Orchestra | Von Kristin Thielemann

Musikpädagogik – was ist das? Gedanken einer Lehrerin

Foto: Antje Kroll-Witzer

Was machen Sie beruflich? – Ich bin Musikpädagogin. Musikpädagogik? Im Gesicht meines Gegenübers ist ein großes Fragezeichen zu sehen. Manche Gesprächspartner fragen an dieser ­Stelle weiter. Bereitwillig gebe ich Auskunft über meinen Job: Ja, ich bin Musiklehrerin und unterrichte Trompete. Einige meiner Schülerinnen und Schüler sagen auch, dass ich ihr Musik-Coach bin. Die meisten empfinden mich eher als eine Art Lernbegleitung und mein jüngster Schüler behauptete neulich, ich wäre seine Musik-Influencerin. 

Was bedeutet überhaupt Musikpädagogik? Laut Duden ist die Musikpädagogik die Wissenschaft im Fach Musik. Aber die Wissenschaft ist natürlich nur ein Teil des Berufs. Denn wichtig ist immer, ob Menschen in meinem Job in der Lage sind, die Theorie in die Praxis zu übertragen. Wer jemals 30 Minuten mit einer Schülerin oder einem Schüler in der Absicht verbracht hat, ihr oder ihm etwas beizubringen, wird schnell feststellen: Theoretisches Wissen ist gut, aber die praktische Anwendung dessen ist entscheidend. Daher gibt es im Studium der Musikpädagogik (mancherorts auch “Music Education” genannt), welches bis vor einiger Zeit an manchen Hochschulen auch unter dem Begriff “Musikerziehung” lief, viele Praxisfächer.

Die Abschaffung des Begriffs “Musikerziehung” feiere ich bis heute im Stillen, denn wer möchte allen Erns­tes schon sein Leben damit verbringen, Menschen irgendwohin zu ziehen, zu erziehen? Wer sich auch nur ein klein wenig mit Motivation auseinandergesetzt hat, wird wissen, dass Menschen viel leichter laufen, wenn sie es von sich aus möchten. Jemanden motivieren zu wollen (oder gar zu müssen) oder jemanden zu “erziehen” halte ich für eine fragwürdige Angelegenheit. 

Wissen erweist sich als nützlich

Was ich in der Unterrichtspraxis heute sehr häufig von den Fächern aus meinem Studium ­brauche, ist das Können, was ich in Dirigierunterricht und Ensembleleitung erlernt habe. Denn umsichtige Dozenten (ja, es waren nur Männer!) haben uns neben sauberer Dirigiertechnik (hieß damals “Schlagtechnik”) vor allem beigebracht, gute Arrangements zu schreiben und eine große Horde junger Musizierender unter Kontrolle zu halten. Auch die zunächst von mir als ungeheuer trocken empfundenen Fächer Musiktheorie und Gehörbildung haben jetzt, in der Unter­richts­praxis, ganz neuen Charme entwickelt, weil das Wissen hieraus sich als wirklich nützlich er­wiesen hat.

Als 19-Jährige fand ich es noch befremdlich, im leicht muffig riechenden Gehör­bildungs­raum der Musikhochschule mit fünf ­anderen Studierenden an weit auseinander­liegenden Tischen zu sitzen und zu versuchen, das Gehörte aufzuschreiben. Unser Professor, dessen Garderobe nur aus einem einzigen abgetragenen grünen Anzug zu bestehen schien und der vor jeder Stunde mit den Fingern seine wilden grauen Haare zu bändigen versuchte, war ein ­ungeduldiger Mensch. Häufig sprang er wild gestikulierend im Raum herum, bevor er sich an seinen alten schwarzen Steinway-Flügel setzte, um dann mehr oder weniger geduldig durch die Grundfunktionen der tonalen Harmonielehre zu modulieren. Wenn es ihm zu langweilig mit uns wurde, baute er ungewöhnliche Wendungen ein, kicherte und kommentierte: “Ja, das hätten Sie jetzt nicht gedacht, was?”

Auch in Didaktik werden während des Studiums die Grundlagen gelegt

Kürzlich habe ich mich dabei ertappt, wie ich beim Begleiten eines 15-jährigen Trompetenschülers auf dem Klavier absichtlich auch einige “wilde” Akkorde einbaute, um ihn zu über­raschen. Es funktionierte! Er musste tatsächlich lachen! Aber noch mehr lachte er über meine Anekdoten aus dem Gehörbildungsunterricht der Hochschule. Zudem versprach er, mich darauf hinzuweisen, wenn es in meinem Unterrichtszimmer abgestanden riechen oder ich auf ihn in irgendeiner Weise wunderlich wirken würde.

Ein weiteres Fach, in dem während des Studiums die Grundlagen gelegt werden, ist Didaktik, also frei übersetzt die Kunst des Unterrichtens. Ergänzt durch Inhalte aus Pädagogik und Psychologie erwirbt man so das wichtige Können für die Praxis. Wie erklärt man die Grundfunktionen eines Ansatzes auf der Trompete? Wie kann ich einem Kind oder Jugendlichen eine gute Atmung näherbringen? Welche Stücke nutze ich für das Training von Doppel- oder Triolenzunge? Welche Methoden eignen sich, um Schülerinnen und Schüler fürs Üben zu begeistern? 

Unterrichtsvorbereitung

Hineingeworfen in die musikpädogische Praxis, also der ersten Stelle an einer Musikschule oder beim Unterrichten von Privatschülern, nimmt das Wissen in all diesen Teilbereichen enorm zu. Ich sah mich im Alter von 21 Jahren zusätzlich zu meinem Zeitvertrag in einem norddeutschen Sinfonieorchester einer Klasse von 18 Trompetenschülerinnen und -schülern zwischen fünf und 18 Jahren gegenüber. Einen Ausreißer nach oben bildete ein pensionierter Pfarrer; der 78-Jährige war ein Hobby-Trompeter aus einem Posaunenchor, der durch seine neuen dritten Zähne in Ansatzschwierigkeiten geraten war und mit dem ich meine liebe Not hatte: “Also, Frau Thielemann, wenn ich Töne anstoße, geht das bei mir am besten mit den Silben mü – mü – mü oder auch mit pfü – pfü – pfü…”

Dinge wie Unterrichtsvorbereitung, die Organisation von Schülerkonzerten oder ein schlichter Stundenplanbau kosteten mich damals halbe Nächte. Heute organisiere ich so etwas praktisch nebenbei. Lisa, 14 Jahre alt, wünscht sich das Arrangement eines neuen Popsongs? Ich höre das Stück einmal an und kann ihr die Melodie sofort auf dem Instrument vorspielen. Und während sie noch übt, tippe ich die Töne in mein Notationssprogramm. Die dazu passenden Akkorde lege ich in eine Musiksoftware, schnell eine vorgefertigte Schlagzeugstimme dahinter und tippe auf “mp3 exportieren”. Noch bevor Lisa die erste Minute des Stücks fehlerfrei spielen kann, habe ich Noten und Begleitmusik an ihr Tablet gesendet. 

Grundlagen für die Musikpädagogik werden oft in der Kindheit gelegt

Tipps hierzu gab es im Austausch mit Kolle­ginnen und Kollegen der Musikschule, anderes habe ich selbst entdeckt. Bei vielen Dingen kam mir zugute, dass ich mittlerweile seit bald 15 Jahren die neuesten Fachbücher der Musikpädagogik für einige große Zeitschriften rezensieren darf. Die Grundlagen zu all diesen Fähigkeiten sind allerdings in der Kindheit gelegt worden: Denn nur wer sein Instrument wirklich beherrscht, wird dieses Wissen anderen vermitteln können. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen der Musikschule, an der ich arbeite, haben als Kinder mit dem Spiel ihres Instruments begonnen und Jahre ihres Lebens investiert, um eine Expertise zu erlangen, die es ihnen ermöglicht, anderen Menschen etwas beizubringen. Wer manche Diskussion in Social Media verfolgt, ob man nun einen Vertrag unterschreiben solle, der für viermal 30 Minuten Einzelunterricht ein Honorar von 40 Euro vorsieht, hat nicht den Eindruck, es mit einem Beruf zu tun zu haben, welcher eine solch intensive Ausbildung erfordert. 

Musikpädagogik

Und beim Stichwort Bezahlung sind wir natürlich auch schon beim Kernpunkt angekommen, weswegen viele Menschen, die ein grandioses Talent zum Unterrichten hätten und zudem über das instrumentale Know-how verfügen, einen anderen Beruf wählen. In der Regel ist es so, dass wer nicht gerade über eine Festanstellung an einer Musikschule verfügt und nach dem TVöD bezahlt wird, entweder eine unfassbar große Zahl an Schülerinnen und Schülern unterrichten muss oder gezwungen ist, sich ein weite­res berufliches Standbein aufzubauen. Manche haben dieses Standbein als Musikschulleiter, Dirigent oder freiberuflicher Musiker bei Konzerten gefunden. Eine Saxofonlehrerin aus meinem Bekanntenkreis unterrichtet beispielsweise leidenschaftlich ein 30-Prozent-Pensum an einer Musikschule, bestreitet den Hauptteil ihres Lebensunterhalts aber als Dolmetscherin. 

Fehlende finanzielle Anreize für die Musikpädagogik

Dass dieser Zustand äußerst bedauerlich ist, da durch fehlende finanzielle Anreize der nächsten Generation viele motivierte Musikpädagoginnen und -pädagogen “abhandenkommen”, viel zu schnell verheizt werden, im Alter auf staatliche Unterstützung angewiesen sein werden oder an der Armutsgrenze leben, findet leider noch immer auf breiter Front keine schlagkräftige Lobby. Da kann lange argumentiert werden, wie sinnvoll das Musi­zieren für Kinder und Jugendliche ist, oder auch, dass wir Musikpädagoginnen und -pädagogen unser Kulturgut Musik an die nächste Generation weitergeben – das scheint irgendwie nicht ins kollektive Bewusstsein vorzudringen. Deshalb ist eine häufig gestellte Frage von Eltern leider immer noch: “Und was machen Sie beruflich?” 

Nichtsdestotrotz ist Musikpädagogin bzw. Musikpädagoge ein abwechslungsreicher, spannender und kreativer Beruf. Natürlich gefällt es mir, vormittags auszuschlafen und nach dem späten Frühstück meine Unterrichtsvorbereitung am Kaffeetisch zu machen. Lisa braucht wieder einen Pop-Song, für Mischa bestelle ich ein ­neues Notenheft im Internet, nebenher arbeite ich am zweiten Teil meiner Rhythmusschule, die ich gerne allen meinen Schülerinnen und Schülern gratis zur Verfügung stellen möchte.

Das Handy klingelt und eine Mutter möchte ihren fünfjährigen Sohn zur Probestunde anmelden. Sie braucht Beratung, ob ihr Kind nicht zu jung für den Unterricht ist, was eine neue Trompete kostet und wo sie ein Leihinstrument bekommt. Gegen 11 Uhr piept sich der Musikschullehrer-Chat heiß. Die Kollegen planen ein Grillfest im Innenhof der Musikschule, welches am nächsten Freitag nach dem Unterrichten statt­finden soll, um das Wochenende einzuläuten, und der Dirigent des Musikschul-Blasorchesters sucht noch nach einigen fortgeschrittenen Schülerinnen und Schülern, die in seinem unterbesetzten Konzert am nächsten Wochenende Aushilfe spielen könnten. 

“Musik ist mein Leben!”

Bevor ich kurz nach dem Mittagessen mit dem Fahrrad zur Musikschule radele, öffne ich meinen Briefkasten. Mit fällt ein großer, stabiler ­Umschlag auf, auf dem mein Name prangt. Der Absender ist ein ehemaliger Schüler, der bereits vor zehn Jahren ins Musikstudium gegangen ist und sein Geld mittlerweile als Jazz-Trompeter verdient. Mein Herz schlägt höher. Ich öffne den Umschlag. Neben einer CD mit einem blonden jungen Mann auf dem Cover fällt mir ein kleiner Brief in die Hände. “Liebe Krissi! Hier die neue CD meiner Jazz-Band. Viel Spaß beim Hören und danke für alles! Musik ist mein Leben!”

Meine Erinnerungen gehen zurück zu dem Tag, an dem der Kleine das erste Mal bei mir in der Musikschule war. Er konnte noch nicht lesen, also haben wir seine Hausaufgaben zunächst ­immer aufgemalt. Noten lernte er mit Farben: das blaue C, das rote D, das gelbe E… Als nach dem Ton Fis auch das Cis hinzukam, schaute er mich fragend an: “Gibt’s da etwa noch mehr?” Ich muss heute noch darüber schmunzeln und drehe gedankenverloren die CD in meinen Händen. Die Melodie von “Freude schöner Götterfunken” aus Beethovens 9. Sinfonie gefiel ihm früher. Aus dem Stegreif hatte ich ihm im Unterricht etwas über Beethoven erzählen wollen. 56 Jahre alt war dieser großartige Komponist geworden, hatte ich verkündet. “56 Jahre nur?”, erwiderte er prompt. “Hat der geraucht?”

Während ich durch die sonnigen Straßen zur Musik­schule radele, den Trompeten-Rucksack auf meinen Schultern spüre und mir der Sommerwind um die Nase weht, weiß ich, dass ich ganz sicher nicht den bestbezahlten, aber einen wunderbaren Job habe. Musik berührt Menschen und ein guter Musikunterricht kann ihr ganzes Leben verändern. Diese vielen tollen Momente als Musikerin und Musikpädagogin sind viel mehr wert als alles Geld der Welt. 

Musikpädagogin

Kristin Thielemann 

studierte Orchestermusik, Trompete und Musikpädagogik an der Musikhoch­schule Lübeck und war Stipendiatin der Richard-Wagner-Stiftung und der Münchner Philharmoniker. Bereits während des Studiums stand sie als Trompeterin im Orchester der Deutschen Oper Berlin unter Vertrag. Ihr Ratgeber “Jedes Kind ist musikalisch” (Schott Music) wurde ins Chinesische übersetzt und “Voll motiviert! Erfolgsrezepte für Ihren Unterricht” (Schott Music) ist eine der meistverkauften Veröffentlichungen der praktischen Musikpädagogik. 

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