Zeit, und das ältere Publikum galt nicht mehr als werberelevant. Dabei soll die Sendung noch immer eine Einschaltquote von 34 Prozent gehabt haben.

An der populären Musik interessierte Miller einzig und ausschließlich der kommerzielle Erfolg. Für diesen Erfolg setzte er als Produzent stets seinen Willen durch, „formte“ Künstler nach seiner Vorstellung. Frank Sinatra zum Beispiel hat sich dagegen gewehrt, von Miller zum platten Schlagersänger gemacht zu werden. Er verließ Columbia im Streit – aber Miller zauberte einen Newcomer aus dem Hut, der die Songs, die Sinatra abgelehnt hatte, zu Millionenhits machte. Und wieder gab der Erfolg Miller recht. Seinen Retortenstar nannte man „Mitch’s Guy“ – er wurde zu Guy Mitchell.

„Ich würde dieses Zeug nicht kaufen.“

Dass sich ein hervorragender klassischer Musiker wie Miller für populären Kommerz hergab, haben viele kritisiert. Auch die Streicheraufnahmen des Jazzsaxofonisten Charlie Parker, die Miller künstlerisch betreut hat, hat man ihm zuweilen vorgeworfen. Über seine Pop-Produktionen sagte er selbst: „Ich würde dieses Zeug nicht kaufen. Dieser Job gibt mir keine künstlerische Befriedigung.“ Dennoch hat er all sein Können und Wissen in die Perfektionierung billiger Schlager gesteckt. Der Musikjournalist Will Friedwald nennt ihn daher „das Genie der schlechten Musik“. Er meint, Miller sei es ge­lungen, das Niveau von Popsongs in Amerika drastisch zu drücken – und zwar mit Planung und Finesse und unter dem Vorwand, das Populäre vor dem Rock zu „retten“. Friedwald schreibt: „Er war der Inbegriff des Schlechtesten in der amerikanischen Popmusik.“ 

Die Sängerin Barbara Lea sah im Pop-Produzenten Mitch Miller quasi einen Agenten des Teufels. Sie meinte: „Mitch Miller hat die populäre Musik gehasst. Er tat alles, um sie schäbiger zu machen und sie zu zerstören.“