Wood | Von Hans-Jürgen Schaal

Raschèr Saxophone Quartet – ein Stück Saxofongeschichte

Rascher
Foto: Felix Broede

Das Raschèr Saxophone Quartet gilt seit Jahrzehnten als das beste Saxofonquartett der Welt. „Dieses Quartett hat Musik­geschichte geschrieben“, sagt der Perkussionist Martin Grubinger. Kein anderes Ensemble hat so viele bedeutende Saxofonwerke uraufgeführt.

Alles fing an mit Sigurd Raschèr (1907 bis 2001) aus Wuppertal. Ursprünglich hatte er nur zum Saxofon gegriffen, um damit sein klassisches Klarinettenstudium zu finan­zieren. Doch dann stellte er fest, dass das In­strument doch zu mehr taugt als nur zu Unterhaltungsmusik in Berliner Tanzlokalen. „Das gründliche Fehlen jedes Wissens, was auf dem Saxofon möglich ist und was nicht“, schrieb ­Raschèr, „gab mir das Bedürfnis, alles auszuprobieren, wie unwahrscheinlich es auch schien.“ Schon 1932 hatte er sich auf dem Saxofon einen Tonumfang von dreieinhalb Oktaven erarbeitet.

Raschèr ging 1933 ins Ausland

Der Komponist Edmund von Borck schrieb für Raschèr und die Berliner Philharmoniker damals ein erstes Saxofonkonzert. Raschèr sah sich als Kämpfer für die Konzertfähigkeit seines Instruments. Als aber die Nazis gegen das Saxofon Stimmung machten und er anonyme Drohbriefe erhielt, ging er 1933 ins Ausland und wurde Saxofon­dozent an den Musikakademien in Kopenhagen und Malmö. Um sich von Nazi-Deutschland zu distanzieren, schrieb er seinen Namen fortan mit Akzent (sprich: „Raschäär“).

Jahrzehntelang konnte Sigurd Raschèr die Komponisten für das Saxofon begeistern. Mehr als 160 Werke wurden für ihn geschrieben, darunter die Konzerte von Glasunow (1934), Larsson (1934), Ibert (1935), Coates (1936), Martin (1938), Ullmann (1940) und Cowell (1961). Auch Paul Hindemith komponierte für ihn – ein Konzertstück für zwei Altsaxofone (1933). Es dauerte lange, bis Raschèr für dieses Duett einen geeigneten Partner fand. Erst 1960 konnte er es aufführen, zusammen mit seiner damals 15-jährigen Tochter Carina, seiner Meisterschülerin. Als Duo gingen die beiden 1962 auch auf Europatournee – da lebte Raschèr mit seiner Familie längst in den USA. Durch seine rege pädagogische Tätigkeit auf allen Ebenen – von der Elementary School bis zur Universität – wurde er zum Begründer der „amerikanischen“ Saxofonschule. 

Die Anfänge des Quartetts

Schon in den 1930er Jahren hatte Raschèr in Schweden mit Saxofonquartett-Besetzungen gearbeitet. 1969 endlich erfüllte er sich einen langgehegten Traum und gründete das Raschèr Saxophone Quartet mit dreien seiner Schüler. Carina Raschèr (Sopransaxofon), Bruce Weinberger (Tenorsaxofon) und Linda Bangs (Bariton­saxofon). Alle drei blieben dem Quartett viele Jahre lang erhalten, Bruce Weinberger sogar bis 2014, und auch danach übernahm er noch Management-Aufgaben für das RSQ. Carina Raschèrs Nachfolgerin wurde 2002 Christine Rall. Sie sagt: „Carina war meine allererste Lehrerin auf dem Saxofon und hat mich die ersten neun Jahre begleitet. Carina faszinierte durch ihren wunderbar schwebenden, samtweichen Sopranklang. Ich versuche immer, so wie sie zu klingen.“ Linda Bangs’ Nachfolger am Baritonsaxofon wurde 1993 Kenneth David Coon. Er meinte: „Linda hat ein beneidenswertes melodisches und rhythmisches Feuer, eine brillante Virtuosität und einen Klang, der völlig verzaubert. Ich glaube nicht, dass irgendein Quartett jemals ein derartiges Baritonfundament hatte, bevor Linda kam.“

Rascher

Aktuelle CDs

  • The Eight Sounds (BIS, 2008)
  • In Memoriam: Pehr Henrik Nordgren (Alba, 2011) 
  • Mauricio Kagel: Chorbuch (Winter & Winter, 2012)
  • Chor. Klang. Saxophon (Rondeau, 2018)
  • Was weite Herzen füllt (BR Klassik, 2019)
  • Lera Auerbach: 72 Angels (Alpha, 2020)

Von Anfang an war der Ensemble-Sound des RSQ einmalig – das Quartett wirkte wie ein einziges, vierstimmiges Instrument. »Unser wichtigstes Anliegen war immer die Schönheit des Klangs«, bestätigt das Langzeit-Mitglied Bruce Weinberger. Raschèr habe zu seinen Mitspielern häufig gesagt, man müsse mit dem Wichtigsten anfangen, und das sei: so schön wie möglich zu spielen. „Kein Streichquartett könnte je so homogen klingen wie das RSQ“, bestätigte der Dirigent Gennadi Roshdestwensky. Zum Teil verdankt sich dieser Klangzauber auch den besonderen Instrumenten im Ensemble. Das RSQ spielt ausschließlich auf Buescher-Saxofonen, die gemäß dem Originalpatent von Adolphe Sax gebaut wurden, und verwendet außerdem Mundstücke mit großer Kammer. Raschèr verfocht ein Leben lang das ursprüngliche Klangideal von Sax und hat seine Mitspieler mit dieser Idee begeistert. „Sein Enthusiasmus war an­steckend“ (Linda Bangs).

Heute ist das Raschèr Quartett in Freiburg zu Hause

Nach einer etwa zweijährigen Formierungs­phase gab das RSQ 1971 in Süddeutschland sein erstes öffentliches Konzert und ging dann im VW-Bus auf eine kleine Tournee. Carina Raschèr war damals schon aus den USA nach Deutschland gezogen, Bruce Weinberger folgte bald nach – heute ist das Quartett in Freiburg zu Hause. 1974 kam die erste USA-Tour, 1976 die erste Schallplatte, 1978 der Durchbruch in Amerika mit einem Konzert in der Carnegie Hall.

Als sich Sigurd Raschèr 1980 aus seinem Quartett zurückzog (er war bereits 74), machte er seinen damaligen Meisterschüler John-Edward Kelly (der war erst 22) zum Nachfolger. Kelly (1958 bis 2015) blieb ein Jahrzehnt lang dabei, dann holte er seine Solokarriere nach. Auch als Solist trat er in Raschèrs Fußstapfen und hat über die Jahre mehr als 200 Kompositionen uraufgeführt, da­runter 30 Saxofonkonzerte mit Orchester. Der Kritiker Christoph Schlüren schrieb über Kelly: „Er spielte in einer anderen Liga als alle Kollegen. Das Saxofon in den Händen John-Edward Kellys war ein anderes Instrument, viel nobler, klarer, purer. Dieses Spiel schien aus einer anderen Welt zu stammen.“

Zeitgenössisches Repertoire 

Gleich bei der Gründung des RSQ hatte Sigurd Raschèr begonnen, befreundete Komponisten zum Schreiben von Saxofonquartetten zu be­wegen. Eines der ersten Stücke für das RSQ war Erland von Kochs „Miniatyrer“ (1970), ein viersätziges Werk mit einer fast folkloristischen Melo­dio­sität. Es entwickelte sich zum Dauerbrenner im Repertoire des Quartetts. Nach dem Ausscheiden des Ensemblegründers fingen dann Weinberger und Kelly an, neue Kompositionen fürs RSQ zu „akquirieren“. Heute hat das Quartett ein Repertoire von mehr als 350 Stücken, die ganz überwiegend von Zeitgenossen stammen. Zu den namhaften Komponisten, die fürs RSQ geschrieben haben, gehören unter anderem Luciano Berio, Günter Bialas, Philip Glass, Sofia Gubaidulina, Cristóbal Halffter, Mauricio Kagel, Giya Kancheli, Tristan Keuris, Erkki-Sven Tüür oder Iannis Xenakis. Andere – wie Krszysztof Penderecki und Steve Reich – haben Bearbeitungen eigener Werke fürs RSQ angeregt und genehmigt. 

Es muss eine einstimmige Entscheidung sein

Kenneth David Coon (1967 bis 2019), der langjährige Baritonist des RSQ, erklärte einmal: „Wenn einer von uns einen Komponisten entdeckt, der gut zu uns passen könnte, dann hören wir seine neuesten Werke an und entscheiden für uns, ob wir ihn kontaktieren wollen oder nicht. Wenn ein Mitglied des Quartetts Zweifel hat, lassen wir es. Es muss eine einstimmige Entscheidung sein. Ich glaube, dadurch ist un­sere Erfolgsquote ziemlich hoch. Wir verbringen dann eine Menge Zeit damit, einem Komponisten vorzuspielen. Wir schicken ihm auch Auf­nahmen und treffen uns mit ihm, wenn die Komposition beendet ist.“

Nur gelegentlich spielt das RSQ auch historische Werke, etwa Glasunows Saxofonquartett von 1934 oder das selten gehörte zweisätzige „Quartette“ (1879) des Amerikaners Caryl Florio. Eine große Ausnahme ist Johann Sebastian Bach, von dem fast immer ein Stück auf dem Konzertprogramm steht. Bachs Musik gilt den Quartettmitgliedern als die „Keimzelle des klassischen Saxofonspiels“. Wenn das RSQ Werke von Bach interpretiere, so schrieb der Musikwissenschaftler Ulrich Dibelius, erhalte die Musik »eine seraphische Aura – als hätten Orgel und Streichquartett sich miteinander vermischt«. Carina Raschèr sprach von Bachs Musik als einer „Therapie für die Menschheit“. 

Erweiterungen des Klangs

Neben den reinen Quartettauftritten konzertiert das RSQ seit langem auch zusammen mit anderen Künstlern. Dabei entstand sogar eine ganz neue Werkgattung, nämlich das Konzertstück für Saxofonquartett und Orchester. Häufig fertigten die Komponisten solcher Konzerte (zum Bei-
spiel Tristan Keuris oder Philip Glass) noch eine ­zweite, reine Quartettfassung an. Mit Perkussionisten (dem Kroumata Percussion Ensemble) hat das RSQ ebenfalls schon gearbeitet, zum Beispiel bei »In Erwartung« von Sofia Gubaidulina. Besonderer Beliebtheit erfreut sich seit einiger Zeit auch die Kooperation mit Chören. Mehr als 40 Werke für Saxofonquartett und Chor wurden für das RSQ bereits geschrieben. 

Seit 1999 gibt es außerdem das Raschèr Saxophone Orchestra, eine Erweiterung des RSQ zum Saxofon-Dutzend – zwölf Uraufführungen und zwei CDs kann das RSO schon vorweisen. Nebenbei dient diese größere Saxofonbesetzung auch als Talent-Reservoir fürs Quartett. „Wenn jemand in unserer Tradition spielt, dann ist diese Person auf unserem Radar“, sagt Elliot Riley, der aktuelle Altist im RSQ. „Andreas van Zoelen [den neuen Tenoristen] kannten wir durch das Saxofonorchester schon lange. Er hat dort fast von Anfang an das Basssaxofon gespielt.“ Auch wenn die Akteure wechseln – der ein­malige Sound und Spirit des RSQ soll auch zukünftig unverkennbar bleiben.