Orchestra | Von Alexandra Link

Niki Wüthrich: Musik ist Leidenschaft

Niki Wüthrich (Foto: Philip Böni)

Musik ist Leben und Leidenschaft für den Schweizer Niki Wüthrich. Schon früh hat ihm sein erster Posaunenlehrer, der Verleger Marc Reift, mit seinem Fanatismus, einem hundertprozentigen Fokus und seinem Enthusiasmus den Musikvirus eingeimpft.

Bereits als Zehnjähriger war Niki Wüthrich Fan des Slokar Posaunenquartetts, in dem Marc Reift damals ­spielte. Begeistert war er auch vom ­legendären Bläserquintett „Canadian Brass“. Bereits mit 13 Jahren gründet und organisiert er sein erstes eigenes Ensemble, ein Posaunentrio. Nicht immer zur Freude seines Vaters, der sich um seine Schulnoten Sorgen macht. Der Blechbläserkammermusik ist Wüthrich bis heute treu geblieben – als Posaunist im „Quintetto Inflagranti“ und im „Swiss Brass Consort“.

„Marschmusik-Sumpf und die Vereinsmeierei“

Zum Blasorchester-Dirigieren ist Niki Wüthrich anfangs etwas widerwillig gekommen. Er fragte sich, ob er sich wirklich in den „Marschmusik-Sumpf und die Vereinsmeierei“ begeben wollte. Es brauchte mehrere Überzeugungsanläufe des damaligen Präsidenten des Musikvereins Meilen (in dem er bis zu seinem Musikstudium spielte), bis er sich als frisch diplomierter Musiker für den frei gewordenen Dirigentenposten in Meilen bewarb. In diesem Verein folgten wichtige dirigentische und musikalische Lehrjahre, in denen er in Sachen Orchesterführung wertvolle Erfahrungen sammeln konnte.

Er lernte die Stärken und Schwächen von Vereinsstrukturen kennen, entdeckte viele wunderbare Blasmusikkom­po­sitionen jenseits von Marsch und Polka, und durfte vor allem immer wieder die unglaubliche Energie erleben, die entstehen kann, wenn sich Amateurmusiker auf ihre wenigen musikalischen Highlights pro Jahr vorbereiten und dabei über ihre Grenzen hinauswachsen.

Heute liegt ihm persönlich insbesondere die ­Vermittlung und Präsentation des sinfonischen Orchesterklangkörpers und der packenden, farbenreichen originalen Blasorchesterliteratur am Herzen: „Ich möchte den Publikumskreis durch die Realisierung spannender Programmkonzepte, dem Auftreten auch an unkonventionellen Orten und spartenübergreifenden Kooperationen über den eingeschweißten Blasmusikzirkel hinaus erweitern.“

Für dieses Ziel stehen ihm in der Schweiz mittlerweile drei Stadtmusiken zur Verfügung: Seit 2010 dirigiert Wüthrich die Stadtmusik Bremgarten, seit 2013 die Stadtmusik ­Zürich und seit Anfang 2019 die Stadtmusik St. Gallen. Außerdem darf er sich immer wieder mal bei einem Gastdirigat bei diversen Auswahl­orchestern ausleben. Zuletzt etwa beim Blas­orchester des St. Galler Kantonalmusikverbandes oder beim Solothurner Jugendblasorchester.

Bei der Stadtmusik Bremgarten ist der Altersdurchschnitt relativ gering. Neben einigen Wettbewerbserfolgen bei kantonalen Musikfesten oder beim Eidgenössischen Musikfest konnte Niki Wüthrich bereits einige unkonventionelle und spartenübergreifende Projekte realisieren. Zum Beispiel ein Open-Air-Konzert mit der Mundart-Rockgruppe „Filterlos“, das Musik­theater „Rückwärts, Marsch!“ unter der Regie von Tom Ryser oder ein Familienkonzert mit dem Schauspieler Hanspeter Müller-Drossaart.

Blasorchester der Höchstklasse

In Zürich durfte er im Jahr 2013 ein traditions­reiches, mit rund 75 Musikern gut ausgebautes Orchester von seinem Vorgänger Kurt Brogli übernehmen. In dieser internationalen Finanzmetropole steht Wüthrich eine sehr gute Infrastruktur zur Verfügung. Die Konzerte dürfen in hervorragenden Konzertsälen, insbesondere der Tonhalle, durchgeführt werden. Das Orchester arbeitet daran, den doch eher hohen Altersschnitt zu verringern.

Wüthrichs Engagement hat Früchte getragen, unter anderem in vielen Kooperations-Konzerten. Zu nennen ist hier etwa die Aufführung von „The Lord of the Rings“ gemeinsam mit der Stadtmusik Bremgarten, „Tea for two“ mit dem Akademischen Chor Zürich oder „Musical Night“ mit der Musical Factory Luzern. Außerdem sind immer wieder Solisten in den Konzerten zu Gast: beispielsweise Madeleine Merz (Sopran), Rita Karin Meier (Klarinette) oder Eliana Burki (Alphorn).

Traum vom eigenen Blasorchester

Mit der Wahl zum Dirigenten in St. Gallen ging Anfang 2019 für Niki Wüthrich der Traum vom eigenen Blasorchester der Höchstklasse in Erfüllung: „Es macht riesigen Spaß, mit diesen motivierten, hervorragenden Musikern zu arbeiten. Das Orchester legt den Fokus ausschließlich auf die sinfonische Blasorchesterliteratur, was mir voll und ganz entspricht.“ Im Juni 2020 wird er zusammen mit diesem Orchester und einem großen Projektchor die Schweizer Erstaufführung von Johan de Meijs 5. Sinfonie „Return to Middle Earth“ auf die Bühne bringen. Ob die Ölfässer wohl schon bereitstehen…?

Mit seinen drei Stadtmusiken hat Niki Wüthrich das große Los gezogen. Wie wir alle wissen, sind adäquate Stellen für professionell ausgebildete Dirigenten nicht sehr üppig gesät – selbst in der Schweiz nicht. Die Arbeit als Dirigent von Amateurblasorchestern kann einerseits höchst bereichernd, andererseits aber auch zermürbend sein. Das empfindet auch Niki Wüthrich bisweilen so. Bereichernd insofern, als dass er immer wieder erleben darf, mit welcher Passion die Musiker in ihrer Freizeit der Musik nachgehen.

Orchesterfamilie

Wie viel Zeit sie ins Üben, Proben und Organisieren von Konzerten investieren und zu welchen Höchstleistungen die Orchester in den Konzerten und Wettbewerben dadurch fähig sind. Durch die oft langjährige Zusammenarbeit entsteht eine Art Orchesterfamilie, es entstehen persönliche Verbindungen, die weit über die musika­lische Zusammenarbeit hinausgehen. Es entsteht ein soziales Netz, ein Zusammenhalt, der auch in persönlich schwierigen Momenten Stütze sein kann.

Zermürbend hingegen ist es für ihn, wie auch für seine Kolleginnen und Kollegen, erleben zu müssen, wie starr und eingerostet die Vereinsstrukturen sein können und wie viel Einsatz und Energie es manchmal benötigt, neue Impulse umzusetzen.

Zudem bringt das Musikmachen als Hobby auch mit sich, dass der Stellenwert der Musik für die einzelnen Musiker sehr unterschiedlich ist und dass die Verbindlichkeit gegenüber dem Kollektiv gerade bei der jüngeren Generation vermehrt sehr schnelllebig ist: „Da prallen gemeinsame musikalische Vereinsziele und die damit verbundene instrumentaltechnische Knochenarbeit oft an die Realität einer Gesellschaft, in der alle individuell in Beruf und Familie sehr eingespannt sind und einem riesigen Angebot von Freizeitmöglichkeiten gegenüberstehen“, stellt Niki Wüthrich fest.

Engagement und Willen vorausgesetzt

Trotz oder gerade weil in den Orchestern die Motivationen manchmal unterschiedlich gelagert sind, versucht Niki Wüthrich immer vom vorhandenen Positiven in den Orchestern auszugehen und dieses wertzuschätzen. Er versucht, die Musiker dort abzuholen, wo sie momentan stehen, und sie weiterzubringen. Gleichzeitig macht er aber klar, dass er Engagement und den Willen zur Verbesserung voraussetzt – sprich häusliches Üben und Anwesenheit bei allen Proben.

Bei der Interpretation der Werke versucht er im eingehenden Partiturstudium die Intentionen des Komponisten zu verstehen und sich ein inneres Hörbild zu machen. Dieses möchte er seinen Musikern vermitteln und glaubhaft machen: „Nur wenn auch für sie die Interpretation stimmig ist und die schwarzen Punkte der Noten in Fleisch und Klang übergegangen sind, kann der Funke aufs Publikum überspringen. Dabei ist die Erarbeitung einer Interpretation ein Prozess, der vom ganzen Orchester mitgestaltet wird. Ich bin immer offen, Angebote und Vorschläge aus den Musikerreihen in meine Gestaltung zu integrieren.“

Die Musik steht im Zentrum

Beim Proben und Dirigieren ist ihm besonders wichtig, dass die Musik immer im Zentrum steht. Er versucht sich nicht in technischen Details zu verstricken: „Ich versuche möglichst viel spielen zu lassen, viel zu zeigen und nicht zu ­lange zu sprechen.“ Gleich von Beginn einer Probenphase an legt er den Fokus auf gestalterische und musikalische Aspekte – technisches Üben zu Hause vorausgesetzt.

Bei der Programmauswahl hat Niki Wüthrich, wie in der Schweiz üblich, Unterstützung von einer Musikkommission. Die „Muko“ setzt sich neben dem Dirigenten aus rund fünf weiteren Vertretern zusammen, die vom Orchester gewählt werden oder sich für das Amt zur Ver­fügung stellen. Neben der Programmzusammenstellung gehören die Notenverwaltung und die Organisation von eventuellen Aushilfen zu den Aufgaben der Muko. Anders als beispielsweise in Deutschland kann er als Dirigent nicht alleine das Programm zusammenstellen.

Er hat jedoch in seinen Musikkommissionen eine Art ungeschriebenes Veto-Recht. Kann er sich mit einem Werk gar nicht anfreunden, dann wird es nicht aufgenommen. Vorteil einer Musikkommission für Niki Wüthrich: „Wenn mehrere Köpfe am Programm ‚mithirnen‘ und dafür verantwortlich sind, entdeckt man gemeinsam immer wieder neue, coole Werke und die Programme sind innerhalb des Vereins breiter abgestützt.

Viel Energie und Überzeugungsarbeit

Andererseits braucht es zuweilen viel Energie und Überzeugungsarbeit für das eine oder andere weniger gefällige Werk. Es besteht die Gefahr, dass man sich für gutschweizerische Kompromiss­programme entscheidet, statt auch mal ,out of the box‘ zu denken und das Wagnis einzugehen, über den programmatischen Tellerrand hinauszublicken.“

Niki Wüthrich gehört zu den professionellen Blasorchesterdirigenten, die das Glück haben, gleich mehrere Orchester mit großem Potenzial zu leiten. Auch er nimmt wahr, dass in den Vereinen die Weiterentwicklung der kaufmännischen Belange der Professionalisierung im künstlerischen Bereich hinterherhinkt: „Das hat einerseits viel mit der ehrenamtlichen Struktur, sprich dem limitierten Zeitbudget und Know-how der Vorstände und Organisationsgremien zu tun.

Andererseits stehen die Vereine in Konkurrenz zu immer mehr, oft professionell gemanagten Formationen um Finanzmittel für Kultur, die nicht üppiger werden.“ Um an Drittmittel zu gelangen, braucht es heute sehr viel Kreativität, Arbeit und Hartnäckigkeit, ist Niki Wüthrich überzeugt. Pflicht sind professionelle Marketingunterlagen und -strategien, die zur musikalischen Qualität des Orchesters passen.

Es braucht die versammelten Kräfte

Und es braucht Ressourcen, am besten die versammelten Kräfte des Vereins, um seine Projekte zu „verkaufen“. Mit einem Kassier im Vorstand und ein paar Gönnern, die einen symbolischen Jahresbeitrag zahlen und im Gegenzug mit Tickets im beinahe selben Gegenwert belohnt werden, ist es nicht getan.

Es braucht vermehrt explizite Fundraising-Verantwortliche in den Gremien, gezielte Pflege der Sponsoren und Kreativität in der Gestaltung der Erlebnisleistungen für eben diese sowie für die Förderer und Gönner des Vereins. Für die ­erfolgreiche Umsetzung der Finanzierung sind alle Musikerinnen und Musiker des Vereins aufgefordert, ihr jeweiliges Netzwerk spielen zu lassen.

Grundlagenarbeit, Klangentwicklung und das Zusammenwachsen des Ensembles sind Voraussetzungen für ein stetiges Vorankommen des Orchesters und ausschlaggebend auf den Erfolg der Konzerte. In seinen Proben legt Niki Wüthrich genau hier und besonders in der Einspielphase einen großen Schwerpunkt. Seit vielen Jahren bereits beschäftigt er sich mit verschiedenen Methoden, die über das einfache Choralspielen hinausgehen. Über dieses Thema haben wir mit Niki Wüthrich nachfolgendes Interview geführt.

Niki Wüthrich im Interview

Wann ist ein Einstieg in eine Blasorchester-Probe für Sie gelungen?

Wenn die Musiker Ohren, Herz, Lunge und Geist für die Musik geöffnet haben. Oder anders ausgedrückt: Wenn der Fokus auf die Probe gelegt wird.

Warum sind der Probeneinstieg und die Einspielphase so wichtig?

Der Tubist schleppt sich todmüde nach seiner 10-Stunden-Schicht in die Probe, obwohl er den Abend viel lieber vor der Glotze mit einem Bier in der Hand verbringen würde, die Flötistin ist völlig aufgekratzt und schnattert munter von ihren Ferien­erlebnissen, ohne zu realisieren, dass die Probe demnächst beginnt.

Der Trompeter wiederum schaut auf dem Smartphone noch den letzten Satz des Tennisfinales an, während die junge Schnupperin auf der Klarinette sich scheu und aufgeregt fragt, ob sie den Ansprüchen des neuen Orchesters wohl genügen wird…

Für uns Dirigenten gilt es zu Beginn der Probe, diese ­verschiedensten Gemüts- und Energiezustände auszubalancieren und die Musiker in der Probe ankommen zu lassen. Es gilt, aufeinander zu ­hören und das Orchester in kurzer Zeit zu fokussieren, damit eine möglichst effektive und effi­ziente Probenarbeit gewährleistet werden kann.

Was ist wichtig vor dem eigentlichen Proben der Blasorchesterwerke?

Das Aufwärmen des Instruments spielt eine nebensächliche Rolle. Viel wichtiger ist es, den Körper mittels Lockerungsübungen, Stretching, Elementen aus Yoga und natürlich Atmungsübungen in die richtige Haltung und Spannungsbalance für das Musizieren zu bringen.

Gerade bei uns Bläsern ist eine natürliche, entspannte Atemtechnik, freie Körperhaltung und ein positives Körperbewusstsein die Basis für Klang und Instrumentaltechnik. Zudem versuche ich mit kreativen, überraschenden Übungen und »Spielchen« einen lebendigen Probeneinstieg zu gestalten. So soll gute Stimmung aufkommen, um die Sorgen und Gedanken des Arbeitstages zu vertreiben. Körper und Geist sollen in der Probe ankommen und sich der Musik zuwenden können.

Individuelles Einspielen versus gemeinsame Einspielphase: Welches sind jeweils die Vor- und Nachteile?

Beim individuellen Einspielen kann jeder für sich gezielt und in seinem Tempo diejenigen Übungen machen, die er im entsprechenden Moment und Gemütszustand gerade benötigt. Das ist im Tutti natürlich nur bedingt möglich. Wobei ich als Dirigent versuche, die Stimmung bei mir und im Orchester zu spüren.

Am frühen Sonntagvormittag eines Probenwochenendes braucht es eher energetische, die Lebensgeister wieder weckende Übungen. Das kann dann schon mal wie das Einturnen einer Sportstunde anmuten. Bei der Vorprobe zu einem Wettbewerb stehen hingegen mentale Visualisierung und beruhigende Atemübungen im Vordergrund.

Die gemeinsame Einspielphase dient zudem der Orchesterbildung und dem Öffnen der Ohren: Wie bette ich meinen Klang in den Gesamtklang ein? Wie bauen wir eine homogene Intonation auf? Welche Funktion übernehme ich im Akkord und was bedeutet das für Balance, Intonation und Klangfarbe? Wer spielt mit mir dieselben ­Linien? Wie kommt ein gemeinsamer Puls zustande? Wie artikulieren wir ein gemeinsames Staccato? Im gemeinsamen Einspielen lassen sich diese Basisfragen des Orchesterklangs erörtern und erfahren.

Welche Bereiche sollen in der gemeinsamen Einspielphase einer Probe abgedeckt werden?

Ich versuche den Einstieg lebendig und spielerisch zu gestalten, damit keine Routine aufkommt. Dabei jongliere ich mit Atemübungen, Stretching und Körperhaltung, Einsingen, mit theaterpädagogischen Ansätzen und Instrumentalübungen.

Der Probeneinstieg darf Spaß machen, zugleich sollen die Übungen dem musi­kalischen Ergebnis dienlich sein. Immer wieder versuche ich auch Bezüge zu den anschließend geprobten Werken herzustellen und durch Vereinfachungen und losgelöst vom Notentext Hilfestellungen für Hürden im Repertoire zu bieten.

Wie können Körper, Geist und Seele in der Einspielphase der Probe in Einklang gebracht werden und als wie wichtig sehen Sie dies an?

Ich erlebe es für den weiteren Verlauf einer Probe als sehr relevant. Es lohnt sich, diese 10 bis maximal 15 Minuten zu Beginn zu investieren – die verbleibende Probenzeit wird viel effizienter und effektiver sein. Die Einspielphase gliedere ich zumeist in drei Teile: einen ersten, stehenden Teil ohne Instrument (mit Körper- und Atemübungen), einen zweiten Teil mit Instrument und/oder Singen.

Diese Übungen (meist unisono ohne Notentext) fördern Klangvorstellung und öffnen die Ohren. Im dritten Teil des Einspielens kommt ein konventioneller Choral oder eine notierte, komplexere, mehrstimmige Übung zum Zug. Etwas metaphorisch gesprochen könnten diese drei Bereiche auch in Übungen für Körper (Phase I), Geist (Phase II) und Seele (Phase III) eingeteilt werden.

Die Musikerinnen und Musiker kommen aus dem Alltag in die Probe. Wie schaffen Sie es, dass alle ihren Fokus auf das Musizieren richten?

Es wäre vermessen zu behaupten, dass ich das immer schaffe. Auch mit meinen Orchestern gibt es unkonzentrierte, undisziplinierte Proben, bei denen der Wurm drin ist. Aber mit der beschriebenen Übungspalette wird ab der ersten Minute des »Einturnens« ein aktives Mitwirken jedes einzelnen Musikers verlangt.

Es kann nicht auf Autopilot geschaltet werden. Die Übungen erfordern kognitives und körperliches Engagement. Dadurch erlebe ich eine rasche Fokussierung auf die Gruppe und den Moment, der meist für den weiteren Verlauf der Probe erhalten bleibt.

Welche Methoden sind für die Einspielphase geeignet?

Verschiedenste Einflüsse fließen in die Einspielphase ein: Die Körperphase beinhaltet Stretching, Elemente aus Yoga und Kinesiologie und natürlich ganz viele Atemübungen aus meiner Praxis als Posaunist. Hin und wieder verirrt sich auch ein Sprechgesang oder eine Gruppenübung aus der Theaterpädagogik zu uns. Das macht Spaß und ist Gehirn- und Artikulationsjogging gleichermaßen.

In der zweiten Phase kommen viele Unisono-Übungen (Tonleitern, Intervalle, Akkorde) zum Einsatz, hie und da auch mit musiktheoretischen Erläuterungen. Und wir singen immer wieder einfache Kinderlieder oder Kanons und versuchen, diese aus dem Gehör auf dem Instrument umzusetzen. In der dritten Phase kommen für die Seele Choräle oder mehr­stim­mige Übungen zum Einsatz. Dabei nehme ich möglichst Bezug auf ein zu probendes Werk (etwa einen Choral, der in einer Komposition verarbeitet wird) oder verwende vorhandene Einspielliteratur.

Welche Auswirkungen hat eine systematische Einspielphase auf lange Sicht für das Orchester?

All diese Übungen schulen einerseits die individuellen, instrumentalen Fähigkeiten und fördern andererseits das Bewusstsein und das Gehör für einen homogenen Orchesterklang. Ich erhoffe mir, dass die eine oder andere Übung auch ins tägliche Warm-up zu Hause einfließt. Auf lange Sicht kann ich eine Verbesserung der Klangvorstellung, der bläserischen Fähigkeiten und des Orchesterklangbilds feststellen.

Welche Lehrwerke verwenden Sie für die Einspielphase?

Gerade für die dritte Phase ist sehr viel gute Literatur vorhanden. Ich schätze beispielsweise die Systematik und Sorgfalt von Hans-Peter Blasers Band-Coaching-Bänden oder die bezüglich Tonarten und Harmonik abwechslungsreichen vierstimmigen „30 Original Chorals and Warm-Ups“ von Philip Sparke.