Wood | Von Klaus Härtel

Nicole Johänntgen: Keine Langeweile im Lockdown

Nicole Johänntgen
Foto: Daniel Bernet

Momentan ist es ja so, dass Musikerinnen und Musiker – gezwungenermaßen – die Zeit finden, sich anderen Themen zu widmen als ihren Auftritten vor Publikum. Das ist nicht schön, doch man möchte eben allen Widrigkeiten zum Trotz das Beste daraus machen. Man kann viel nachdenken, viel üben, viel komponieren – solche Dinge. Nicole Johänntgen gehört sicher erst recht nicht zu den Künstlern, die gelangweilt Löcher in die Luft starren, während sie das Ende der Pandemie herbeisehnen.

Jetzt ist Nicoles erstes Saxofon-Arbeitsbuch verfügbar! 39 neue Songs, einschließlich MP3s zum Mitspielen. Musikalisch bewegen sich die Songs zwischen Klassik, Jazz, Pop und manchmal sogar Tango. Das Workbook ist ein buntes Paket für Anfänger und Fortgeschrittene am Saxofon, aber auch allen anderen Es-, B- und C-Instrumenten. Wir erreichen Nicole Johänntgen in Zürich via Skype.

Nicole Johänntgen

Gleich am Anfang des Gesprächs bestätigt die gebürtige Saarländerin, dass das Workbook eine Idee war, die sie schon lange im Kopf hatte, für die ihr bislang aber tatsächlich die Zeit fehlte, ­alles aufzuschreiben. “Während Corona hatte ich viel Zeit, die ich wirklich produktiv genutzt habe.” Und zwar so, wie man Nicole Johänntgen kennt: “Ich habe einfach alles, was mir in der ­Birne umherschwirrte, zu Papier gebracht.” Sie lacht. Und da “meine magische Zahl dieses Jahr die 39 ist, habe ich 39 Songs komponiert”. 

Magische Zahl? “Ich bin 39 Jahre jung geworden! Da war für mich klar: 39 Jahre gleich 39 Songs. Solch ein Leitfaden erzeugt in mir dann einen gewissen Druck, der mich gerne auf das Ziel hinarbeiten lässt. Mit Corona war es dann einfach an der Zeit – und dann habe die Songs einfach geschrieben.” 

39 Songs unterschiedlicher Stilistiken und Schwierigkeit

Die haben dann solch klang- und fantasievolle Namen wie “Nobody can know what you know”, “Dickmaulrüssler”, “Coffee and croissant”, “Bergsee”, “Couch potatoe” oder schlicht “Love”. Die 39 Songs halten unterschiedliche Stilistiken – Jazz, Klassik, Rock, Pop – und Schwierigkeitsgrade bereit. “Man kann als Anfänger mitspielen, aber auch als fortgeschrittener Musiker. Ich habe mir mit dem Workbook einen kleinen Traum erfüllt, ich habe es geschafft!” Ihre fast kindliche Begeisterung mischt sich mit Stolz. Ab und zu werden die Stücke mit Tipps unterbrochen: Übungen zu Intonation und Klang, zu tiefen Tönen und wie man sich einen Übeplan erstellt. Die Haltung wird erklärt. Die Aufforderung zur Improvisation etwa klingt so: “Geh in dein Badezimmer und spiele frei! Keine Tonleiter, kein bekanntes Lied! Spiele einfach ein paar Noten, die du jetzt gerne spielen würdest.”

Das Ziel der Saxofonistin war nicht, ein Lehr­mittel zu produzieren, bei dem man bei A startet und bei Z endet. “Es ist so, wie mir der Schnabel gewachsen ist, die Stücke sind querbeet. Da kann ein Stück am Anfang schwer sein und das nächste Stück wieder leichter.” Sie habe dabei schon an ihre eigenen Anfänge zurückgedacht. “Da gab es auch immer wieder Stücke, die ich nicht so gut konnte. Aber es wurde immer schwieriger und dann musste ich wieder zurück… Bei diesem Workbook ist es so: Wenn dir Seite 10 zu schwer ist, kannst du einfach auf Seite 11 oder 12 weitermachen. Vielleicht findet sich was Leichteres. Dadurch ist die Frustrationsgrenze nicht so hoch…”

Eine Überraschung für die Schüler

Nicole Johänntgen hat schon so einige Tonträger mit eigenen Kompositionen veröffentlicht. Und Usus ist es ja ab und an, dass Musiker auf Wunsch ihrer Fans ihre Noten zu Papier und auf den Markt bringen. Nicole Johänntgen aber geht hier den umgekehrten Weg. Sie komponierte nur für das Workbook. Und überlegt jetzt, das eine oder andere Stück auf einer ihrer nächsten CDs einzuspielen. Das Workbook war also kein Wunsch ihrer eigenen Schüler? “Nein, ich habe sie damit überrascht.” Diese Überraschung dürfte eine gelungene sein.

Apropos Überraschung. Auch Nicole Johänntgen wurde jüngst überrascht: mit dem Album “Lumens” nämlich. Dieser Tonträger schwappte vor kurzem über den Großen Teich, von New York nach Europa herüber. “Das Album ‘Lumens’ ist nicht nur deshalb empfehlenswert, weil eine spontane Session perfekt eingefangen wurde. Auch die Qualität der Stücke von Nicole Johänntgen und Jack DeSalvo ist sehr überzeugend. Ohne treibenden Beat und ohne Klimbim ist das Konzeptalbum ein kleiner Silberling, den man mit großem Gewinn anhören kann”, schrieb der Musikjournalist Georg Waßmuth jüngst über die CD. 

Freejazz in New York City

Nicole Johänntgen
Lumens von Nicole Johänntgen und Jack DeSalvo.

Doch warum Überraschung? Eine kuriose Geschichte, die Saxofonistin holt aus. Sie habe vor vier Jahren mit einem Stipendium in New York gelebt. Weil sie für ihren Computer einen “dongle” brauchte, ging sie in Manhattan in einen Musikladen. Auf dem Weg in die Keyboard-Abteilung kam sie an den Saxofonen vorbei und konnte der Versuchung nicht wider­stehen, diese auszuprobieren. Es dauerte nicht lange, bis der Verkäufer zunächst “Who are you?” fragte und die Saxofonistin dann schließlich zum Freejazz-Orchester “12 Houses” mitnahm. “Das waren völlig verrückte Typen”, findet Nicole Johänntgen noch heute. “Ich und Freejazz?”, fragt sie. “Völlig irre!” Sie lacht laut.

Und der Gitarrist dieser “12 Houses” war eben Jack DeSalvo. “Irgendwann kam er zu mir in seiner ruhigen Art und meinte: ‘Nicole, we would like to record a CD – we would like to record some tunes with you.’ Und ich dachte: Ja klar, machen wir!” Und seitdem schlummerte “Lumens” fast vier Jahre lang in New York. “Und plötzlich hatte ich die im Briefkasten.” Definitiv ein Lichtblick in diesen Zeiten – auch im wahrsten Sinne des Wortes – in denen Musiker ihrer Arbeit nicht wie gewohnt nachgehen können.

Großes Projekt in Saarbrücken in 2021

Saxofon Nicole Johänntgen
Nicole Johänntgen (Foto: Daniel Bernet)

Konzerte sind derzeit nur sporadisch möglich. Ein großes Projekt hat Nicole Johänntgen in Saarbrücken im Juni nächsten Jahres trotzdem schon auf dem Schirm. “Escapades pour saxophone” heißt das Programm, das sie gemeinsam mit dem “Orchestre national de Metz” spielen wird. Ein Programmpunkt ist “Scaramouche” von Darius Milhaud. Dafür übt die Saxofonistin schon. “Ich habe wahnsinnig Spaß, dieses Stück zu üben. Es fühlt sich so natürlich an! Es liegt gut in den Händen, man kann es sich extrem gut merken, es ist alles harmonisch nachvollziehbar, und wenn man den Einstieg in klassische Musik haben will, dann ist dies, finde ich, sehr gut geeignet.” Das Stück sei schwer, aber “mir macht es unheimlich Spaß, es zu entdecken. Es ist was Neues und ich nenne es für mich Gehirnfutter. Ich brauche solche Herausforderungen!”

Dieser Ausflug in die Klassik sei sehr lehrreich für sie, erklärt sie. “Ich höre sehr viel klassische Musik in meiner Freizeit.” Sie schreibe ja derzeit sogar eine Sinfonie, “die wahrscheinlich fertig wird, wenn ich 70 bin”. Sie lacht. Bis zu ihrem 70. Geburtstag wird man noch einiges andere von ihr hören. Zahlreiche Konzerte mit verschiedenen Besetzungen wird man da noch erleben. Und das Workbook II mit den 40 Stücken zum 40. Geburtstag ist ja auch schon in der Pipeline…