Ob Musik schlau macht oder ob schlaue Menschen Musik machen, ist nicht abschließend zu beantworten. Wichtig ist meist, sich überhaupt mit einer Materie zu beschäftigen. Motivation ist das Stichwort. Wir haben uns mit der Pädagogin Kristin Thielemann unterhalten. Über Motivation, den inneren Schweinehund und den Käsekuchen der Oma.
In der jüngeren Vergangenheit hat man immer wieder gehört und gelesen, dass mancher Amateurmusiker das Instrument an den Nagel hängt – und Corona sei schuld. Für mich klingt das ein bisschen nach Ausrede. Ist es nicht eher so, dass mancher Musiker einen Grund sucht, “endlich” aufhören zu dürfen? Was meinst du dazu?
Kristin Thielemann: Ach, lieber Klaus! Da pikst du ja mitten rein, in die Tiefen der menschlichen Psyche. Ich muss nun wirklich tief Luft holen, denn die Antwort wird etwas länger werden, wenn du schon vor dem ersten Kaffee am Morgen mit solchen Krachern kommst!
Es können natürlich unterschiedliche Gründe sein, die bei uns die Motivation schwinden lassen, aber was man einmal so sagen muss: Die Coronakrise hat natürlich auch im Amateuermusikbereich einiges durcheinandergewirbelt. Und solche Änderungen und Unsicherheiten können sich negativ auf die Motivation auswirken – das ist die schlechte Nachricht.
Die gute Nachricht ist, dass wir diesen Wirbelsturm Corona nutzen können, um uns selbst viel genauer kennenzulernen, was unsere eigene Motivation betrifft. Wenn ich weiß, was ich tun muss, damit meine Motivation wieder ansteigt, ist das ein unglaublicher Schatz.
Denn unsere Motivation folgt in den allermeisten Fällen einer Kurve mit Aufs und Abs. Mal sind wir motivierter, mal spüren wir eine Demotivation. Einfach gesagt, kann das zum Beispiel so aussehen wie in Abbildung 1 (oben).
Die Chance für uns selbst liegt darin, genau zu beobachten, aus welchen Gründen die Motivation steigt und aber auch, was sie killt.
“Das Geheimnis selbst liegt bereits im Wort Motivation”
Das Geheimnis selbst liegt bereits im Wort Motivation. Dort drin steckt nämlich das “Motiv”. Das Wort kommt vom Lateinischen motivus, was “zur Bewegung geneigt” bedeutet. Motivation ist also ein Zustand, der uns dazu bringt, zu handeln. Als Motiv bezeichnen wir in der deutschen Sprache aber auch den Grund, aus dem wir handeln, also den Beweggrund. Fehlt dieser, fällt er weg oder droht er wegzufallen (wie häufig in der Coronakrise mit ihren ausfallenden Proben und Konzerten), fehlt uns unser Motiv zu handeln, also beispielsweise auf unserem Instrument zu üben.
Die Krux ist ein wenig, dass uns vielfach die Motive unseres Handelns nicht vollständig bewusst sind. Wissenschaftler schätzen, dass über 90 Prozent unserer Handlungen von unserem Unterbewusstsein gesteuert werden, uns die Gründe unseres Handelns also gar nicht so explizit bewusst sind. Wie bei einem Eisberg, wo auch der größte Teil unter der Wasseroberfläche liegt. Wir werden also von unserem Unterbewusstsein “ferngesteuert”, wenn du so willst. Aber es gibt auch Möglichkeiten, auf unser Unterbewusstsein einzuwirken. Ein guter Pädagoge, eine gute Pädagogin kann beispielsweise mittels Primings den Schülerinnen und Schülern helfen, unterbewusste Gründe ein wenig bewusster zu machen.
Solche unterbewussten (man sagt auch impliziten) Gründe können zum Beispiel sein: Spaß am eigenen Können (Selbstwirksamkeit), Freude am Flowgefühl beim Musizieren, Entspannung durch die Musik, Lust auf das Zusammenspiel mit anderen, “Erfolgshunger” wie etwa die Anerkennung auf der Bühne oder im Musikverein durch andere Mitwirkende. Du hattest in deiner Frage das “endlich aufhören können” angesprochen. Natürlich kann auch das ein implizites (unbewusstes) Motiv sein. Es kommt also immer ganz auf unser Gegenüber und seine bewussten und unbewussten Motive an.
“Auch sehr junge Schüler müssen verstehen, wie sie ihre Grundmotivation selbst aufrechterhalten können”
An der Motivation meines Gegenübers versuche ich nicht “herumzuspielen” oder zu manipulieren, wenn man es böse sagen wollte. Mir ist schon bei meinen sehr jungen Schülern wichtig, dass sie verstehen, wie sie ihre Grundmotivation selbst aufrechterhalten können. Das jetzt im Detail zu erklären, wäre ein bisschen zu viel für so ein Interview, was ja ohnehin schon ganz schön einseitig ist! Aber – long story short – vielleicht so: Wenn deine eigene Motivation schwindet, versuche herauszufinden, warum das so ist. Ein Beispiel, was viele von uns kennen, ist Folgendes: Ein Freund kündigt seinen Besuch an.
Was tun wir? Wir räumen die Wohnung auf, putzen, dekorieren, überlegen uns, was wir zu trinken und zu essen anbieten, denken über mögliche Gesprächsthemen nach. Unsere Fantasie beflügelt unser Tun, unser Unterbewusstsein gibt sein Übriges dazu, denn möglicherweise wollen wir nur Anerkennung für unser schönes Umfeld, vielleicht für unseren Erfolg, es so schön zu haben. Dann passiert es: Dieser Freund sagt seinen Besuch ab. Aus welchen Gründen auch immer. Und was passiert mit unserer Motivation? Sie rauscht ab in den Keller. Warum? Weil unser eigentliches Ziel fehlt. Der Freund kommt nicht. Wir könnten uns natürlich selbst an unserer aufgeräumten Wohnung, der schönen Dekoration und den feinen kulinarischen Köstlichkeiten erfreuen, aber da unsere Grundmotivation mit der Absage des Besuchs weg ist, fühlen wir uns, als würden wir in ein Loch fallen.
“Manche werden kämpfen, andere werden bei zu vielen Enttäuschungen aufgeben”
Ganz ähnlich ergeht es uns seit Beginn der Coronakrise immer wieder: Wir üben in der Hoffnung auf eine schöne Probe, das gesellige Beisammensein mit anderen Musikanten oder in unserem Kopf ist ein Konzertevent schon längst geplant. Plötzlich kann diese Sache, die unsere Fantasie beflügelt hat, die unsere Motivation hat ansteigen lassen, nicht mehr stattfinden. Dann fallen wir – wie bei der Absage des Freundes im ersten Beispiel – in ein Loch. Unser Handlungsmotiv fehlt. Enttäuschung entsteht. Wie Menschen mit Enttäuschungen umgehen, darüber gibt es ganze Bücher und Seminare an Universitäten. Vereinfacht gesagt: Manche werden kämpfen, andere werden bei zu vielen Enttäuschungen aufgeben. Je nach Resilienz früher oder später.
Wenn ich nun beim Musizieren eigentlich nicht aufgeben will, wäre mein Tipp, sich sehr gut bewusst zu machen, was die eigene Motivation “befeuert”, also was ist der Auslöser, aus dem die Motivation steigt. Ich habe das in der Grafik mit einem kleinen Kreuz markiert (Abbildung 2). Meist ist das ein Ziel, was unsere Motivation weckt und was wir uns selbst stecken. Wenn wir ziellos unterwegs sind, ist es natürlich schwer, den eigenen Hintern vom Sofa hochzubekommen und unser Instrument in die Hand zu nehmen.
Der innere Schweinehund wird dann einfach zu groß, das Sofa ist zu bequem, andere Dinge locken uns – Netflix, ein Chat mit Freunden, ein gutes Buch… whatever! Ich bin nicht sicher, Klaus, gehst du joggen? Vielleicht hast du auch schon mal festgestellt: Das Schwerste am Joggen ist meist der Weg vom Sofa zur Haustür. Beliebter Trainer-Trick: Sie zeigen ihren Sportlern, wie toll ihr Body aussehen kann, wenn sie regelmäßig joggen gehen, was ihnen diese Fitness für einen Erfolg bringt und so weiter. Der Sport-Trainer ist also in diesem Fall ein Motivationscoach.
Hier geht es natürlich nicht primär um begabte Musikerinnen und Musiker, aber gibt es Ansätze, solche Instrumentalisten bei der Stange zu halten?
Genau an dieser Stelle sind wir Musiklehrerinnen und -lehrer dann ein wenig wie der Sporttrainer. Um jemanden »bei der Stange zu halten«, muss ich mich fragen, was genau seine Motivation weckt, also was auf dem kleinen Ziel-Schildchen steht, was ich in der Grafik oben auf den Berg gestellt habe. Je besser ich mit diesem Ziel die individuellen Bedürfnisse meines Gegenübers treffe, desto leichter wird es ihm fallen, die Motivation wieder in sich selbst zu entdecken.
Für dieses “Treffen” haben wir im Studium ja die Fächer Pädagogik und Psychologie, wo all dies zum Thema gemacht wird, aber man kann sich auch Ideen durch kollegiale Unterstützung holen. Meine eigene Schatzkiste der Inspiration sind hier meist meine Podcastgäste bei “Voll motiviert”.
Viele denken ja, sie seien »nicht gut genug« für die Musik – was ist an diesem Denkverhalten falsch?
Es ist natürlich ein beliebtes Mindset, was uns von klein auf eingetrichtert wird: Du musst immer dazu lernen, Stillstand ist Rückschritt. Erst lernen wir die Zahlen, dann lernen wir addieren und subtrahieren – reicht auch nicht mehr, dann muss es multiplizieren und dividieren sein, die Zahlen werden immer größer, Bruchrechnen und immer so weiter. Es wird immer schwerer, immer neue Themen kommen auf uns zu, wir kommen mit mehr oder weniger Anstrengung gerade so mit. Auch beim Sprachenlernen ist es ähnlich: immer neue Dinge, immer schwerer.
Was uns mit dieser (ja häufig auch durchaus sinnvollen) Art des Lernens abhandenkommt, ist es, zu genießen, was wir schon können und was wir mit unseren Fähigkeiten anstellen können! Wir wollen immer nur irgendwohin kommen, aber wir kommen nie an, weil immer ein neues, schwereres Ziel um die Ecke kommt. Es reicht nicht mehr, die 2000er-Berge zu besteigen, jetzt müssen es die 3000er sein, ein Freund von mir will derzeit alle 4000er der Schweiz bestiegen haben – wohlgemerkt 48 Stück!
“Genieße den Status quo, den du erreicht hast”
Da frage ich mich doch, was sein Ziel sein wird, wenn er das geschafft hat? Denn 5000er haben wir hier nicht zu bieten. Um einmal beim Bild des Bergsteigens zu bleiben: Manche Menschen steigen gerne auf Berge, aber nicht, weil sie alle 2000er oder 3000er der Region in ihrem persönlichen “Portfolio” haben wollen, sondern weil sie es genießen, draußen in der Natur zu sein, weil ihnen das Wandern und Bergsteigen viel gibt.
Das ist der Schlüssel! So sollten wir es mit der Musik halten. Genieße den Status quo, den du erreicht hast. Schaue mal, was du mit deinem Können alles Tolles anstellen kannst. Vielleicht wirst du niemals in deinem Leben einen ECHO-Klassik gewinnen oder ein Solokonzert in der Elbphilharmonie spielen – aber müssen es wirklich diese “4000er-Gipfel” sein? Du kannst für dich selbst aber auch für andere so viel Wertvolles und Schönes mit dem anstellen, was du auf deinem Instrument oder mit deiner Musikkapelle kannst! Auch wenn man nicht zu den Top Musikkapellen des Landes gehört, kann man zum Beispiel eine kleine Tournee machen, auf der das Publikum jubelt und beglückt von der Musik ist.
“Schon kleinste Schritte in eine Richtung können einen riesengroßen Erfolg bewirken”
Man kann einen Kompositionsauftrag vergeben und sich neue Stücke schreiben lassen, diese uraufführen oder auch schon mit kleinem Budget einen Tonträger oder einen Videoclip hiervon produzieren lassen. Oder aber man kann sich auf dem Feld der musikalischen Jugendförderung “austoben”, hier auch ganz ohne Musikstudium oder Hauptberuf Musik sehr viel Gutes für die eigene Jugendkapelle oder die Musikschule vor Ort bewirken – und wenn es im Minimum nur das jubelnde Publikum bei Schülerkonzerten ist. Wie der Compound-Effekt zeigt, können schon kleinste Schritte in eine Richtung, die regelmäßig gegangen werden, einen riesengroßen Erfolg bewirken.
Und gestatte mir bitte noch einen abschließenden Gedanken zu diesem Stichwort “nicht gut genug”. Mich berührt das ganz natürliche, ungekünstelte Spiel von Musikschülern oder Amateurmusikern häufig viel tiefer als die perfekte CD des preisgekrönten Künstlers. Meine Oma hatte auch keinen Michelin-Stern an ihrer Küchentür hängen, aber was würde ich darum geben, noch einmal ein Stück ihres legendären Käsekuchens zu essen! Deshalb: Sei glücklich mit dem, was du hast und was du kannst und lerne, auch die kleinen Sterne in deinem Leben wertzuschätzen!
Wie kann man begabte Musikerinnen und Musiker motivieren? Auch ohne immer den Profi als Messlatte herzunehmen?
Nimm dir mal eine andere Messlatte zur Hand, lieber Klaus. Wie wäre es mit folgenden Fragen in Bezug auf dein musikalisches Tun:
1. Ist das, was ich mit der Musik mache, für andere Menschen wichtig?
2. Was gibt mein Musizieren mir selbst? Macht es mich glücklich?
Du wirst sehen: Es gibt immer Menschen, für die deine Musik goldrichtig ist. Du musst nur das richtige Publikum für dich finden! Und wahrscheinlich wird es viele Momente geben, wo du beim Musizieren alleine oder mit anderen gemeinsam in einer Flut von schönen Klängen badest und dir tolle Harmonien eine Gänsehaut machen. Würdest du auf diese Momente verzichten wollen, weil andere sagen, dass es noch besser geht? Ich nicht! Gestern war eine kleine Schülerin hier. Sie hat ein einfaches Volkslied auf ihrer Trompete nur für mich gespielt. Und ich kann dir sagen: Es war so ein schöner Moment. Ich hatte Gänsehaut von dem phänomenalen Klang und es war so berührend gestaltet, dass ich aufpassen musste, dass mir nicht die Tränen in die Augen gestiegen sind.
Aber ich habe ihr hinterher gesagt: “Wow! War das berührend, war das toll, was du gespielt hast! Bravo!”. Uns beiden – dieser Schülerin und mir ist klar, dass sie noch viel lernen und entdecken kann auf ihrer Trompete und dass ein berührendes Liedchen kein gewonnenes Probespiel ist. Aber es war ein besonderer Moment für uns beide, ein Moment, den es zu würdigen gilt! Sicher hätte der Profitrompeter auch toll gespielt, aber der stand in diesem Moment nicht in meinem Musikstudio. Sie war da und sie hat diesen Moment zu etwas ganz Besonderem gemacht!
Ein viel gehörtes Argument: “Keine Zeit…” Und jetzt?
Das ist eigentlich die Frage nach dem inneren Schweinehund. Wie groß ist er, wie leicht kannst du ihn besiegen? Zeit haben wir eigentlich alle gleich: nämlich 24 Stunden am Tag. Wenn wir wollen, können wir uns etwas davon fürs Musizieren reservieren. Aber der Punkt ist das Wollen! Du musst es so sehr wollen, dass du es eben auch machst! Und da kommen die Ziele und die eigene Motivation ins Spiel.
Natürlich kann ich es mir selbst leichter machen, indem ich mir beispielsweise eine feste Tageszeit zum Üben reserviere, mir einen Abend in der Woche blockiere, um mit anderen gemeinsam Musik zu machen oder mir bei einem Lehrer, einer Lehrerin Unterrichtstermine reserviere oder bei einem Konzert zusage mitzuwirken.
Ich kann es mir leichter machen, indem ich einen wunderschönen Übeort habe, indem ich mein Üben ein wenig zelebriere. Vielleicht sollte ich es nicht unbedingt verraten, aber ich habe mein Ritual an meinen freien Abenden, dass ich mir ein halbes Glas Wein einschenke, in meinem frisch gelüfteten Musikstudio die schöne Beleuchtung anknipse, mir meine absoluten Lieblingsnoten auf den Notenständer lege und dann diesen Abend als meine Quality-Time zum Üben nehme. Ich verbringe gerne meine Abende in meinem Musikstudio – auch wenn ich es gar nicht müsste! Ich genieße diese Zeit.
Mein Tipp wäre also, nicht so viel darüber nachzudenken, ob ich nun üben gehe und was ich übe, ob ich überhaupt Lust habe, sondern in dieser Zeit einfach schon mal loszulegen. Ganz egal, ob alle Rahmenbedingungen stimmen. Denn, wie die Motivationsspirale schon sagt, aus dem Üben entsteht in vielen Fällen neue Motivation, die uns beflügelt.
An welcher Stellschraube muss man da drehen? Denn die “Infrastruktur” – also das Musikwesen ist ja grundsätzlich vorhanden, oder?
Ja, die liebe Infrastruktur. Die wichtigste Infrastruktur ist in deinem Kopf! Das ist dein Wille, Musik zu machen und die Kraft deiner Fantasie, es umzusetzen.
Kristin Thielemann
studierte Orchestermusik, Trompete und Musikpädagogik an der Musikhochschule Lübeck und war Stipendiatin der Richard-Wagner-Stiftung und der Münchner Philharmoniker. Bereits während des Studiums stand sie als Trompeterin im Orchester der Deutschen Oper Berlin unter Vertrag. Ihr Ratgeber “Jedes Kind ist musikalisch” (Schott Music) wurde ins Chinesische übersetzt und “Voll motiviert! Erfolgsrezepte für Ihren Unterricht” (Schott Music) ist eine der meistverkauften Veröffentlichungen der praktischen Musikpädagogik.