Orchestra, Schwerpunktthema | Von Klaus Härtel

Die unterschiedlichen Übegewohnheiten von Sportlern und Musikern

Sportlern muss man nicht mehr erklären, dass Regeneration wichtig ist. Musikern schon. Prof. Dr. Egbert Seidel aus Weimar kennt beide Seiten. Wir baten ihn zum Gespräch.

Herr Professor Dr. Seidel, ist Musikern heute eigentlich bewusst, dass auch sie bisweilen Hochleistungssport betreiben? Ist hier ein bewussterer Umgang mit dem eigenen Körper erkennbar?

Ja, Musiker vergleichen sich mit Hochleistungssportlern. Sie wissen, sie sind genauso belastet – mental wie körperlich. Aber anders als die Sportler ziehen Musiker keine Konsequenzen aus dieser Erkenntnis. Musiker wollen als Hochbelastete wahrgenommen werden, aber die Konsequenz daraus fehlt. Und das ist genau das, worum ich seit Jahren kämpfe!

Wir sind hier in Weimar, im Zentrum für Physikalische und Rehabilitative Medizin, gleichzeitig lizensiertes Zentrum des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Wir versorgen also alle Kadersportler Thüringens – und deshalb kenne ich auch den Bereich der Sportmedizin sehr gut.

Die Nachwuchsathleten haben einen Trainingsplan, der über die jeweils nächsten Wettkampfzyklen hinausgeht. Wir stecken jetzt schon in der Olympiavorbereitung für die Winterspiele 2018 in Pjöngjang und 2020 in Tokio. Sportler haben heute schon Trainingspläne bis zu diesem Datum. In diesen Plänen findet gezielt auch Regeneration statt, es findet eine dosierte und geplante Belastung statt und es ist geplant, welche Zwischenwettkämpfe anstehen.

Wenn Sie nun aber zu einem Musiker kommen und den Übeplan von nächster Woche sehen wollen, dann schaut der Sie mit großen Augen an: "Ich übe doch so, wie es passt…" Ich habe noch keinen Musiker gesehen, der einen Übeplan hatte. Ich erstelle ständig Übepläne für erkrankte oder verletzte Musiker, um sie wieder in den Beruf  zurückzuführen. Im Kopf gehört das einfach zusammen: Die Regeneration ist Bestandteil des Übens. Der Sportler hat sich das verinnerlicht. Der Musiker nicht.

Wenn Sie Musiker fragen, wie er übt, dann sagt er Ihnen: drei Stunden. In den drei Stunden sitzt er am Instrument. Fragen Sie einen Sportler, wie er trainiert, dann antwortet der: ich habe 15 Trainingseinheiten. Davon sind dann mehrere Einheiten Regeneration. Das gehört für ihn dazu! Das separiert der Sportler nicht. Der Musiker schon.

In die Sauna gehen oder mentales Training ist für den Musiker Zeit, in der er nicht üben kann. Das ist faszinierend. Es wird im Kopf nicht anerkannt, dass Regeneration ein integraler Bestandteil des Übens sein muss. Dieses Wissen versuche ich an die Musiker zu bringen. Und dies ist schwer.

Mein beliebtester Satz am Ende von Vorträgen ist immer: "Die Regeneration eines Orchestermusikers nach viereinhalb Stunden Wagner spielt sich in der nächsten Eckkneipe bei drei Bier ab." Man geht hinterher einen Absacker trinken und verringert damit die Möglichkeit, ordentlich zu schlafen, die Muskeln sich erholen zu lassen. An der Realität und an den Bedingungen zur Regeneration scheitert es in der Musik komplett.

Warum sind die Pausen von der Musik eigentlich so wichtig?

Zur Regeneration! Was die Musiker oft nicht verstehen: Das gilt ja nicht nur für den Muskel, sondern auch und vor allem für alle: mental. Das ist etwas ganz Wichtiges. Ich muss zum Beispiel einfach mal etwas spielen, was ich kann und was mir Spaß macht. Dann kann dieses Spielen am Instrument durchaus Regeneration sein – auch wenn es zunächst nichts damit zu tun hat, was im Konzert, in der Oper, zum Vorspiel gekonnt werden muss.

Ich kann es, es macht mir Spaß – das mach ich jetzt einfach mal 15 Minuten! Das kann Regeneration sein. Aber selbst das wird nicht gemacht! Regeneration muss Bestandteil des Übens sein. Diese muss nach den Instrumentalphasen geplant werden. Ich kann ja nicht erst in die Sauna gehen und hinterher Wagner spielen. Ich muss einen Trainingsplan erstellen.

Nicht vergessen darf ich dabei die Ernährung. Wenn Sie viereinhalb Stunden "Meistersinger" spielen, dann müssen Sie vorher so essen wie ein Marathonläufer vor dem Marathon. Sie dürfen nicht nüchtern ins Theater gehen. Denn nach dem ersten Akt kann ihr Muskel nicht mehr. Selbst da fehlt das Wissen. Zur Regeneration gehören die Ernährung und ein gesunder Lebensstil… Eigentlich können Musiker, was die Regeneration angeht, alles eins zu eins von den Sportlern übernehmen.

Was passiert denn, wenn ich meinem Körper diese nicht gönne?

Der Musiker bekommt Probleme. Etwa 70 Prozent aller Probleme der Musiker im muskuloskeletalen System – wir haben in unserer Musikerambulanz etwa 650 Musiker im Jahr – resultieren aus der Ermüdung. Der Muskel ermüdet schneller, wenn er mental nicht erholt ist (Psychotonus) oder wenn der Muskel nicht erholt ist (Verkürzungsrückstand, Stoffwechseldefizite).

Dann hat er einen Verkürzungsrückstand. Durch den Verkürzungsrückstand kommt es zu Problemen mit der Durchblutung, mit der Sehnenscheide, mit der Knochenhaut und so weiter. Diese Probleme baut er auf. Die werden immer schlimmer und der Musiker übt immer mehr.

Er denkt, er müsse das, weil er spieltechnisch immer schlechter wird. Er begreift nicht, dass er eigentlich Regeneration braucht, um darüber wieder das Spiel zu verbessern. Der Musiker hat die Tendenz, wenn etwas nicht funktioniert, sein Üben zu intensivieren anstatt zu hinterfragen, warum etwas nicht funktioniert.

Das heißt, der Musiker müsste mal einen Schritt zurückgehen und sich das "von außen" anschauen?

Der Instrumentallehrer müsste eigentlich nicht nur Instrumentallehrer sein, sondern er müsste Instrumentaltrainer sein. Er müsste genau dasselbe machen, was der Trainer im Sport macht. Er müsste Regenerationseinheiten einschieben.

Er müsste darauf aufmerksam machen, beispielsweise einen bestimmten Wettbewerb nicht zu machen, weil der etwa in die Vorbereitung zum Vorspiel bei den Philharmonikern nicht hineinpasst. Er müsste planen, welchen Belastungen er seine Schüler aussetzt. Und dazu muss die Regeneration passen.

Ganz schlimm wird es, wenn sie "Termintetris" spielen: Hier eine Mucke, da das Quartett, dort ein Weihnachtskonzert… Da passt Regeneration tatsächlich nicht mehr hinein, weil man es auch nicht bedenkt! Und ständig muss man über Handy für alle möglichen Vertretungsstellen verfügbar sein.

Wie finde ich heraus, wie das richtige Verhältnis zwischen Belastung und Regeneration ist?

Das kann ein Musiker, der eine schlechte Körperselbstwahrnehmung hat, nur mit Dritten. Wir sagen immer: Ich brauche für 45 Minuten Instrumentalspiel gewisse konditionelle Voraussetzungen. Die kann ich testen.

Wir haben hier einmal Übungen mit Erstsemestern gemacht. Da sollten Musikerinnen Halteübungen durchführen und Liegestütze. Und wenn man dann zwei Liegestütze schafft, reicht die dynamische Kraftausdauer für 15 bis 20 Minuten Geige spielen. Sie können natürlich länger spielen, aber dann können Sie schon Ermüdungsprozesse beim Spielen messen. Und diese machen die oben genannten Veränderungen.

Das heißt: Ich brauche die dynamische Kraftausdauer für die Muskeln, die die Haltearbeit leisten. Wenn ich die nicht habe, bekomme ich Probleme. Ich brauche also Übeeinheiten, in denen ich die dynamische Kraftausdauer verbessere. Und nicht etwa Maximalkraft – damit mache ich mehr Funktionsdefizite.

Man muss instrumentenspezifisch seine dynamische Kraftausdauer verbessern, damit ich das dreistündige Konzert überhaupt überstehe. Dazu gehört dann auch, dass ich die richtige Regeneration mache. Aber wer die konditionellen Voraussetzungen nicht mitbringt, wird immer Probleme haben, eine gute und schnelle Regeneration hinzubekommen.

Sind Vorbereitung und Regeneration individuelle Dinge?

Individuell gar nicht einmal so sehr. Das ist eher instrumentenspezifisch. Prinzipiell brauchen Sie immer die spezifische Empfehlung für das jeweilige Instrument. Einem Fagottisten muss ich andere Dinge beibringen als einem Posaunisten. Der Posaunist hat meistens die Probleme am linken Arm und an der Schulter, der Fagottist am rechten Arm.

Ich muss auch auf die richtigen Gurtsysteme achten. Halsgurte etwa sollten keine Rolle mehr spielen. Jedes Instrument hat andere Voraussetzungen. Irgendetwas zu machen, was im ganzen Orchester gerade beliebt ist, bringt nichts. Ausgenommen davon sind Entspannungsverfahren, diese können in Gruppen durchgeführt werden, wie etwa Muskelrelaxationsübungen oder Atemübungen zur Entspannung.

Das heißt, bestimmte Dinge "im tutti" zu machen, bringt wenig…?

Da erreichen Sie gar nichts. Denn die Haltearbeit etwa ist ja beim Blechbläser links, beim Holzbläser rechts. Beim Klavierspieler spielen die Schulterblattfixatoren und die Lendenwirbelsäule eine Rolle. Sie müssen dort etwas anbieten, wo jeder seine Problemzonen hat.

Noch wichtiger ist für uns: Es ist ja nicht nur die Regeneration, die derzeit fehlt, sondern auch die falsche Beanspruchung in der Freizeit. Ein Pianist, der Probleme mit der Wirbelsäule bekommt, weil er dort seine statische Haltearbeit hat, sollte jetzt nicht noch joggen gehen. Der muss sich eine Sportart suchen, in der die Lendenwirbelsäule dynamisch belastet, aber auch entlastet wird – Schwimmen zum Beispiel.

Ein Posaunist sollte keine Sportart betreiben, bei der er mit links etwas hält. Tennis etwa ist nichts für den Streicher, der die ganze Zeit den Bogen hält. Man muss sich klar machen: Was ist instrumentenbezogen die jeweils richtige Regenerationsform für den Musiker mit seinen jeweiligen konditionellen Voraussetzungen?

Wie kann Regeneration in der Musik aussehen? Ist sie eher aktiv oder passiv?

Beides! Mentales Training, Muskelrelaxationsübungen, Progressive Muskelentspannung nach Jacobson und so weiter – das ist ja alles nicht wirklich passiv. Aber der Musiker muss auch dynamische Kraftausdauerübungen machen – mit dem Thera-Band, mit dem Fahrrad-Ergometer, im Schwimmbad… Auch das ist Regeneration.

Und bei den Bläsern und Sängern spielt die Regeneration hinsichtlich der Belastung eine Rolle: Staub, trockene Luft und so weiter. Da muss ich dann eben mal in die Sauna, ins Dampfbad. Auch das ist Regeneration!

Oder eben auch mit Instrument…?

Natürlich. Professor Stolzenburg hier in Weimar hat sehr schöne Übungen mit seinen Cellostudenten, bei denen sie sich am Instrument entspannen. Da wird die Muskulatur gelockert, der Schultergürtel, die Wirbelsäule und so weiter.

 Jeder, der interessiert ist, bietet auch etwas an. Die meisten haben es leider in der Ausbildung selber nicht gelernt – und bieten es dann auch nicht an. Ich schätze, keine zehn Prozent der Instrumentallehrer reden mit ihren Studenten über das Thema Regeneration.

Sind spielbedingte Beschwerden Resultate fehlender Regeneration beziehungsweise kann ich diese mit Regeneration vermeiden?

Ich würde sagen, die Beschwerden sind vorrangig Probleme der mangelhaften Übeplanung und den daraus resultierenden konditionellen Problemen. Dabei darf man aber auch die Ergonomie nicht vergessen. Der Musiker sollte überlegen: Wann übe ich wieviel?

Exorbitante Steigerungen der Übezeit in kurzer Zeit erfolgen oft ohne die konditionelle Vorbereitung. Wenn ich immer zwei Stunden übe und plötzlich vor einem Vorspiel sechs Stunden – ohne das konditionell vorbereitet zu haben – bekomme ich Probleme. Das Hauptproblem liegt darin, dass die konditionellen Eigenschaften nicht zum Übepensum passen bzw. dass dies zu wenig oder gar nicht geplant wird.

Das zweite ist die fehlende Regeneration. Und das dritte – und das ­beobachten wir vermehrt – ist die hohe psychische Stressbelastung, ausgelöst durch Spareffekte, Stellenstreichungen, Orchesterzusammenlegungen, Reisebelastungen. Da fällt Regeneration gleich aus.

Ist die Musikermedizin heute schon weit genug?

Die Musikermedizin weiß viel – vor allem wenn sie viel von der Sportmedizin lernt und übernimmt.

Prof. Dr. med. Egbert Seidel

studierte von 1978 bis 1984 Humanmedizin in Jena, wurde danach Assistenzarzt am Lehrstuhl für Sportmedizin der Universität Jena bei Prof. Dr. sc. med. J. Scheibe. Er promovierte 1986 und wurde 1988 Facharzt für Sportmedizin. Seit 1998 ist Seidel Chefarzt des Zentrums für Physi­kalische und Rehabilitative Medizin des Sophien- und Hufeland-Klinikum gGmbH Weimar, seit 2007 Ärztlicher Leiter der sportmedizinischen Untersuchungsstelle Weimar des Deutschen Olympischen Sportbundes.

Im Jahr 1993 beginnt die Vorlesung "Musikermedizin" an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, 2000 wird Seidel zum Honorarprofessor für Musikermedizin und Musikphysiologie an der Hochschule berufen.

Egbert Seidel ist unter anderem Mitherausgeber der Zeitschrift "Musikermedizin und Musikphysiologie" sowie Herausgeber der Buchreihe "Praktische Physiotherapie/Sporttherapie".

www.pdes.de

www.musikermedizin.net

Aber es gibt noch Nachholbedarf?

Es besteht ein extremer Nachholbedarf! Ich nenne nur einmal ein paar Zahlen. Wir haben in Deutschland etwa 7500 Kaderathleten in A- und B-Nationalmannschaften, die zu Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen fahren. Demgegenüber stehen noch rund 125 Berufsorchester in Deutschland. Das sind 30 000 Berufsmusiker.

Wir haben für 7500 Kadersportler 63 hochspezialisierte sportmedizinische Einrichtungen in Deutschland. Mit Professoren, Therapeuten, Sportwissenschaftlern, Leistungsdiagnostik und Regenerationszentren. Und wir haben sieben musikermedizinische interdizsiplinäre Zentren in Deutschland. Wir haben so gut wie keine Orchesterärzte.

In der DDR gab es damals Betriebsambulatorien für Orchester und Theater. Da war ein Arzt für das Orchester, Theater oder Ballett zuständig. Heute macht das der betriebsärztliche Dienst, der sonst auch noch andere Betriebe bedient.

Vergleichen Sie die Reisen: Die deutsche Fußballnationalmannschaft fährt mit 25 Spielern zum Länderspiel. Es reisen rund 25 Offizielle mit: Therapeuten, Ärzte, Mentaltrainer, Trainer. Wenn das Weimarer Orchester fährt, reisen mit den knapp 80 Musikern keine Therapeuten oder Ärzte mit. Es ist überhaupt – ich muss das so sagen – eine miserable betriebliche gesundheitliche Versorgung. Selbst bei einer vierwöchigen Konzertreise ist niemand dabei.

Das Gewandhausorchester nimmt ab und zu einen Hausarzt und einen Physiotherapeuten mit. Es liegen Welten zwischen Sport und Kultur, zwischen Sportlern und Musikern. Allerdings liegt das auch an der Prioritätensetzung der künstlerisch und organisatorisch Verantwortlichen. Es wird einfach nicht geplant, es wird nicht dran gedacht!

Ein Glücksfall war für mich in der Zusammenarbeit mit einem Orchester, dass der Chefdirigent ständig Bandscheibenvorfälle und Rückenschmerzen hatte. Und mit diesem habe ich viel zusammengearbeitet. Und wenn Sie einen Dirigenten dazu bringen, dass er begreift und wahrnimmt, dass Bewegungspausen, Gruppenarbeiten und dergleichen für alle Seiten etwas bringen, haben Sie für die Musiker viel erreicht.

Musiker wissen es ja – zumindest in der Theorie. Dem 55-jährigen Musiker kann ich viel erzählen – wenn das den Dirigenten nicht interessiert, bringt es nichts. Die Aufklärungsarbeit beim Dirigenten, beim Intendanten, beim Techniker ist mindestens genauso wichtig. Es müssen alle mitgenommen werden!

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