Vögel singen, wenn sie auf Partnersuche sind oder ihr Revier abstecken. Bei den Menschen heißt das: Liebeslied und Nationalhymne. Häufig heißt es, Musik sei eine „abstrakte“ Kunst, weil sie – anders als Literatur, Malerei, Bildhauerei oder Film – kein Vorbild in der Natur habe. Der Theoretiker Eduard Hanslick spricht in diesem Zusammenhang vom „gegenstandslosen Formenspiel“ der Musik. Im Widerspruch dazu stehen Legenden aus der ganzen Welt, die der Musik durchaus ein Vorbild in der Natur zuweisen – nämlich die Melodien der Singvögel, das Vogellied.
In Mythen aus dem alten Persien, aus China, aus Samoa im Pazifik oder von den Indianern Mexikos wird erzählt, dass es die Vögel waren, die einst die Menschen die Musik lehrten. Gelegentlich sollen es Wunder- oder Geistervögel gewesen sein. Die Sirenen im griechischen Mythos, die mit ihrem betörenden Gesang die Seefahrer ins Unglück stürzen, galten als Mischwesen aus Vogel und Mensch.
Die Musik der Singvögel
Vor etwa 33 Millionen Jahren entwickelten sich in Australien die ersten Singvögel. Man könnte also sagen: Die Musik ist deutlich älter als der Mensch. Zwar scheuen sich die Wissenschaftler, die Lautäußerungen der Singvögel „Musik“ zu nennen. Doch um sie zu beschreiben, ist letztlich nur musikalisches Fachvokabular angemessen.
Die Forscher sprechen beim Vogelgesang von Liedern, Phrasen, Sequenzen, Patterns, Arrangements, Mikrotönen, Mehrstimmigkeit, Fantasie, Repertoire, Cluster, Tempo, Performance, Vorschlag, Ritardando, Transposition, Kreativität, Collage, Rhythmus, Tonalität, Strophe, Duett, Triller, Wiederholung, Variation, Timing, Wechselgesang, Form oder Formteilen. Es scheint, dass sämtliche Parameter der Menschenmusik schon im Vogellied vorgebildet sind.
Singvögel verfügen oft über Hunderte von melodischen Phrasen und Figuren, die sie in vielerlei Weise aneinanderhängen und kombinieren können. Sie kommen so zu einem Repertoire von Tausenden von Liedern – den Rekord hält die Rotrücken-Spottdrossel (Nordamerika). Diese Melodien und ihre Kombinationsmöglichkeiten müssen die Vögel aber erst erlernen. Während die Lautäußerungen von Hühnern oder Tauben angeboren sind, haben Singvögel zu üben – so wie menschliche Musiker auch. In der Regel lernen sie, indem sie dem Gesang ihrer Eltern (meist des Vaters) lauschen. Manche Vögel imitieren aber auch andere Vogelarten oder Umweltgeräusche (Hundebellen, Martinshorn, Handyklingeln).
Besonders begabt dafür scheinen Star, Spottdrossel und Sumpfrohrsänger zu sein. Letzterer ist ein echter Zugvogel und verschmilzt in seiner musikalischen Sprache sogar Einflüsse von mehreren Kontinenten. Dabei können sich die Lieder der Singvögel von Jahr zu Jahr oder von Jahreszeit zu Jahreszeit verändern. Wenn sich andere Umweltbedingungen einstellen, „korrigieren“ Vögel auch ihren Gesang, zum Beispiel durch Transposition. Der Vogelgesang – und jeder einzelne Vogel – besitzt seine ganz eigene Musikgeschichte.
Nachtigall oder Amsel?
Die Menschen haben nie aufgehört, sich vom Vogelgesang inspirieren zu lassen. Komponisten aller Zeiten lauschten aufmerksam auf die gefiederten Musikanten, manche imitierten sie sogar gezielt in ihren Werken. Schon nach dem ersten Tag in New York meinte Antonín Dvořák 1892: „Hier sind die Vögel anders als bei uns. Sie sind schöner gefärbt und singen auch anders.“ Im Scherzo seines „Amerikanischen“ Streichquartetts zitierte Dvořák dann den Ruf der nordamerikanischen Scharlach-Tangare.
Heitor Villa-Lobos ließ sich dagegen in seiner sinfonischen Dichtung »Uirapuru« vom gleichnamigen Amazonas-Vogel inspirieren, der für seine erstaunlichen diatonischen Melodien bekannt ist. Das Tier heißt daher auch Flageolett-, Orpheus-, Musiker- oder Orgel-Zaunkönig. Andere Komponisten würdigten den Kuckuck (Händel), die Wachtel (Biber) oder die Lerche (Haydn).
Besonders beliebt als Musiker-Inspiration ist der Gesang der Nachtigall. Schon seit dem Mittelalter haben Komponisten immer wieder die raffinierten Melodien dieses Vogels bewusst zitiert oder nachgeahmt, darunter F. Couperin, Vivaldi, Händel, A. Scarlatti, Poglietti, Haydn, Beethoven, Delibes oder Strawinsky. Andere wiederum halten die Nachtigall für überschätzt und bevorzugen die Gartenamsel.
Für den Komponisten Heinz Tiessen ist die Amsel „der musikalisch höchststehende Singvogel Mitteleuropas“. Auch Olivier Messiaen schrieb: „Der Gesang der Amsel übertrifft an Fantasie die menschliche Einbildungskraft.“ Messiaen verließ sich als Komponist sogar weitgehend auf die Inspiration durch die Vogelwelt. Während seine Kollegen mit Mikro-Intonation, Aleatorik oder übersättigter Polyphonie experimentierten, fand er dasselbe bei den Singvögeln. Messiaen komponierte »Vogelkonzerte« mit 16, 18 oder gar 44 Einzelstimmen. Auch Gustav Mahler sagte von sich, der „tausendfältige Vogelsang“ im Wald habe ihn schon als Kind für die Polyphonie begeistert.
Bird und andere Vögel
Wenn es darum geht, Vogellied-Inspirationen in Menschenmusik zu übersetzen, sind Blasinstrumente natürlich die erste Wahl – dank ihrer atemgesteuerten Phrasierung, ihrer Tonbildung und ihrer flexiblen Klangfarbigkeit. Nicht umsonst waren Knochenflöten wohl die ersten Instrumente der Menschen. Auch Mikrotöne, „raue“ Intonationen oder Klick-Geräusche, wie sie im Vogelreich vorkommen, sind am Blasinstrument machbar.
Händel schrieb ein Flötenkonzert nach den Gesängen des Distelfinks (Stieglitz). In Beethovens „Pastorale“ imitiert die Flöte eine Nachtigall, die Oboe eine Wachtel, die Klarinette einen Kuckuck. Prokofiew lässt in „Peter und der Wolf“ den kleinen Vogel durch die Querflöte zwitschern. Martinů setzt im Scherzo seiner Flötensonate der amerikanischen Nachtschwalbe ein Klangdenkmal. Auch Messiaens Amselstück „Le Merle Noir“ ist für Flöte und Klavier geschrieben. Und Rameaus Vogelkonzert „Le Rappel des Oiseaux“ (im Original fürs Cembalo) erwacht in der Transkription für Blasinstrumente erst so richtig zum Leben (zum Beispiel beim Calefax Reed Quintet).
Selten hat der Spitz- und Ehrenname eines Musikers besser gepasst als beim Jazzsaxofonisten Charlie Parker. „Bird“ nannten sie ihn, den Vogel. Seine Intervallsprünge, seine rasanten Sechzehntel- und Zweiunddreißigstel-Läufe, seine bewegliche, unregelmäßige Phrasierung, seine hohen Tempi: Woran sonst sollte dieses Altsaxofonspiel erinnern als an die mutwilligen Lieder der Singvögel? Seine Stücke nannte Parker „Bird’s Nest“, „Bird Of Paradise“, „Blue Bird“, „Chasin’ The Bird“, „Bird Gets The Worm“, „Ornithology“ (Vogelkunde) oder „Yardbird Suite“ (nach Strawinskys „Firebird Suite“).
Parkers Art, das Saxofon zu blasen, steuerte den Jazz in eine neue Richtung und beeinflusste Generationen von Jazzmusikern (nicht nur Saxofonisten). Von ihm geprägt war auch der Saxofonist und Flötist Eric Dolphy, der stundenlang Vogelgesängen lauschen konnte. „Wenn ich zu Hause in Kalifornien übte, pfiffen die Vögel immer mit. Vögel haben Töne zwischen den Tönen. Wenn du versuchst, so etwas nachzuspielen, musst du den Ton nach oben oder unten biegen.“
Albert Mangelsdorff
Die Auseinandersetzung mit der „Ur-Musik“ der Singvögel – in welcher Form auch immer – kann eine musikalisch bereichernde Herausforderung sein. Auch der deutsche Jazzposaunist Albert Mangelsdorff holte sich dort Inspirationen. Einige seiner Stücke hießen „Trombirds“, „Birds Of Underground“, „Blues Of A Cellar Lark“, „Raving Raven“, „Sparrow Knows“ oder „Meise Vorm Fenster“.
Mangelsdorff sagte: „Die meisten Vögel machen Musik. Nur findet sie nicht immer mit unseren Tönen statt oder mit unseren Tonfolgen. Da gibt es nicht die chromatische Tonleiter oder die diatonische Tonleiter, sondern da gibt es Skalen, Tonfolgen, die total außerhalb unseres Systems sind. Das würde ich gerne nachvollziehen. Weil es wirklich Musik ist! Ich höre es so schon seit meiner Kindheit.“