Orchestra | Von Renold Quade

Repertoire – „Mahlers Titan“ von Matthias Höfert

Foto: Pixabay - Artie_Navarre

Matthias Höfert hat ein eigenes Arrangement als Zusammenfassung der Höhepunkte der 1. Sinfonie von Gustav Mahler entwickelt. Die einzelnen Sätze so zu kürzen, dass „ein Ganzes“ entsteht, war die schwierige Aufgabe, der sich Matthias Höfert mit Erfolg gestellt hat. „Abgesehen von der Straffung des Werks, die naturgemäß ein deutliches Eingreifen in das Original erfordert, versuchte ich möglichst originalgetreu die musikalischen Inhalte ins Blasorchester zu übertragen.“ Auch dieser Linie ist er in „Mahlers Titan“ treu geblieben.

Es war in der Tat eine der Uraufgaben der frühen Bläserformationen des 18. Jahrhunderts: Die sogenannten „Harmonie“-Besetzungen pflegten die Aufgabe, jegliche Art von Musik – gerade auch die, die eher nur kleineren Publikumskreisen aus privilegierten Schichten zugänglich war – einer breiten Bevölkerung erlebbar zu machen. Gerne unter freiem Himmel, in Parks, auf Plätzen, in Höfen und an Flanierpromenaden. Aus rein militärischen Feld­musiken wurden Harmoniemusiken, zunächst häufig in der Besetzung zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Hörner und zwei Fagotti, später erweitert um Querflöten, Posaunen, Trompeten und kleinem Schlagwerk.

Neben den Komponisten gab es daher not­wendigerweise auch Arrangeure, Musiker, die besonders geschickt darin waren, zum Beispiel Opernmelodien für diese Besetzung einzurichten. Gerade Opernpotpourris erfreuten sich großer Beliebtheit und auch ein Mozart, nicht zuletzt der Einnahmen wegen, hat damit gelieb­äugelt, Teile seines Opernschaffens selbst in „Harmonie zu setzen“. Wenngleich er es als recht schwer und zeitaufwendig empfand, ein Arrangement so zu gestalten, dass es „den Blasinstrumenten eigen ist und dabei doch nichts von seiner ursprünglichen Wirkung verloren geht“.

Auch aufgrund dieser Entwicklungen war eine weitere Wurzel zur Orchesterform Blasorchester angelegt: beginnend bei den kleinen „Harmonien“ über Orchesterformationen mit rund 25 Musikern bis zum heutigen voll ausgebauten Konzertblasorchester.

Heute ist es in der Breite etwas stiller geworden um das große Feld der Transkriptionen. Originalkompositionen, sinfonisch wie auch unterhaltend, finden im Blasorchester genreeigen immer mehr Beachtung und weisen eigene Wege. Aber es juckt wohl nach wie vor immer wieder in den Fingern, Originalvorlagen zu beleuchten, auch wenn die Beweggründe und Antriebe der Arrangeure noch so unterschiedlich sind.

Matthias Höfert etwa hat sich seine eigenen Gedanken gemacht: „Wie heutzutage die meisten ernstzunehmenden Musiker, glaube auch ich nicht an den Sinn einer Unterteilung in ‚E-Musik‘ und ‚U-Musik‘. Ebenso wenig finde ich, dass es weniger richtig oder ehrenhaft sei, eine Bearbeitung statt einer Originalkomposition zu spielen. Gute Musik hat immer ihre Berechtigung, und es kommt am Ende ausschließlich darauf an, die Vielfalt des menschlichen Lebens abzubilden und ehrliche Emotionen und überzeugende Konzeptionen musikalisch auszudrücken.

Dass das Genre Blasorchester die Aufgabe hätte, ‚kulturell hochstehende‘ Musikstücke bekannt zu machen und zu verbreiten ist ein Gedanke, der mir, gemessen am frühen Gedanken der Harmoniemusik, heute fremd ist und irgendwie abwegig erscheint. Trotzdem kann man nicht selten erleben, dass insbesondere junge Menschen durch eigene Berührung mit großartiger Musik in ihren Ensembles einen Zugang zu diesen Werken, zu deren Komponisten und überhaupt zu großer Sinfonik finden!“

Die Idee

Matthias Höfert betreut seit 2011 die Bläserphilharmonie Niedersachsen und im Jahre 2019 stand für den Herbst ein Projekt an, das sich mit Komponisten des Anfangsbuchstabens „M“ beschäftigen sollte. Maslanka, Melillo, de Meij… Da gab es schon viel Substanz. Aber einer seiner Lieblingskomponisten von Jugend an, Gustav Mahler, kam ihm auch in den Sinn. „Ich habe mich auf die Suche nach einer geeigneten Musik gemacht und in der Verlagswelt meine Recherchen betrieben. Dabei musste ich mit Bedauern feststellen, dass es relativ wenige vielversprechende Mahlerbearbeitungen gibt. Eine komplette Sinfonie wollte ich sowieso keinesfalls zur Aufführung bringen. Ja, es gibt in der Tat eine Bearbeitung der ‚Ersten‘ für Blasorchester. Deren zugängliche Auszüge haben mich aber nicht überzeugt.

Nach Tagen des Suchens und Überlegens hatte ich dann beschlossen, ein eigenes Arrangement als Zusammenfassung der Höhepunkte dieser 1. Sinfonie zu entwickeln. Durchaus schweren Herzens, war mir doch klar, welch mörderische Arbeit da auf mich zukommen würde. Es sollte ein quasi einsätziges, aber mehrteiliges Werk entstehen, das diese wunderbare Musik möglichst umfänglich abbildet, aber dennoch Raum für weitere Höhepunkte in einem Konzertprogramm lässt.“

Für Matthias Höfert ist Mahlers 1. Sinfonie das herrliche Zeugnis eines Menschen, der mit Leidenschaft um Erfüllung und Glück ringt. „Zum Beispiel die verarbeiteten ‚Lieder eines fahrenden Gesellen‘ machen deutlich, wie Mahler sein Leben als einen Weg, als eine Wanderschaft empfunden hat. Die ‚Gesellen‘ waren früher, durchaus ähnlich der heutigen Flüchtlingsproblematik, auf Wanderschaft, weil sie auf der ­Suche nach einer besseren Welt mit Wohlstand, Harmonie und Frieden waren.

Der große Kampf um ein ­erfülltes und gutes Leben, um diese ›bessere Welt‹ ist eine extrem fordernde Prüfung, die jeden Protagonisten zwingt, sich zu einem Helden, einem Titanen, zu entwickeln.“ (Anmerkung: ­Titanismus, ein Begriff aus der Lite­ratur- und Geistesgeschichte, der im Grunde den trotzigen Widerstand des Individuums gegenüber einer unüberwindlichen Macht bezeichnet.)

„Und so gelingt am Ende des Werks endlich die Über­windung aller Melancholie, aller Anstrengungen und auch die Überwindung des durch unerfüllte Liebe verstärkten Schmerzes.“ Die Biografen verweisen auf Mahlers besondere Aufgewühltheit ob zweier unglücklicher Liebesaffären während der überaus langen Entstehungszeit dieses Werks. Mahler selbst schreibt vom „unverbesserlichen Gottsucher, der hier Sieg verkündet ­angesichts des Höllenrachens“.

Der Komponist

Gustav Mahler, geboren im Juli 1860 in Kalischt (Böhmen), gestorben im Mai 1911 in Wien, fand seine verdiente Anerkennung als Komponist erst nach seinem Tod. Berühmtheit erreichte er zu Lebzeiten aber als Dirigent. Er dirigierte schon früh an Opernhäusern in Prag, Leipzig und Budapest, arbeitete lange als Kapellmeister im Stadttheater Hamburg und fand schließlich bedeutende Anstellungen an der Wiener Hofoper, an der Metropolitan Opera in New York und an der dortigen Philharmonie.

Gustav Mahler (Foto: Moriz Nähr, Österreichische Nationalbibliothek)

Trotz seiner intensiven Konzerttätigkeit schuf er viele bedeutende Werke für Orchester und für Singstimme, darunter neun expressive Sinfonien und Liederzyklen wie „Lieder eines fahrenden Gesellen“ oder „Des Knaben Wunderhorn“. „Meine Zeit wird kommen“, sagte Mahler über seine Musik – und in der Tat ist sie heute aus dem Konzertrepertoire nicht mehr wegzudenken.

Der Arrangeur

Matthias Höfert, 1968 in Marktheidenfeld (Bayern/ Mainfranken) geboren, ist seit 1999 Orchesterleiter des Bundespolizei-Orchesters Hannover. Er machte sich während seiner Schulzeit bereits als Pianist und Klarinettist einen Namen, verbrachte seinen Wehrdienst beim Heeresmusikkorps 12 Veitshöchheim und studierte an der Musikhochschule Würzburg Dirigieren/Orchesterleitung und Komposition. Er war bereits in ­frühen Jahren rege als Instrumentallehrer tätig und unterstützte mit Enthusiasmus den Aufbau von Laienchören und Laienorchestern.

Matthias Höfert (Foto: Bundespolizeiorchester Hannover)

Sein Weg führte ihn weiter als Korrepetitor und Kapellmeister von Operetten und Opernproduktionen unter anderem an das Stadttheater Bielefeld oder zu den Freilichtspielen Tecklenburg. Er war langjähriger Dirigent des Niedersächsischen Landesjugendblasorchesters und leitet heute die Bläserphilharmonie Niedersachsen. Eher im Verborgenen, meist zur engagierten Eigenverwertung, betätigte er sich schon immer als Arrangeur von Musikstücken unterschiedlichster Epochen und Stile. Für Blasorchester kann er dabei auf rund 160 Werke zurückblicken.

Der Aufbau

Alle vier Sätze von Mahlers Endfassung kommen in ihrer ursprünglichen Reihenfolge in der Bearbeitung vor. Die „Blumine“, ein optional zu behandelndes „Andante“, eher selten gespielt, bleibt ausgeklammert. Das Original kann je nach Interpretation rund 50 Minuten beanspruchen. Höferts Auszüge liegen bei rund 30 Minuten. Seine Betrachtungen orientieren sich, formal getrennt, an den vier Sätzen. Diese werden in der Bearbeitung aber, quasi einsätzig, ohne Unterbrechung gespielt.

1. Satz: langsam, schleppend, wie ein Naturlaut

Im Original dauert dieser Satz etwa 15 Minuten. Höfert beschränkt sich auf fünf und übernimmt lediglich die Exposition. Die Einleitung – Natur­erwachen, die Beschreibung eines länd­lichen Charakters – wird zunächst originalgetreu be­gonnen, dann zur Mitte hin eingekürzt. Das Quartmotiv, das im ganzen Werk von Bedeutung ist, prägt die Szenerie. Ein Kuckucksruf leitet zunächst über zum chromatischen Stimmungsbild der weichen, tiefen Instrumente, ein weiterer Kuckucks­ruf dann zum ersten Thema und somit zum eigentlichen Beginn der Exposition.

Das erste Thema, eingangs in Bariton und Violoncello, schöpft aus der gleichen Substanz wie das Gesellenlied „Ging heut morgen übers Feld“. Es erklingt zunächst im kantilenen Legato, im Wiederaufgriff dann, zum Beispiel in der Trompete, auch schon einmal im spielerischen Staccato.

Das zweite Thema wird in der 1. Klarinette vorgestellt, die sich dann in der Folge sofort mit der Es-Klarinette auffällig zum verspielten Kontrapunkt verbindet. Gemäß Original nimmt die Musik ihren weiteren Lauf. Sie präsentiert den ­Epilog der Exposition, der sich zu einem klangvollen Höhepunkt steigert und schleicht sich, quasi mit dem Kopfmotiv des ersten Themas, attacca in den zweiten Satz.

2. Satz: kräftig bewegt, doch nicht zu schnell

Von den rund sieben möglichen Minuten verwendet Höfert etwa eineinhalb. Er präsentiert ausschließlich das tänzerische Thema ohne Trio und beschließt mit der vollen Energie des Wiederaufgriffs, analog zur Schlusspassage der Originalvorlage.

3. Satz: feierlich und gemessen, ohne zu schleppen

Attacca, gemessen, langsam, leiten vier tiefe Achtelnoten dynamisch abfallend, unisono „a“, über zum Pianissimo-Wechselbass der Pauken. Etwa sieben von elf möglichen Minuten des 3. Satzes schenkt Höfert Raum in seinem Auszug. Es erklingt, wie immer ganz nah am Original, der Volkskanon in Moll, eingangs mit solistischer Option für den Kontrabass. Dem schließt sich die ungarische Zigeunerpassage mit ihren parodistischen Teilen an und schließlich eröffnet sich ein weiterer Teil, der aus Anspielungen aus seinen Liedern schöpft. Die Reprisenanteile ent­fallen, die gerne geheimnisvoll wirkende Coda reduziert sich auf ihre Schlusstöne.

Moritz von Schwind: „Wie die Tiere den Jäger begraben“. Der Holzschnitt lieferte Mahler vermutlich eine der Anregungen zur Komposition des 3. Satzes.
4. Satz: stürmisch bewegt

Nur minimal eingekürzt um drei kleine Passagen – eine frühe, beruhigende Wiederholung des ersten Themas, eine kurze Passage gegen Ende der Durchführung und eine Passage zu Beginn der Reprise – erstrahlt der 4. Satz nahezu komplett. Eine gute Viertelstunde im deutlichen Kontrast zu den vorher eher in ruhiger Atmosphäre ablaufenden Klangbildern steht nun bevor. Schon die kurze Einleitung ist wahrhaft stürmisch.

Das erste Thema, im Fortissimo der Blechbläser, weist den Weg. Dem nächsten Thema, charakterisiert »mit großer Wildheit«, folgt eine eher lyrischen Passage »sehr gesangvoll«. Die führt zum Wiederaufgriff des Quartmotivs aus dem ersten Satz und aus »langsam« wird alsbald schon »stürmisch bewegt«. In der Durchführung unterstreicht Mahler seine kontrapunktischen Fähigkeiten und das thematische Material wandert durch viele Stimmen des Orchesters.

Eine kurze, fast weihnachtlich anmutende Be­ruhigung lässt durchatmen, aber die Spielanweisung »wieder stürmisch« führt zurück zur Bestimmung dieses Satzes und die Partitur aktiviert intensiv wieder nahe zu allen Instrumentenfarben. Es folgt erneut Beruhigung durch das Quart­motiv (in Klarinetten und Saxofon, mit effekt­voller Antwort in den Hörnern) und die eher dünn instrumentierte, langsame Passage der hohen (und später mittleren) Hölzer. Die ­Reprise wird vorbereitet.

Aus „sehr langsam“ und „zurück­haltend“ wird „piu mosso, plötzlich schnell, doppeltes Tempo“. Das erste Thema bringt sich nun in kontrapunktischer Manier wieder in Erinnerung. Daneben verbreitet das Alt­saxofon eher dunkle Stimmung. Die Partitur wird wieder dichter. Hinweise wie „allmählich (unmerklich) etwas zurückhaltend“ oder „Anfang der Steigerung noch zurück haltend“ lassen ­ahnen, wohin die Reise nun gehen soll. Die Coda beginnt mit voller Partitur, „höchste Kraft, wieder etwas drängend“. „vorwärts“, „triumphal“, »poco piu mosso“, „nicht mehr breit“, „drängend bis zum Schluss“ strebt das Werk euphorisch und in voller Besetzung dem Ende entgegen.

Instrumentation

Vor uns liegt die Partitur eines voll ausgebauten sinfonischen Blasorchesters. Mit entsprechendem Holzsatz und in der Tiefe wirken Kontrabass und – in unseren Breiten nicht selbstverständlich – das Violoncello mit. Die Stimme des Violon­cellos steht aber nie ganz alleine. Sie verfeinert auf unterschiedlichste Art und Weise immer wieder wirkungsvoll das ein oder andere Klangbild.

Etliches in der Musik Mahlers ist ja schon von Hause aus reich in Bläserfarben angelegt. Diese Passagen bieten sich ganz logisch an, mit einem Blasorchester wirkungsvoll und im originären Duktus herausgearbeitet zu werden. In einer Komposition original für Sinfonieorchester geht es aber nun mal nicht ohne Streicher und deren spezifische Fähigkeiten. Da gilt es, gleich zu Beginn etwa die sanften Flageolett-Töne und den besonders flirrenden Effekt der „Naturlaute“ abzubilden.

Ganz grundsätzlich will aber auch technisches Laufwerk und geschmeidige Höhe zu ihrem Recht kommen. Das bringt traditionell die Holzbläser in Position, die sich in den meisten Fällen den zusätzlichen Herausforderungen annehmen müssen – dankbaren und auch weniger dank­baren. Da sind nicht nur Piccolo und Querflöte gefragt, die ja schon eher einmal auf dem Präsentierteller stehen, da bedarf es auch stabiler hoher Klarinetten, inklusive der im Arrangement bewusst eingesetzten Es-Klari­nette.

Der Saxofonsatz erfüllt wandlungsfähig seine Aufgaben, solistisch wie auch klangsteigernd. Für das Blechregister, für die Trompeten und ­besonders die Hörner stellt das Arrangement in Summe be­son­dere Anforderungen an Kraft und Ausdauer, obwohl ihnen einige solis­tische Stellen ob der Kürzungen vorenthalten werden.

Fazit

Die einzelnen Sätze so zu kürzen, dass „ein Ganzes“ entsteht, war die schwierige Aufgabe, der sich Matthias Höfert mit Erfolg gestellt hat. „Abgesehen von der Straffung des Werks, die naturgemäß ein deutliches Eingreifen in das Original erfordert, versuchte ich möglichst originalgetreu die musikalischen Inhalte ins Blasorchester zu übertragen.“ Auch dieser Linie ist er treu geblieben. Leidenschaft war spürbar, als Höfert die Partitur überreichte.

„Ich war und bin davon überzeugt, dass es Orchestern sehr viel Spaß machen wird, dieses ­extrem fordernde Stück zu spielen. Es ist im Original ein großes Standardwerk der Sinfonik. Während des Schreibens hat das Projekt bei mir eine großartige Eigendynamik entwickelt und mich sehr glücklich gemacht.“

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