Orchestra | Von Klaus Härtel

phil Blech Wien mit neuen Projekten

Phil Blech

Der österreichische Dirigent Franz Welser-Möst schwärmt: “Das Ensemble phil Blech Wien hat sich zu einem unverzichtbaren Teil der wienerischen Kultur des Musizierens entwickelt und ist aus dem internationalen Konzertleben nicht mehr wegzudenken.” Auch BRAWOO-“Vorgängerin” Clarino schrieb im Dezember 2012 anlässlich der ­Debüt-CD: “Jetzt geht’s erst richtig los.” Zehn Jahre später kommt es nun im Wiener Konzerthaus zum großen Knall. Zum “Urknall”, um genau zu sein.

Mark Gaal, Bassposaunist im Wiener Staatsopernorchester und der Wiener Philharmoniker – und “nebenbei” treibende Kraft von phil Blech Wien, stöhnt. Er habe in der vergangenen Woche sage und schreibe
17 Dienste gehabt. Hier ein Konzert, dort eine Oper, den “Siegfried” einstudieren, Betriebsratssitzung … Aber der Tag hat ja 24 Stunden – die Nacht nicht eingerechnet. Er stöhnt, aber er lacht. Beschwerden wird man von Mark Gaal vermutlich nie hören, weil das, was er macht, ja genau das ist, was er machen will. Und in diesen vollen Terminkalender kommen nun noch die CD-Präsentation der neuen Scheibe von phil Blech Wien und die Uraufführung des “Urknall”, des neuen Werks von Gerd Hermann Ortler. Es ist Mark Gaal eine wahre Freude.

Ein kurzer Blick zurück: Schon die Trackliste der ersten CD vereint Weltliteratur: Mozart, Mahler, Bruckner, Verdi und Wagner. Und wo phil Blech drauf steht, ist auch viel Blech drin. “Wir wissen es ja nicht”, meinte Paukist Benjamin Schmidinger damals, “vielleicht hätte Verdi in der heutigen Zeit viel mehr für Blech geschrieben!” Ganz bestimmt sogar. Auf das Debüt folgten Konzerte in Wien und ganz Österreich, Berlin, Nizza und Budapest, das Ensemble reiste nach Russland und China. 2015 folgte der zweite Tonträger “Weihnachten”, der erstmals eine Zusammenarbeit – über das Blech hinaus – beinhaltete. Gäste waren Star-Tenor Piotr Beczala, die Wiener Sängerknaben und der Chorus Viennensis.

Und doch ist und bleibt phil Blech Wien ein projektbezogenes Ensemble. “Es geht schlicht nicht anders.” Siehe Terminkalender. Denn der ist nicht nur bei Mark Gaal gut gefüllt. Dabei ist den Musikern dieses Ensemble dermaßen wichtig, dass sie gerne viel öfter miteinander musizieren würden. “Doch bei acht verschiedenen Orchestern, aus denen die 15 Musiker stammen, ist es wirklich schwierig, diese Freiräume zu schaffen.” 

Kein Elfenbeinturm

Die Motivation von phil Blech Wien ist die Musik. Mark Gaal schiebt ein: “Elitär wollen wir nicht sein – aber schon gut.” Er lacht. “Ich mag schon dieses Wort ‘elitär’ nicht. Nur weil etwas gut gemacht ist, muss es ja nicht nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung sein.” Die 15 Musiker sitzen nicht im Elfenbeinturm. Sie sind bodenständig, haben zum Großteil ihre Wurzeln in der Blasmusik. “Jeder hat damals den Musik­verein, die Trachtenkapelle gesehen und wollte unbedingt dort mitspielen.” 13 der 15 Musiker kommen tatsächlich aus der traditionellen Blaskapelle – und sind dort teilweise sogar noch aktiv. Da mag es Zufall sein, oder Schicksal, dass Gerd Hermann Ortler, der Komponist des neues­ten Werks “Urknall”, seine Wurzeln ebenfalls in der Blasmusik hat. Ortlers Opa war einst Kapellmeister in Südtirol.

Jetzt also eine neue CD. Und was für eine! Nun können Blechbläser plus Schlagwerk ja schon klanggewaltig sein. Mit der Orgel – die ja im Grunde für sich schon eine Art großes Blas­orchester darstellt – setzt phil Blech Wien noch einmal einen obendrauf. Und das mit keinem Geringeren als Olivier Latry als Organist.

Dazu gekommen ist es, weil der Musikverein Wien an phil Blech herangetreten ist. Und der Grund scheint zunächst einmal ein ganz profaner zu sein: Die Orgel brauchte mehr Spielzeit.

Latry die “Kirsche auf der Torte”

Die Rieger-Orgel ist aktuell die vierte Orgel und wegen größerer Schäden am Vorgänger-Instrument wurde ein Konzept für eine neue Konzertsaalorgel erstellt. Der Einbau des Instruments in das historische Gehäuse dauerte bis Anfang 2011. Im Zuge dieser Arbeiten wurde auch der Unterbau des Gehäuses mit seinen Verzierungen wieder rekonstruiert, das Instrument ist aber im laufenden Konzertbetrieb völlig unter­reprä­sen­tiert. “Ob wir uns das vorstellen könnten, wurden wir gefragt.” Mark Gaal grinst breit. “Und das mussten wir natürlich nutzen!” Dass Olivier Latry den Orgelpart übernommen hat, “war die Kirsche auf der Torte”. 

phil blech
Organist Olivier Latry (links) mit Dirigent Anton Mittermayr (Foto: Benedikt Dinkhauser)

“Olivier ist einer der besten Musiker, mit denen ich je zusammengearbeitet habe”, schwärmt der Posaunist. Beim Schreiben der Arrangements sei er dann schon nervös gewesen, einen perfekten Orgelpart abzuliefern, gibt er zu. Doch weil Latry sich eben bodenständig in den Dienst der Musik stelle, war das alles völlig unkompliziert. 

Olivier Latry ist Titularorganist an Notre-Dame in Paris und unterrichtet am Conservatoire National Supérieur de Paris. Zur ersten Zusammenarbeit mit phil Blech kam es im April 2019 – zusammenschweißen sollte die Musiker ein Ereignis, das nicht nur in Frankreich schockierte. Am 15. April 2019 stand Notre-Dame in Flammen. Just an dem Tag, als Latry mit dem Flieger in Wien landete. “Seine” Orgel war in Gefahr, doch mit Glück im Unglück kam das Instrument mit ver­hält­nis­mäßig leichten Blessuren davon.

Das Ensemble phil Blech Wien formte nun unter dem Dirigat von Anton Mittermayr einen neuen, einzigartigen Klangkörper. Das erklärte Ziel war nicht das übliche Gegenüberstellen, sondern das Verschmelzen zweier Klangwelten. Nach dem großen Erfolg der Premiere im ausverkauften Kulturpalast Dresden mit der neuen Eule-Orgel wurde das Konzert mit den Arrangements von Mark Gaal eine Woche später im großen Saal des Wiener Musikvereins wiederholt und mitgeschnitten. “Olivier Latry und die Musiker von phil Blech Wien erzeugten dabei eine Atmosphäre, Schönheit und Klanggewalt, wie man sie sonst nur von großen Orchestern kennt”, heißt es in einer Kritik. 

Die Wiener Klangkultur

Das Programm hat es in sich und gleicht einer musikalischen, bombastischen Zeitreise: Ga­brieli, Lully, Bach, Händel, Bruckner, Holst und Respighi geben sich die Ehre, arrangiert von Mark Gaal. Die Wiener Klangkultur, auf die phil Blech Wien so großen Wert legt, leidet indes nicht unter der neuen Zusammenarbeit. “Das liegt auch daran, dass Olivier Latry eben Olivier Latry ist”, lacht Mark Gaal. “Schon nach dem ersten Zuhören weiß er genau, welche Registrierungen er verwenden wird. Das mischt sich unglaublich gut mit uns – egal ob das die Wiener Hörner sind oder die Naturfellpauken …”

Der Tonträger erscheint bei der Deutschen Grammophon und wird einen kompletten Dolby-Atmos-Mix bereithalten. Das allerdings hatte sich erst nach dem Konzert ergeben. Der Tontechniker Thomas Hofstädter nämlich “hat einfach alles mitlaufen lassen. Jedes der etwa 30 Mikrofone, die von Haus aus im Saal positioniert sind, hat aufgenommen”, erklärt Mark Gaal. Zusätzlich zur geplanten Stereo-Aufnahme entstand dann aus etwa 30 weiteren Tonspuren dieser zusätzliche Mix. “Du musst nur aufpassen, dass es authentisch bleibt”, weiß der Posaunist. “Es bringt dir ja nichts, wenn auf einmal das Flügelhorn links hinter dir ertönt!” Die CD von phil Blech Wien klingt authentisch. “Das ist genial!”, jubelt Mark Gaal. 

Und weil das damalige Konzert von phil Blech Wien mit Olivier Latry im Goldenen Saal “auch ein wenig Wetter” gemacht hat, kam es zu einem weiteren Projekt, diesmal im Wiener Konzerthaus.  

Für den 18. Mai hatte sich der nächste Coup mit einem großen Knall bereits angekündigt: der “Urknall. The Birth of the Universe”, um genau zu sein. Das Werk von Gerd Hermann Ortler wurde uraufgeführt. Ein beeindruckendes Erlebnis für alle Beteiligten. Allein die Besetzung – ­Orgel, Blechbläserensemble, Schlagwerk und 100-köpfiger Frauenchor – lässt Bombastisches erahnen. Ursprünglich hatte der gebürtige Süd­tiroler vor, die Erde zu vertonen, weil im Konzertprogramm ein Arrangement von Holsts “Planeten” zur Aufführung kam. “Und da fehlte die Erde”, erklärt Ortler. “Doch als ich länger da­rüber nachdachte, wurde mir die Erde ‘zu klein’.” Deshalb der Urknall. Darunter macht es der Komponist nicht.  

phil Blech Wien 

Trompeten: Thomas Bachmair, Thomas Fleißner, Stefan Fleißner, Helmut Fuchs, Patrick Hofer, Alexander Mayr, Daniel Neumann

Hörner: Markus Hartner, Wolfgang Lintner, Raphael Stöffelmayr, Lars Michael Stransky, Reinhard Zmölnig

Posaunen: Christian Eisenhut, Andreas Eitzinger, Wolfgang Strasser, Mark Gaal

Tuba: Christoph Gigler

Schlagwerk: Benjamin Schmidinger, ­Peter Dullnig, Leonhard Waltersdorfer 

Dirigent: Anton Mittermayr

philblech.at

Auf der Spielwiese austoben

In der Folge beschäftigte sich Gerd Hermann Ortler dann mit dem Thema. Die Physik hinter dem Urknall spielte natürlich auch eine Rolle, doch “ich will ja nicht aus Diagrammen Musik machen”. Vielmehr wolle er sich auf seiner kreativen Spielwiese austoben, sich der Lust am Spielen mit Klängen hingeben. 

Den Kompositionsauftrag des Wiener Konzerthauses erklärt der Komponist persönlich: “Stellen Sie sich vor, das Nichts. Plötzlich ein winzig kleiner Funken, der sich immer weiter ausdehnt und sich unaufhaltsam zum Universum ausbreitet. Und Sie sitzen mittendrin! Die buntesten Klangfarben und flirrenden Linien der gewaltigen Orgel, die sphärische Schwerelosigkeit und zugleich monumentale Kraft des hundertköpfigen Frauenchores sowie der strahlende Glanz des Blechbläserensembles vereinen sich mit der pulsierenden, dynamischen Energie des Schlagwerks. Im Konzertsaal entspinnen sich Teilchen, Wellen und Strahlen. Galaxien eröffnen sich. Klang durchflutet den Saal, Bühne und Zu­schauer­raum verschmelzen. Der Urknall ist die Initialzündung aller schöpferischen Kraft und damit auch die Geburt des unendlichen Universums unserer Fantasie. Jeder Gedanke, jede Idee, jeder Schöpfungsprozess, ja auch jeder und jede von uns ist ein kleiner Urknall und trägt das Universum in sich.”

Im Vorfeld war der Komponist sehr gespannt. “Ich habe sechs Monate mit dem Stück im Kopf gelebt, bevor ich es zu Gehör bekommen habe.” Anfang des Jahres fanden die ersten Proben statt, zunächst studierten die jeweiligen Ensembles ihren Part für sich ein. Der Organist Olivier Latry, phil Blech Wien, die Chöre. Erst im April standen alle 100 Sängerinnen gemeinsam auf der Bühne. Und drei Tage vor der Uraufführung stieg die erste Gesamtprobe. Da darf nichts mehr schiefgehen. “Da geht auch nichts mehr schief”, lacht Gerd Hermann Ortler selbstbewusst. 

“Als Komponist wachst du ja jeden Morgen auf und bist ein anderer Mensch …”

“Ich liebe große und lange Werke”, schwärmt Ortler. Etwa 45 Minuten lang ist der “Urknall”, bei dem die größte Herausforderung darin bestand, aus den verschiedenen einzelnen Elementen ein großes Ganzes zu schaffen. “Ich musste es hinbekommen, über die sechs Monate den Spannungsbogen zu halten. Denn als Komponist wachst du ja jeden Morgen auf und bist ein anderer Mensch …” Insgesamt hat er 64 Versionen – natürlich auch nur Bruchstücke – seines Urknalls gespeichert. 

“Ich fühle mich privilegiert, mit solch tollen Musikerinnen und Musikern zusammenarbeiten zu dürfen, die meine Musik erst zum Leben er­wecken”, erklärt der Komponist. Sein Ansatz sei überdies, dass er Musik nicht nur für sich, sondern auch “für die Leute” schreibt. “Ich weiß nicht, ob ich das ‘volksnah’ nennen kann, aber ich will keinen pseudointellektuellen Stacheldraht um meine Kunst spannen. Ich will jeden mitnehmen!” Und Gerd Hermann Ortler weiß um die große Chance, die die Kunst hat. “Ge­rade in dieser Zeit, in der die Gesellschaft aus­einander zu driften droht, kann Musik verbinden.”

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Gerd Hermann Ortler 

Mit der Gründung seines GHO Orchestra etablierte sich Gerd Hermann Ortler rasch als Komponist und Arrangeur im internationalen Jazz- und Klassik-Bereich. Seine Komposition “Passion” zu Bildern von Gottfried Helnwein wurde im Albertina-Museum mit den beiden Solisten der Wiener Philharmoniker Matthias Schorn und Christoph Gigler sowie dem radio.string.quartet aufgenommen und 2021 als Musikfilm veröffentlicht. Im September 2022 wird erstmals Musik von ihm in der Elbphilharmonie Hamburg zu hören sein: eine Komposition zum 175. Todesjahr von Fanny und Felix Mendelssohn. 

Seit 2012 lehrt Ortler Komposition und Arrangement an der Universität für ­Musik und darstellende Kunst Wien. Er studierte an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien sowie an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz bei Ed Partyka. Zudem erhielt er Kompositionsunterricht von Bob Brookmeyer.

gerdhermannortler.com