Orchestra | Von Klaus Härtel

Neues Werk von Rolf Rudin: Hildegard – Lichtgestalt

Hildegard

Die Rheinhessische Bläserphilharmonie steht vor einem außergewöhnlichen Ereignis: Sie feiert ihr Jubiläum mit einem Auftragswerk, das einer der bedeutendsten Persönlichkeiten Rheinhessens gewidmet ist – Hildegard von Bingen. Unter der Leitung des Dirigenten Stefan Grefig entstand die kühne Vision, die vielschichtige Persönlichkeit dieser Mystikerin, Visionärin und Universalgelehrten in ein eigens dafür komponiertes Werk zu fassen.

Rheinhessen ist weit mehr als Wein, weiß Stefan Grefig, weshalb er sich sehr genau mit dem Thema für das Jubiläum beschäftigt hat. Am 23. März steigt die Welturaufführung und der Dirigent schwankt zwischen Respekt und Vorfreude. Musikerin und Verantwortliche für Öffentlichkeitsarbeit, Alexandra Rehn veranschaulicht: »Vor einem Konzert muss es sein wie bei einem Rennpferd. Du hast einen positiven Stress, eine positive Aufregung, aber du freust dich, dass du endlich losrennen kannst und zeigen, was du draufhast.«

Die Initialzündung: Eine Zugfahrt und die Vision von Hildegard

Die Idee zu diesem außergewöhnlichen Projekt wurde während des Internationalen Blasmusik-Kongress in Ulm im Jahr 2020 geboren. Stefan Grefig und die Präsidentin der Rheinhessischen Bläserphilharmonie, Annegret Klocker, nutzten die gemeinsame Zugfahrt zurück nach Rheinhessen, um über die Gestaltung des Jubiläums im Jahr 2024 zu brainstormen. Schnell reifte der Gedanke, eine Persönlichkeit aus der Region in den Mittelpunkt zu stellen und die Wahl fiel auf Hildegard von Bingen, deren Wirken und Strahlkraft weit über die Grenzen Rheinhessens hinausreichen.

Für Grefig war es von großer Bedeutung, Rheinhessen nicht nur durch den allgegenwärtigen Wein zu repräsentieren, sondern durch eine außergewöhnliche Persönlichkeit, die in der Lage ist, die Region auf einer tieferen, kulturellen Ebene zu repräsentieren. Hildegard von Bingen, eine Frau von internationalem Rang, schien ihm dafür die ideale Besetzung zu sein.

Rolf Rudin: Der ideale Komponist für ein tiefgründiges Werk

Die Frage, wer diese anspruchsvolle Aufgabe der musikalischen Umsetzung übernehmen sollte, beantwortete sich für Grefig fast von selbst: Rolf Rudin, ein Komponist, dessen Werke er seit langem schätzt. Rudins Kompositionen zeichnen sich durch ihre Tiefe, ihre kompositorische Meisterschaft und ihre Fähigkeit aus, komplexe Themen auf musikalisch anspruchsvolle Weise zu verarbeiten. »Seine Kompositionen sind tiefgreifend, nicht nur im Sinne der Kompositionstechnik«, betont Grefig. »Er schreibt sie nicht innerhalb von vier, fünf Wochen.« Die Begegnung mit Rudin auf der Konferenz in Ulm bestärkte Grefig in ihrer Entscheidung, ihm den Auftrag für das Werk zu erteilen. Obwohl Rudin zu diesem Zeitpunkt noch nichts von den Plänen der Rheinhessischen Bläserphilharmonie ahnte, war der Grundstein für eine außergewöhnliche Zusammenarbeit gelegt.

Hildegard
Komponist Rolf Rudin (links) und Dirigent Stefan Grefig bei der Partitur-Übergabe (Foto: privat)

Die darauffolgende Corona-Pandemie stellte das Projekt vor unerwartete Herausforderungen. Die Probenarbeit wurde erschwert und die Unsicherheit über die Durchführung von Konzerten wuchs. Trotz dieser Widrigkeiten gelang es der Rheinhessischen Bläserphilharmonie, Gelder für die Finanzierung des Auftragswerks zu generieren.

Die Faszination für Hildegard von Bingen: Eine ganzheitliche Sichtweise

Was Stefan Grefig persönlich an Hildegard von Bingen fasziniert, ist ihre ganzheitliche Sichtweise auf die Welt. Die Verbindung von Geistigem und Körperlichem, die sich in ihrer ganzheitlichen Betrachtung von Ernährung, Gesundheit und Spiritualität widerspiegelt, fasziniert ihn zutiefst. »Mich begeistert diese ganzheitliche Sicht«, erklärt Grefig. Diese ganzheitliche Sichtweise spiegelt sich auch in Grefigs eigener Arbeit als Dirigent und Coach wider. Er ist davon überzeugt, dass Musik und Spiritualität eng miteinander verbunden sind und dass ein tieferes Verständnis der menschlichen Natur zu einer intensiveren musikalischen Erfahrung führen kann. 

Hildegard von Bingens Weltsicht, die so modern wie eh und je ist, kann als Inspiration für die heutige Zeit dienen. »Sie ermutigt uns, über den Tellerrand hinauszublicken, uns mit unserer Umwelt auseinanderzusetzen und uns einem höheren Sinn zu verpflichten.«

Hildegard von Bingen und die Medizin: Ganzheitlicher Ansatz

Ein Aspekt von Hildegard von Bingens Wirken, der in der heutigen Zeit besondere Relevanz besitzt, ist ihr Beitrag zur Medizin. Sie entwickelte eine ganzheitliche Sichtweise auf die Gesundheit des Menschen, die Körper, Geist und Seele in Einklang bringt. Sie beobachtete die Natur genau und erkannte die Heilkräfte von Pflanzen und Kräutern. Hildegard von Bingen war jedoch nicht nur eine »Heilkräuterdame«, erklärt Grefig. Sie beschäftigte sich auch intensiv mit der menschlichen Psyche und den Einflüssen von Emotionen auf die Gesundheit. Ihre Lehren über den Umgang mit Stress, Angst und Trauer sind auch heute noch von Bedeutung.

Die Komposition: Eine Sinfonie in sieben Sätzen

Nachdem Rolf Rudin den Auftrag angenommen hatte, begann er mit der intensiven Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk von Hildegard von Bingen. Er tauchte tief in ihre Schriften ein, studierte ihre Visionen und setzte sich mit ihrer Musik auseinander. Schnell wurde ihm klar, dass es sich bei diesem Projekt um mehr handelte als nur um ein bloßes Auftragswerk. Er wollte ein musikalisches Denkmal schaffen, das die Vielschichtigkeit von Hildegard von Bingens Persönlichkeit widerspiegelt und ihre Botschaft in die heutige Zeit transportiert.

Es entstand eine Sinfonie in sieben Sätzen, die sich auf vielfältige Weise mit Hildegard von Bingen auseinandersetzt. Jeder Satz beleuchtet einen anderen Aspekt ihres Lebens und Wirkens und trägt dazu bei, ein umfassendes Bild dieser außergewöhnlichen Frau zu zeichnen.

Ein Gewölbe ins Mittelalter: Satz 1 und 7

Die ersten und letzten Sätze der Sinfonie bilden ein musikalisches Gewölbe, das den Zuhörer in das Mittelalter entführt. Rudin verwendet Gregorianik, Leonin Organum und Anklänge an den französischen Komponisten Olivier Messiaen, um eine mystische Atmosphäre zu schaffen, die an die Welt von Hildegard von Bingen erinnert.

Der Gang zum Disibodenberg: Satz 2

Der zweite Satz erzählt von Hildegards Gang zum Disibodenberg, wo sie als Achtjährige in ein Kloster eintrat. Rudin verzichtet auf eine rein illustrative Darstellung und konzentriert sich stattdessen auf die musikalische Umsetzung der Prozession und der spirituellen Bedeutung dieses Ortes.

Sancta Viriditas: Satz 3

Der dritte Satz trägt den Titel »Sancta Viriditas«, ein Begriff, den Hildegard von Bingen prägte,
um die Lebenskraft und die schöpferische Energie der Natur zu beschreiben. Rudin schuf einen gotischen Tanz, der die Fülle des Lebens feiert und von neoklassizistischen Klängen durchzogen ist.

Das Mysterium der Visionen: Satz 4

Der vierte Satz widmet sich dem Mysterium von Hildegards Visionen und dem Erwachen der Natur. Rudin verwendet impressionistische Klänge und atmosphärische Effekte, um die transzendente Erfahrung von Hildegards Visionen musikalisch darzustellen.

Caritas Abundat in Omnia: Satz 5

Der fünfte Satz trägt den Titel »Caritas Abundat in Omnia« und thematisiert die Verbindung zwischen Hildegard von Bingen und ihrem Schreiber Volmar sowie ihre Beziehung zu Richardis von Stade, einer jungen Nonne, die Hildegards Kompositionen aufführte. Rudin verwendet Wortfetzen aus Hildegards Texten, die in das Orchester eingewoben werden, um eine subtile, aber wirkungsvolle Atmosphäre zu erzeugen.

Die Vision von 1141: Satz 6

Der sechste Satz ist der Vision von 1141 gewidmet, die Hildegard von Bingen im Alter von
43 Jahren hatte. Rudin verwendet Anagramme und den Goldenen Schnitt, um die Struktur der Vision musikalisch darzustellen und eine tiefgründige, meditative Atmosphäre zu schaffen.

Hildegard
Foto: Gregor Schläger

Die Herausforderungen und Besonderheiten für die Musiker

Die Aufführung von Rudins Sinfonie stellt die Musiker der Rheinhessischen Bläserphilharmonie vor besondere Herausforderungen. Schon allein die Dauer – das Werk ist auf etwa 45 Minuten angelegt – stellt Anspruch an Ausdauer und Konzentration. Die bisweilen ungewohnte Klangsprache, die komplexen Rhythmen und die kammermusikalische Struktur des Werks erfordern ein hohes Maß an technischer Fertigkeit und musikalischer Sensibilität. Grefig betont, dass die »Besonderheit der Klänge« und die Abwesenheit typischer Blasorchester-Elemente eine Umgewöhnung erfordern. Es ist ein »sehr offenes, kammermusikalisches Werk, das fernab von reinem Dur-Moll-Denken liegt«.

Die Musiker mussten sich zunächst »reinhören« und das Werk »begreifen«. Grefig vergleicht diesen Prozess mit einer »Annäherung an Hildegard von Bingen«, wie es auch Rudin in seiner Komposition ausdrückt. Die Auseinandersetzung mit Gregorianik, Strawinsky und Messiaen erfordert ein Verlassen des musikalischen Mainstreams. Die Vorbereitung auf die Aufführung war ein intensiver Prozess. Rudin schickte Grefig die handschriftliche Partitur, während die Musiker die digitalisierte Version erhielten. Grefig selbst verbrachte »Stunden am Klavier«, um die Kompositionstechniken Rudins zu begreifen. Er freut sich darüber, dass er auch nach Wochen des Studiums immer noch Neues in der Partitur entdeckt.

Ein Werk mit Tiefgang und Bedeutung

Die Rheinhessische Bläserphilharmonie und Rolf Rudin haben mit diesem Auftragswerk ein beeindruckendes musikalisches Denkmal geschaffen, das Hildegard von Bingen auf einzigartige Weise ehrt und die Zuhörer in eine tiefgründige Klangwelt entführt.

Das Werk ist nicht nur eine Hommage an eine außergewöhnliche Frau, sondern auch eine Einladung, sich mit den großen Fragen des Lebens auseinanderzusetzen und eine neue Perspektive auf die Welt zu gewinnen.

»Es ist mehr als nur ein Programmstück«, betont Grefig. »Es ist eine Sinfonie, die tief in Hildegards Welt eintaucht und uns dazu anregt, über unsere eigene Existenz nachzudenken.«

Die Uraufführung des Werks wird ein besonderes Ereignis für die Rheinhessische Bläserphilharmonie und für die gesamte Region Rheinhessen sein. Es ist ein Zeichen für die kulturelle Vielfalt und den Reichtum der Region und ein Beweis dafür, dass Musik in der Lage ist, Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu bauen und Menschen unterschiedlicher Herkunft und Weltanschauung zu verbinden.

Grefig teilt eine persönliche Anekdote, die seine Verbindung zu Hildegard von Bingen und ihrer Welt noch weiter vertieft: Während eines Betriebsausflugs mit dem Landespolizeiorchester Rheinland-Pfalz besuchte er den Disibodenberg, ohne zunächst zu wissen, welche Bedeutung dieser Ort für Hildegard hatte. »Ich musste stehenbleiben, weil ich auf einmal solch eine Energie von oben herunter verspürte«, erinnert sich Grefig. »Hier – und das erfuhr ich erst im Anschluss an die Führung – hatte Hildegard wohl ihre erste Vision« Diese Begegnung bestärkte Grefig in seiner Überzeugung, dass Hildegard von Bingen eine außergewöhnliche Persönlichkeit war, deren Botschaft auch heute noch relevant ist.

Fazit: Ein musikalisches Denkmal für die Ewigkeit

Die Sinfonie für Blasorchester, die Rolf Rudin im Auftrag der Rheinhessischen Bläserphilharmonie geschaffen hat, ist mehr als nur ein Konzertstück. Sie soll ein musikalisches Denkmal für Hildegard von Bingen sein, eine Hommage an ihre Visionen, ihre Weisheit und ihren unermüd­lichen Einsatz für die Menschen. Das Werk soll ein Ausdruck der kulturellen Vielfalt und des Reichtums der Region Rheinhessen sein und ein Beweis dafür, dass Musik in der Lage ist, Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu bauen und Menschen unterschiedlicher Herkunft und Weltanschauung zu verbinden.

Die Uraufführung der Sinfonie wird ein besonderes Ereignis sein, das die Zuhörer in eine tiefgründige Klangwelt entführt und sie dazu anregt, über die großen Fragen des Lebens nachzudenken. Es ist ein musikalisches Denkmal für die Ewigkeit, das Hildegard von Bingens Botschaft in die Zukunft trägt. 

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Hildegard – Lichtgestalt 

Die Sinfonie Nr. 7 »Hildegard – Lichtgestalt« ist eine musikalische Hommage an die große Universalgelehrte aus Rheinhessen. Rolf Rudin hat sich von Hildegards schriftlich überlieferten Visionen und der Musik ihrer Zeit inspirieren lassen. In der siebensätzigen Sinfonie verbindet er historische Motive und mittelalterliche Klänge mit modernen Stilmitteln.

Entstanden ist eine Komposition mit regionalem Bezug und musikalischem Tiefgang, die das Publikum mitnimmt auf eine Zeitreise zurück ins 12. Jahrhundert und zugleich eine Brücke zur Gegenwart schlägt. Abseits ausgetretener Pfade und mit höchstem künstlerischem Anspruch rückt die Sinfonie Nr. 7 »Hildegard – Lichtgestalt« das Leben und Schaffen dieser besonderen Frau in den Fokus.

Jeweils 30 Minuten vor Konzertbeginn gibt der Komponist Rolf Rudin eine Werkeinführung.

www.rheinhessische-blaeserphilharmonie.de