Die Musiker von Paris verliebten sich sofort in den »romantischen« Klang des Saxofons. Als sein Erfinder Adolphe Sax um Kompositionen für das neue Instrument bat, rannte er daher offene Türen ein.Hector Berlioz (1803 bis 1869), der Musikkritiker und Komponist, war eine unumstrittene Koryphäe in Fragen der Instrumentierung. Nicht umsonst galt seine »Symphonie fantastique« von 1830 als schriller Höhepunkt orchestraler Farbigkeit. Berlioz arbeitete sogar an einer großen Instrumentationslehre in Buchform, als er 1841 erstmals von dem neuen Instrument erfuhr, einer Art »ophicleide-a-bec«, einer »Schnabel-Ophikleide«. Natürlich war Berlioz’ Interesse sofort geweckt: Er lernte das Instrument näher kennen und nannte es den ersten Vertreter einer neuen Familie, der Blechblasinstrumente mit Blatt. Sein Timbre, so schrieb er, habe »etwas Beunruhigendes und Trauriges im hohen Register; dagegen sind die tiefen Töne von grandioser Natur, man sollte sagen: priesterlich-würdig«. In Berlioz’ 1844 erschienener »Instrumentationslehre« heißt es dann, die Töne des neuen Instruments klängen »sanft und durchdringend in der Höhe, voll und markig in der Tiefe«; in der Mittellage hätten sie »etwas tief Ausdrucksvolles«. Die Rede ist natürlich vom Saxofon.Berlioz war der erste namhafte Saxofon-Begeisterte. Er lobte Adolphe Sax, den belgischen Erfinder, in den höchsten Tönen und attestierte dem Saxofon eine schnelle, virtuose Handhabung, aber vor allem die Eignung für religiöse, träumerische, anmutige, sanfte und langsame Musik. Letzteres wollte er gleich selbst demonstrieren, indem er ein eigenes religiöses Vokalstück, das er schon mehrfach bearbeitet hatte, nun für sechs Instrumente aus der Sax-Werkstatt neu arrangierte, darunter eben ein Baritonsaxofon. »Chant sacré« hieß das Werk, uraufgeführt wurde es im Februar 1844, Adolphe Sax blies das Saxofon, Berlioz dirigierte. Leider ist dieses erste namentlich bekannte Saxofonstück nicht erhalten.
Adolphe Sax (1814 bis 1894) versuchte alles, um seinem Saxofon zum Durchbruch zu verhelfen. Er baute 1847 einen eigenen Konzertsaal und gründete 1853 eine eigene Konzertvereinigung. Schon 1846, im Jahr der Patentanmeldung, erreichte er, dass in der Pariser Militärmusikschule eine Saxofonklasse eingerichtet wurde; deren Leiter J.F.B. Cokken schrieb für den Unterricht die erste Saxofonschule (»Méthode complète«). Eine weitere frühe Anleitung für Saxofonstudenten verfasste der Komponist und Militärmusik-Berater Jean-Georges Kastner (1810 bis 1867) aus Straßburg. In seiner Saxofonschule waren als Notenbeispiele auch zwei eigene Stücke enthalten: ein Saxofonsextett, das der Saxofonist Sigurd Raschér später neu instrumentiert hat, und die »Variations brillantes« für Altsaxofon und Klavier. Kastners Stücke zählen mit zu den allerfrühesten Saxofonwerken.
Damit die ersten Saxofonisten etwas zu spielen hatten, fertigte Sax schon früh Transkriptionen bekannter Werke an, gab aber auch Originalkompositionen in Auftrag. Als langjähriger Klarinettensolist und Leiter der »externen Musiker« der Pariser Oper kannte Sax genug Komponisten und Virtuosen, die fürs Saxofon schreiben konnten. Als er 1857 die Saxofonklasse für Militärmusiker am Pariser Konservatorium übernahm, wurde der Bedarf an Saxofonnoten erst recht dringlich. 1858 gründete Sax daher seinen eigenen Musikverlag und veröffentlichte dort in den folgenden Jahren einige Dutzend Saxofonwerke, die Kollegen in seinem Auftrag komponierten. Viele dieser Werke waren später lange Zeit verschollen und tauchten erst am Ende des 20. Jahrhunderts in der Pariser Nationalbibliothek wieder auf.
Für Sax’ Zeitgenossen war das Saxofon ein zutiefst romantisches Instrument, das ganz den klanglichen Vorlieben der Zeit entsprach. Berlioz verglich seinen Ton mit dem Cello, der Klarinette, dem Englischhorn und einem »verschatteten« Blech und hielt ihn für fähig, nie zuvor ausgedrückte Gefühle auszusprechen. Gioachino Rossini (1792 bis 1869), der viel gefeierte Meister der italienischen Oper, führte das Saxofon schon 1844 am Konservatorium in Bologna ein: »Ich habe nie etwas Schöneres gehört«, soll er gesagt haben. Auch sein Kollege Giacomo Meyerbeer (1791 bis 1864) entdeckte im Saxofon den »absoluten Klang«. Andere Pariser Komponisten wie Jean-Fromental Halévy und Ambroise Thomas verwendeten das Instrument um 1850 bereits in Opernpartituren, später folgten Bizet, Massenet oder Puccini. Es war Richard Wagner selbst, der für die Pariser Premiere seines »Tannhäuser« 1861 vorschlug, Saxofone statt Waldhörner einzusetzen.
Rossini, Romantik und Oper: das waren die ästhetischen Leitsterne für die ersten Saxofon-Komponisten. Zum Beispiel für Jean-Baptiste Singelée (1812 bis 1875), einen belgischen Freund und ehemaligen Studienkollegen von Adolphe Sax. Singelée war Sologeiger verschiedener Orchester, außerdem Dirigent und Komponist. Er schrieb Opern, Ballette, Violinkonzerte, vor allem aber populäre Opern-Fantasien und -Paraphrasen, in denen die Violine arienhaft glänzen konnte. Diese »Glanzrolle« der Violine übertrug er für seinen Freund Sax aufs Saxofon, für das er mehr als 20 Werke schrieb. Nicht zufällig war das erste davon – Singelées Opus 49 – eine Fantasie über die Bellini-Oper »La Somnambula« von 1831: für Sopran- oder Tenorsaxofon und Klavier.
Singelée, der das Saxofon auch in Orchesterpartituren einsetzte, ermunterte Sax, sich bei der Weiterentwicklung doch auf die vier Hauptgrößen Sopran, Alt, Tenor und Bariton zu konzentrieren. Passenderweise schrieb Singelée die vermutlich erste Originalkomposition für ein Quartett dieser vier Baugrößen: sein rund 17-minütiges Premier Quatuor op. 53 von 1857 mit der Widmung »Für seinen Freund Adolphe Sax«. Als musikalische Vorbilder für die vier Sätze dienten Rossini, Beethoven (ein ernstes Adagio!), Mendelssohn und Meyerbeer – die wichtigsten Komponisten für den damaligen Zeitgeschmack. Das kammermusikalische Zusammenspiel der vier Saxofone erinnert noch stark an ein Streichquartett, aber immer wieder lösen sich Einzelstimmen zum opernhaften Solo oder Duett, als seien sie Belcanto-Virtuosen. Von einem zweiten Quartett Singelées, dem Grand Quatuor Concertant op. 79 von 1862, hat sich leider nur der erste Satz erhalten, in dem die vier Saxofonstimmen lebhaft miteinander verflochten sind.
Singelées Spezialität waren kleine Konzertnummern in der Art, wie er sie auch als Geigenvirtuose schätzte: Drei- bis Vier-Minuten-Stücke, in denen ein Solist sein ganzes Können auf den Punkt bringt – ideal für Zugaben oder Prüfungen. Meist beginnt so eine »Fantaisie« (oder »Solo de Concert«) dramatisch, wird dann ausdrucksvoll und sanft und steigert sich schließlich in schnelle, kapriziöse Läufe mit eingebauter Kadenz. Der Saxofonist Christian Peters meint: »Man wird unwillkürlich an Stimmungen der Opéra Comique erinnert, z. B. Rossini, Boieldieu, Adam oder Auber, an die großen Namen und Gefühle der französischen und italienischen Oper dieser Zeit.« Viele dieser Virtuosenstücke für Saxofon und Klavier schrieb Singelée übrigens für die Abschlussprüfungen von Sax’ Konservatoriumsklasse. Im ersten Jahr 1858 waren sein Concerto op. 57 (für Sopransaxofon) und die Fantaisie op. 60 (für Baritonsaxofon) die Wettbewerbsstücke; als Träger des 1. Preises von 1858 sind die Messieurs Dain und Boymond überliefert. Sein letztes Wettbewerbsstück (1864) schrieb Singelée mit der Fantaisie op. 102 für Sopransaxofon und Klavier.
Bläservirtuosen
Im Umkreis der Pariser Oper und des Konservatoriums gab es mehrere Bläservirtuosen, die sich inspiriert fühlten, für das neue Instrument zu komponieren. Einer von ihnen war Jean-Baptiste Victor Mohr (1823 bis 1891), ein Schüler des in Paris wirkenden Opernkomponisten Michele Carafa. Mohr schrieb viele Militärmusikwerke für sein Instrument, das Horn, aber auch eines der frühesten Saxofonquartette, das natürlich Adolphe Sax gewidmet ist. Leider ist von Mohrs Quartett von 1864 nur der anmutige erste Satz erhalten. Er klingt nicht nur wie eine Hommage an Rossini, sondern verwendet schon in der Einleitung unverhohlen Themen aus bekannten Rossini-Opern wie »L’Italiana in Algeri« (1813), »Il Barbiere di Siviglia« (1816) und »Semiramide« (1823). Ein fröhliches Stück Opernstimmung.
Der führende Trompetenvirtuose des zweiten Kaiserreichs war zweifellos Joseph Arban (1825 bis 1889), dessen Trompetenschule bis heute legendär ist. Zeitgleich mit Adolphe Sax übernahm Arban 1857 ebenfalls eine Militärmusikklasse am Konservatorium, übrigens die fürs Saxhorn, Sax’ Variante des Flügelhorns. Für Sax’ Verlag schrieb Arban 1861 seine rund siebenminütige Caprice et Variations (für Altsaxofon und Piano): ein elegisches Thema mit drei immer virtuoser werdenden Variationen, die durch ein Klavier-Ritornell voneinander getrennt sind. Vor allem in den gebrochenen Akkorden der zweiten Variation hört man den »Tiroler« Einfluss, der damals gerade in Mode kam. Auch Hyacinthe Klosé (1808 bis 1880), der langjährige Professor für Klarinette am Pariser Konservatorium, komponierte fürs Saxofon, sein Zweitinstrument. Zu seinen frühesten Saxofonstücken gehörten zwei unbegleitete Soli von 1858 und 1859. Seine bewegte dramatische Fantasie »Daniel« von 1869 (für Altsaxofon und Klavier) wirkt wie eine instrumentale 6-Minuten-Miniatur-Oper.
Als Singelée 1865 aufhörte, die Wettbewerbsstücke für Sax’ Saxofonklasse zu schreiben, übernahm Jules Demersseman (1833 bis 1866) kurzzeitig diese Aufgabe – er starb schon ein Jahr später. Demersseman, ebenfalls ein belgischer Landsmann von Sax, war ein gefeierter Flötenvirtuose und Flötenkomponist; er hatte schon als Zwölfjähriger den 1. Preis am Pariser Konservatorium gewonnen. Rund 20 Jahre jünger als Singelée, brachte Demersseman in die Abschlusswettbewerbe der Saxofonklasse einen ganz neuen Tonfall, der gleichermaßen von Wagners dramatischem Ernst wie von virtuosen spanischen Rhythmen angeregt ist. Zu den von ihm komponierten Prüfungsstücken für 1866 gehören ein mitreißendes Andante et Boléro (für Tenorsaxofon und Klavier) und eine Cavatine (für Baritonsaxofon und Klavier), die fast einem Trauermarsch ähnelt. Demersseman komponierte beinahe 20 Originalwerke fürs Saxofon, darunter auch einen Zyklus von 12 Etüden (1866). Eines seiner ersten Saxofonwerke war eine posthum verlegte Fantaisie (für Altsaxofon und Piano), die er 1860 dem Belgier Henri Wuille (1822 bis 1871) gewidmet hatte, einem der ersten international erfolgreichen Saxofonisten.
Soualle und Savari
Zu den frühesten reisenden Saxofonvirtuosen gehörte auch Charles Soualle (1824 bis 18??), der sich aus Begeisterung für den Orient später Ali Ben Soualle nannte. Der studierte Klarinettist wurde angeblich von einem türkischen Sultan gesponsert, weshalb er auch sein Saxofon (an dem er einige Verbesserungen vorgenommen hatte) »Turcophone« taufte. Als Saxofon-Komponist spezialisierte sich Soualle auf kleine Charakterstückchen, zum Beispiel eine Polka »Le retour« (1866) oder die exotischen »Souvenirs de Shanghai« (1861), beide für Sopransaxofon und Piano. Seine Tourneen sollen Soualle tatsächlich bis weit hinein nach Asien geführt haben. Sein bedeutendstes Saxofonwerk aber ist die hochvirtuose Grande Fantaisie von 1861 für Altsaxofon und Piano. Auch dieses große Stück, rund 14 Minuten lang, paraphrasiert eine populäre Oper der Zeit, Donizettis »Lucia di Lammermoor« (1834), aus der mindestens vier Themen verwendet werden.
Lange Zeit vergessen war der Saxofonist, Komponist und Dirigent Jérome Savari (1819 bis 1870). Bis vor kurzem wurde er meist mit seinem Namensvetter Jean Nicolas Savary (1786 bis 1853) verwechselt, einem berühmten Fagottisten und Fagottbauer. Savari, vermutlich ursprünglich Klarinettist, kam 1842 von der See nach Paris zurück und begeisterte sich hier sofort für Adolphe Sax’ neues Instrument. Später leitete Savari ein Musikregiment und war im Auslandseinsatz, sogar in Afrika. Um 1850 komponierte er eine »Fantaisie sur ›Le Freyschuetz‹« (für Altsaxofon und Piano), eine Opernparaphrase, die auf Webers Arie »Durch die Wälder, durch die Auen« beruht. Zwei weitere Fantasien (über eigene Themen) folgten, eine davon ist Sax’ Freund Singelée gewidmet.
Besonders hervorgetan hat sich Savari aber mit reinen Saxofon-Besetzungen: Von ihm stammt das zweite komplett erhaltene Saxofonquartett überhaupt, das rund 17-minütige »Quatuor en 4 parties« (1861). Es ist ein humorvolles, überraschendes Werk, das mal an eine ländliche Jagdszene, mal an ein Operndrama erinnert und abwechselnd idyllisch, festlich, kontrapunktisch oder scherzhaft daherkommt. Eindrucksvoll ist auch sein Saxofonquintett (Sopran doppelt besetzt) mit Anlehnungen an den Opernton von Meyerbeer und einem »Tiroler« Menuett als Scherzo. Damit nicht genug: Savari experimentierte mit noch größeren Saxofon-Ensembles und komponierte ein Saxofon-Sextett (Sopran und Alt doppelt), Saxofon-Septett (Sopran, Alt und Tenor doppelt) und Saxofon-Oktett (alle doppelt). Auch ein Saxofontrio (ohne Tenor) hat er hinterlassen und es Sax’ Mitstreiter Kastner gewidmet.
Es gab noch eine Reihe weiterer früher Werke fürs Saxofon. Jules Cressonnois, ein Mitarbeiter von Kastner, schrieb Saxofonquartette und ein Saxofontrio. Der Harmonielehrer Emile Jonas komponierte die orgelartige, opernhafte »Prière« (1861) für vier oder sechs Saxofone. Auch der Kritiker Léon Kreutzer schrieb ein Saxofonquartett, der Opernkomponist Ambroise Thomas ein kurzes Saxofontrio (1865), ein gewisser Léon Chic eine »Tyrolienne« (1861)…
Viele dieser Stücke nahm Sax in seinen Verlag. Da der erfolgreiche Saxofon-Erfinder aber reichlich Konkurrenten und Neider hatte, war sein Glück – und damit das Schicksal des Saxofons – sehr von politischen Förderern abhängig. Starke Regenten unterstützten Sax, weil er sich um die Verbesserung der Militärmusik bemühte. Friedliche bürgerliche Regierungen bremsten ihn dagegen aus und diffamierten ihn als »Aristokraten-Freund«. Daher wurde bald nach der Februarrevolution von 1848, in der König Louis-Philippe gestürzt wurde, die Saxofonklasse an der Militärschule aufgelöst (1850), es folgte Sax’ Konkurs (1852). Unter Napoleon III. wurde Sax dann wieder rehabilitiert und 1857 die Saxofonklasse für Militärmusiker neu gestartet, nun am Pariser Konservatorium. Sax leitete die Klasse selbst und unterrichtete dort bis 1870 mehr als 150 Schüler. Nach der Niederlage von Sedan und der Absetzung des Kaisers wurde die Konservatoriums-Klasse umgehend wieder abgeschafft, schon 1873 folgte Sax’ zweiter Konkurs. Erst 1942 (!) kehrte das Saxofon ans Pariser Konservatorium zurück.