Orchestra | Von Hans-Jürgen Schaal

Musik ist Bildung. Gedanken zum Ideal der Humanität

Bildung
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Musik ist eine Kernkompetenz der menschlichen Kommunikation und konstituierend für die persönliche Identität. Sie muss daher ein integraler Teil jeder Human-Bildung sein, die diesen Namen verdient.

Der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer (geb. 1947) erinnert sich, dass bei der Verleihung seines Reifezeugnisses einst der Schuldirektor eine Rede hielt. Darin fiel der Satz: „Gute Noten in den Naturwissenschaften sind durchaus erfreulich, aber ob jemand reif ist, das erkennt man erst an seiner Deutschnote.“ Nach dieser Ansicht wäre menschliche Reife ganz gebunden an den sprachlichen Ausdruck, an Literatur, Reflexion und Philosophie. Nicht nur die Naturwissenschaften stünden demnach außerhalb der gymnasialen Idee von Reife und Bildung, auch die Musik wäre ein zweifelhafter Fall. 

Schon in der Antike unterschied man zwischen den sprachlich-reflexiven Disziplinen (Grammatik, Rhetorik, Logik) und den mathematisch-physikalischen Fächern (Arithmetik, Geometrie, Astronomie). Die Musik, ganz theoretisch-systematisch gedacht, wurde damals dem zweiten Bereich („Quadrivium“) zugeordnet. Eine solche Reduktion von Musik auf bloße Zahlen ist ein Erbe des Pythagoras. Der griechische Philosoph sah in den ganzzahligen Verhältnissen der Intervalle ein Indiz dafür, dass der Kosmos mathematischen Gesetzen unterliege. Auch Descartes und Leibniz verstanden Musik noch als „arithmetische Übung“.   

Im frühen 21. Jahrhundert gehorcht die Bildungspolitik an Schulen und Hochschulen vor allem dem Diktat ökonomischer Nützlichkeit. Das sogenannte Bologna-Programm für Hochschulen zielt darauf ab, Studienabsolventen für den internationalen Arbeitsmarkt zu ertüchtigen. Die akademische Freiheit wird dabei zunehmend den Interessen der kapitalistischen Wirtschaft geopfert („Humankapital“). Universitäten machen sich abhängig vom Sponsoring durch Firmen. 

Bereits in den Schulen wird eine solche berufspraktische Orientierung vorbereitet. Die sogenannten Pisa-Studien prüfen „literacy“ und „numeracy“, also Lesekompetenz und mathematisch-naturwissenschaftliche Fertigkeiten. Musik ist in diesem Bildungsmodell nicht vorgesehen. Wenn Finanzen, Räumlichkeiten oder Personal an den Schulen knapp sind, wird in der Regel zuerst am Musikunterricht gespart. Sprachen, Mathematik, Naturwissenschaften gelten als „Kernkompetenzen“ – Musik dagegen scheint verzichtbar zu sein.

Das humanistische Bildungsideal

Der deutsche Begriff „Bildung“, der in Humanismus und Aufklärung gründet, ist nicht leicht in andere Sprachen zu übersetzen. Denn „sich bilden“ bedeutet mehr als nur „Wissen erwerben“ oder „ausgebildet werden“. „Bildung“ bedeutet Menschenbildung – hier soll sich ein mündiger, informierter Mensch entwickeln, der sich ins Soziale einzufügen versteht. Der Philosoph Immanuel Kant (1724 bis 1804) sprach von „Erziehung zur Persönlichkeit, Erziehung eines frei handelnden Wesens“, das ein wertvolles Glied der Gesellschaft sein, aber auch einen „innern Wert“ haben soll. 

Für den Reformpolitiker Wilhelm von Humboldt (1767 bis 1835) war das Ziel von Bildung „ein guter, anständiger, aufgeklärter Mensch und Bürger“ – ein „Weltbürger“. Er schrieb: „Zum Weltbürger werden heißt, sich mit den großen Menschheitsfragen auseinanderzusetzen: sich um Frieden, Gerechtigkeit, um den Austausch der Kulturen, andere Geschlechterverhältnisse oder eine andere Beziehung zur Natur zu bemühen“ – Ziele, die noch heute hochaktuell sind.

Diese umfassende „Humanbildung“ ist etwas anderes als eine Ausbildung, die sich an ökonomischen und beruflichen Zwecken orientiert. Sie ist auch etwas anderes als eine Ansammlung von Wissen im Sinne eines „Bildungskanons“ – schon der Begriff „Kanon“ widerspricht der Idee individueller Mündigkeit. Zur „Humanbildung“ gehört vielmehr, auf welche Weise man Wissen und Fertigkeiten erwirbt, wie man sie sich zu eigen macht, sie reflektiert und ins Soziale einbringt. „Nicht der Stoff entscheidet über die Bildung, sondern die Form“, meint der Pädagoge Friedrich Paulsen (1846 bis 1908). 

Ziel von Bildung ist die Fähigkeit zur Selbstbestimmung wie auch zur Solidarität mit anderen – Kritik und Empathie, Argumentation und Selbstkritik. Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Klafki (1927 bis 2016) zählt zur Bildung neben technischen, kognitiven, ethischen und zwischenmenschlichen Kompetenzen auch die „ästhetische Wahrnehmungs-, Gestaltungs- und Urteilsfähigkeit“. Hier kommt die Musik ins Spiel.

Die klingenden Gedanken 

Bis ins späte 18. Jahrhundert galt Musik, sofern sie nicht dem Wort „diente“, bei den gebildeten Ständen nicht viel. Der Schweizer Philosoph Johann Georg Sulzer (1720 bis 1779) beschrieb Instrumentalmusik als bloßen Zeitvertreib und spielerische Übung. Diese Musik mache, so schrieb er, „ein lebhaftes und nicht unangenehmes Geräusch“, sei aber ohne Bedeutung und Gefühl. Viele Intellektuelle (wie etwa Goethe) sahen in Musik nicht mehr als eine Untermalung von Mahlzeiten und Gesprächen. Sie waren sogar stolz darauf, dass sie von Musik nichts verstanden. 

Das änderte sich erst mit Beethovens Sinfonien und den Denkern der Romantik im 19. Jahrhundert. Sie erklärten den „nicht-sprachlichen“ Charakter der Musik zu einem „über-sprachlichen“. Nach ihrer Meinung „spricht“ Musik vom Absoluten, besitzt Gefühl, Struktur, Entwicklung und Logik, verlangt und fördert einen gebildeten Geist. Friedrich Schlegel (1772 bis 1829) verglich Musik mit einer philosophischen Meditation. Eduard Hanslick (1825 bis 1904) schrieb: „Musik ist eine Sprache, die wir sprechen und verstehen, jedoch zu übersetzen nicht imstande sind. Es liegt eine tiefsinnige Erkenntnis darin, dass man auch in Tonwerken von ‚Gedanken‘ spricht. Das Komponieren ist ein Arbeiten des Geistes in geistfähigem Material.“ In Frankreich nannte man das: „penser avec des sons“ – mit Tönen denken.

Für Platon und Aristoteles war Musik als Ausdruck menschlichen Denkens selbstverständlich

Dass die Musik nicht ein leeres Geräusch sei, sondern tiefer Ausdruck menschlichen Denkens, Fühlens und Zusammenlebens, war für antike Philosophen wie Platon und Aristoteles noch selbstverständlich. Platon warnte vor musikalischen Neuerungen, weil sie „die wichtigsten politischen Gesetze“ erschüttern könnten. Melodie und Rhythmus seien nicht nur ein „Abbild des Kosmos“, sondern rührten auch „am tiefsten“ die Seele und seien daher geeignet, junge Menschen zu guten, anständigen, politischen Bürgern zu machen – ein klarer Bildungsauftrag an die Musik! 

Aristoteles betonte, dass Musik der Erziehung diene, aber ebenso dem Vergnügen und damit der seelischen Balance des Menschen. Auch im alten China war die Beschäftigung mit Musik ein Teil des Bildungsideals. Chinesische Gelehrte hatten sich nicht nur in der Literatur auszukennen. Sie mussten auch Go oder Schach beherrschen, mit Wasserfarben malen, die Teezeremonie vollführen – und Musikinstrumente spielen!

Musik als Humanbildung

Mag Musik auch keine „Sprache“ im eigentlichen Sinn sein, so ist sie doch eine wesentliche Kommunikationsform des Homo sapiens. Unsere Gehirnfunktionen sind auf die Wahrnehmung und Analyse von Musik „geeicht“. Musikalische Erlebnisse zu verarbeiten ist ein zentraler Teil menschlicher Erfahrung, Selbsterfahrung und Verständigung. Daher stärkt Musik beim Menschen Gedächtnis und Lernfähigkeit, weckt Fantasie und Kreativität, fördert physische Abwehrkräfte und Leistungsfähigkeit, stabilisiert psychische Gesundheit und Wohlbefinden. 

Gerade in den Jahren der Kindheit und Jugend ist Musik für die Entwicklung der Persönlichkeit unerlässlich. Musikalische Erfahrungen unterstützen nicht nur die Selbstwahrnehmung und das Ich-Empfinden junger Menschen, sondern auch Zusammenhalt, Kooperation und Gemeinschaft. Musik fördert genau das, was Kant einst als Bildungsideal beschrieb: das frei handelnde menschliche Wesen, ein wertvolles Glied der Gesellschaft, aber mit einem „innern Wert“.

Musikalische Teilhabe kann vieles heißen: ein Instrument spielen, ein guter Zuhörer sein, musikalische Strukturen erfassen, musikalische Theorie studieren, Musikgeschichte verstehen… Nicht nur in allen Teilen unseres Gehirns ist die Musik zu Hause, sie spielt auch in alle Geistesdisziplinen hinein, in die Literatur, Linguistik, Mathematik, Physik, Psychologie, Philosophie, Religion, Geschichte… Wenn unsere Schulen weiterhin das Ziel haben, sozial verantwortliche, tolerante, zukunftsfreudige, teamstarke Menschen zu bilden, geht das überhaupt nicht ohne die Hilfe der Musik. 

Gerade in Zeiten ökonomisch orientierter Bildungsprogramme fällt der Musik die wichtige Aufgabe zu, die Lust an der Komplexität zu vermitteln und der Persönlichkeitsentwicklung einen spielerischen, alternativen „Freiraum“ zu bieten. Abseits von zweckrationaler Bildungspolitik will Musik den starken, mündigen Bürger.