Orchestra, Praxis | Von Klaus Härtel

Musik und Kampfsport: Neue Wege im Instrumentalunterricht

Seine eigene Lehr- und Orchestertätigkeit sowie die Erfahrungen im Taekwondo brachten Ulrich Haider dazu, Unterrichts- und Prüfungsverfahren des asiatischen Kampfsports auf die Musik zu übertragen. Nun hat er ein Buch geschrieben. Wir haben nachgefragt.

Auf Anhieb erscheint es recht ungewöhnlich, Kampfsport und Musik in einen Zusammenhang zu stellen. Was gab den Anlass dazu?

Vor allem waren es die vielen Parallelen, die mir nach und nach bewusst geworden sind. Beides, Musik und Kampfsport, braucht Konzentration und viel Übung. Beides hat mit Disziplin und Konsequenz zu tun, aber auch mit Ästhetik und Kreativität. Bei beidem kann man an seine Grenzen gehen und sich permanent weiterentwickeln, ein Leben lang.

Und darüber schreiben Sie gleich ein ganzes Buch?

Schon seit vielen Jahren beschäftigt mich, wie es gelingen kann, das Unterrichtssystem des Kampfsports auf die Musik zu übertragen, denn ich halte es für ausgesprochen effektiv und nachhaltig.

Im Gegensatz zum herkömmlichen Instrumentalunterricht wird im Kampfsport kaum die Verstandesebene, sondern hauptsächlich die Verständnisebene angesprochen. Dies liegt überwiegend an der Struktur des Trainings.

Ein wesentlicher Grundsatz ist, dass Fehler nicht als solche definiert werden, sondern als Möglichkeit zur Entwicklung. Der Lehrer stellt also nicht fest, was falsch ist, sondern gibt Impulse, wie es gelingen kann, sich zu verbessern. Während Instrumentalunterricht in der Regel sehr viel mit Wertungen arbeitet, also »das ist gut« oder »das ist schlecht«, wird im Kampfsport so lange wiederholt, bis eine Erkenntnis eintritt, also ein grundlegendes Verständnis dessen, was erlernt werden soll.

Das Prinzip der Wiederholung gibt es natürlich auch in der Musik. Der Unterschied liegt aber darin, dass im Kampfsport die Wiederholung immer mit Variationen und Erweiterungen der Übungen arbeitet, was ein hohes Maß an Konzentration fordert, aber auch entstehen lässt. Diese Variationen sind nicht konkret vorgegeben, sondern werden vom Lehrer immer wieder neu entwickelt. Aus diesem Grund ist es auch möglich, dass der Unterricht in Gruppen stattfindet, bestehend aus allen Graden, vom Anfänger bis zu Meistergraden. Trotzdem sind alle herausgefordert.

Sollte also Ihrer Meinung nach auch in der Musik viel mehr in Gruppen unterrichtet werden?

Auch wenn ich der Ansicht bin, dass Einzelunterricht in der Musik notwendig ist, um beispielsweise eine Interpretation zu erarbeiten, so zeigt meine Erfahrung, dass Unterricht in der Gruppe viele Vorteile mit sich bringt. Wenn ich bedenke, was ich alles durch das Beobachten anderer Trainingsteilnehmer gelernt habe, ersetzt dies viele Stunden des Einzelunterrichts.

Das Graduierungssystem im Kampfsport mit den unterschiedlichen Gürtelfarben hat einen weiteren positiven Effekt: Mit Ausnahme der Weißgurte, also der wirklichen Anfänger, hat jeder Farbgurt eine Vorbildfunktion für die niedrigeren Grade. Das bedeutet, dass man immer Lernender und Lehrender in einer Person ist.

Je erfahrener ich bin, desto präziser versuche ich die Übung auszuführen, damit der Schüler neben mir von mir lernen kann. Gleichzeitig kann der Blick auf einen höheren Gürtelgrad dazu dienen, Möglichkeiten zur Verbesserung zu erkennen und umzusetzen. Ein höchst effizientes System.

Einen weiteren wichtigen Part übernimmt natürlich der Trainer. Neben den Übungen, die von ihm vorgegeben werden, gibt er weitere Impulse, teils allgemeiner Art, teils individuell auf einzelne Schüler abgestimmt. Unabhängig davon, ob ich direkt angesprochen bin oder nicht, kann ich von diesen Impulsen lernen.

Haben Sie nun eine Möglichkeit gefunden, dieses Lehrprinzip zu übertragen?

Ja. Aber es hat etwas gedauert. Größte Herausforderung war es, Basisübungen zu finden, die Anfänger und Fortgeschrittene gleichermaßen herausfordern, und die variabel genug sind, um fortwährend den Schwierigkeitsgrad zu steigern.

Die Beschäftigung mit den Kompositionen meines Bruders Georg hat mir dazu die zündende Idee gegeben. Schreibt er für Horn, nutzt er alle Naturtonreihen, die das Instrument zu bieten hat. Selbst viele Profimusiker wissen nicht, dass das moderne Horn, wie auch jedes andere Blechblasinstrument, durch die Ventile (oder durch das Zugsystem der Posaune) das Spielen verschiedener Naturtonreihen ermöglicht. Beim Doppelhorn sind es sogar alle zwölf der chromatischen Tonleiter.

Aus diesen Reihen lassen sich eine Vielfalt von Übungen entwickeln, seien es Linien oder Klänge. Die Arbeit mit den Naturtönen hat den Vorteil, dass im Prinzip kaum Vorkenntnisse nötig sind – weder Noten noch Griffe müssen vorher erlernt werden. Gleichzeitig wird den Schülern von Beginn an bewusst, dass überwiegend die Luftführung für die Veränderung der Tönhöhe verantwortlich ist.

Schon mit wenigen Tönen der Naturtonreihe ist es möglich, eine Vielzahl von Übungen zu entwickeln. Als Lehrer gebe ich diese Übungen aber nicht alle vor, vielmehr lasse ich die Schüler kreativ mitwirken. Einer nach dem anderen spielt eine selbst erfundene Linie vor, gemeinsam werden sie nachgespielt. Dieser Wechsel aus Improvisation und deren Nachahmung erfordert selbst bei einfachsten Übungen ein hohes Maß an Konzentration.

Ulrich Haider

Ulrich Haider, 1971 in Erding geboren, wurde bereits mit 16 Jahren als Jungstudierender an der Musikhochschule München aufgenommen. Seine erste Stelle trat er mit 20 Jahren als Wechselhornist am Nürnberger Opernhaus an. Seit September 1993 ist er stellvertretender Solohornist der Münchner Philharmoniker und spielte so noch unter dem legendären Dirigenten Sergiu Celibidache.

Durch seine Tätigkeiten als Orchestervorstand, Personalrat sowie im Team »Spielfeld Klassik«, dem Educationbereich der Münchner Philharmoniker, gewann er einen umfassenden Einblick in die Abläufe eines Orchesters und beschäftigte sich auch mit der Ausbildung und Auswahl von Musikern. Darüber hinaus rief er den »Orchesterrat«, ein Diskussionsforum innerhalb des Orchesters, ins Leben.

Seit 2011 läuft erfolgreich das Familienmusical »Ristorante Allegro«, das Haider gemeinsam mit »Sternschnuppe« für die Philharmoniker initiiert und entwickelt hat. Auch die CD »Ehrensache«, bei der die Blasmusik der Münchner Philharmoniker Märsche unter der Leitung von Lorin Maazel und Zubin Mehta eingespielt hat, ist auf seine Initiative hin entstanden.

2013 rief er die Kooperation zwischen dem Musikbund von Ober- und Niederbayern (MON) und den Münchner Philharmonikern ins Leben und ist seit 2015 Dozent bei der Bläserakademie »advanced«.

Als Autor schreibt er eine regelmäßige Kolumne für die Zeitschrift »Bayerische Blasmusik« sowie Artikel für verschiedene Fachzeitschriften wie »CLARINO« oder »Das Orchester«. Die koreanische Kampfsportart Taekwondo betreibt Haider seit 2003.

Je mehr Naturtöne ins Spiel kommen, umso komplexer werden die Linien. Dabei gilt eines der Grundprinzipien des Kampfsports: Wichtig ist nicht, dass es gelingt, diese Linien sofort nachzuspielen – selbst wenn dies Schwierigkeiten bereitet, wird das Gehör und das musikalische Empfinden geschult. Die Verwendung dynamischer und/oder rhythmischer Komponenten kann den Anspruch der Übungen ebenfalls erhöhen.

Besonders interessant wird es, wenn man auf die klangliche Ebene geht. Als Hornist spielt man im Orchester fast immer in Harmonien, also mehrstimmig. Interessanterweise findet das aber im herkömmlichen Unterricht kaum Beachtung und wird so gut wie nie unterrichtet. Beschäftigt man sich mit Intonation, geht es meist nur um das »zu hoch« oder »zu tief«, also ein Begreifen von Klang auf der rationalen Ebene.

Die Enttäuschung ist oft groß, wenn es im entscheidenden Moment trotzdem »nicht stimmt«. Das liegt schlicht und ergreifend daran, dass Klang so lange trainiert werden muss, bis es dem Spieler möglich ist, intuitiv auf die Klanglichkeit zu reagieren, also auf die Komponenten Balance, Funktion (zum Beispiel Grundton, Terz, Quint usw.) und natürlich auch die Tonhöhe.

Auch hier sind Naturtöne ein fantastisches Übungsprinzip. Die Naturtonreihe entspricht der Obertonreihe, die bei jedem nicht synthetisch erzeugten Ton klingt und auf bestimmten Frequenzverhältnissen basiert. Selbst für ein ungeschultes Ohr ist es beispielsweise recht einfach, wahrzunehmen, ob eine Naturquinte stimmt, nämlich dann, wenn es keine Schwebungen gibt. Dieses Suchen nach dem Klang lässt sich mit den Naturtönen hervorragend trainieren und wird früher oder später zu einer intuitiven Wahrnehmung von Intonation führen.

In meinem Buch habe ich verschiedene Übungsbeispiele aufgeführt, auch mit Tonleitern und Dreiklängen. Ich wollte aber keine Schule herausgeben, denn das plumpe Nachspielen bringt meiner Meinung nach nicht den gleichen positiven Effekt, wie ein kreatives Suchen nach Übungen. Auch das Arbeiten ohne Noten hat hier große Vorteile, da die Wahrnehmung nicht durch die visuelle Komponente eines Notenbildes abgelenkt wird.

Ist das jetzt reine Theorie oder wenden Sie dieses Unterrichtsprinzip auch an?

Natürlich habe ich diese Art des Unterrichts in der Praxis getestet, vor allem in der Bläserakademie »advanced« des Musikbundes von Ober- und Niederbayern, bei der ich als Dozent tätig bin. In verschiedenen Workshops habe ich mit Studenten und Profis gearbeitet. Immer wieder ist es für mich beeindruckend, wie schnell durch dieses Unterrichtsprinzip Fortschritte erzielt werden, ganz besonders im Hinblick auf das klangliche Empfinden.

Ein weiterer wichtiger Aspekt Ihres Buches ist das Thema Prüfungen.

In der Tat halte ich dieses Thema für enorm wichtig. Meiner Meinung nach ist hier eine grundlegende Änderung notwendig, weg von einem System, das eine momentane Leistung überprüft, hin zu einem Prüfungsprinzip, das die persönliche Entwicklung betrachtet.

Gerade das sinnlose Abfragen von momentanen Leistungen führt dazu, dass in der Musik Angst ein großes Thema ist, besonders die vor Fehlern. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Verwendung von Betablockern, also Angst hemmenden Medikamenten, im Profibereich weit verbreitet ist.

Ändert man die Prüfungs- aber auch die Auswahlsysteme, kann hier ein grundlegender Wandel stattfinden. Im Gegensatz zur Musik habe ich Prüfungen im Kampfsport immer als Entwicklungsschritt erlebt. Das liegt daran, dass es in Kampfsportprüfungen nicht darum geht, etwas richtig zu machen, sondern eine besondere Herausforderung zu bewältigen.

Der Prüfer ist dabei nicht unbeteiligt, sondern trägt aktiv dazu bei, dass dies gelingt. Das ist eine komplett andere Situation als die in der Musik verbreitete Praxis des Wertens einer passiven Jury, bei der man entweder als Gewinner oder Verlierer herausgeht, und die häufig zu Frustration führt. Frustration und Musik, aber auch Angst und Musik passen meiner Meinung nach nicht zusammen.

Deshalb beschäftigen Sie sich auch mit dem Thema Probespiele.

Ja, denn diese Art der Auswahl für zukünftige Kollegen im Orchester ist für mich unsinnig. Im Probespiel werden so gut wie keine Qualitäten abgefragt, die im Orchester gebraucht werden. Vielmehr wird ein System erzeugt, das denjenigen gewinnen lässt, der am besten mit Stress umgehen kann, sei es durch Übung oder durch Medikamente.

Das führt dazu, dass man sich im Musikstudium jahrelang mit den immergleichen Solokonzerten und Orchesterstellen beschäftigt, anstatt alle Facetten der Musik zu suchen und daraus eine eigenständige künstlerische Persönlichkeit zu entwickeln.

In meinem Buch versuche ich aber nicht nur zu kritisieren, sondern eine andere Möglichkeit aufzuzeigen. Dabei beziehe ich mich ausschließlich auf das Horn, weil ich dort am besten Bescheid weiß. Jede Gruppe sollte die Aufnahmeverfahren so gestalten, dass diejenigen Fähigkeiten zu erkennen sind, die im Orchester tatsächlich gebraucht werden. Diese sind bei verschiedenen Positionen und Instrumenten sehr unterschiedlich.