Wood | Von Hans-Jürgen Schaal

Saxofonisten und Raga-Jazz. Jamsession kommt aus Indien

Trio Benares
Roger Hanschel gründete mit Sitarspieler Deobrat Mishra und Prashant Mishra (Tabla) das Trio Benares (Foto: rogerhanschel.de).

Jazz und indische Musik sind Seelenverwandte – speziell der modale Jazz und die karnatische Musik. In beiden geht es ums Ad-hoc-Spielen über Tonskalen (Modi), um virtuose, energiegeladene, rhythmusgetriebene Expressivität. Jazz und Indien zusammenzubringen ist eine lohnende Herausforderung für Saxofonisten.

Der Erste, der die indische Musik einst im Westen verbreitete, war der Sitarspieler Ravi Shankar (1920-2012). Er unternahm Tourneen durch Europa und Amerika, machte Platten für ein kalifornisches Label, gründete in Los Angeles eine indische Musikschule, hatte Auftritte bei großen Pop-Festivals in Monterey (1967) und Woodstock (1969) und wurde als Dozent an amerikanische Hochschulen berufen. Shankar scheute sich nicht, indische Ragas, die traditionell viele Stunden dauern können, für sein westliches Publikum auf ein „handliches“ Format von 15 bis 20 Minuten zu bringen. „95 Prozent ist Improvisation“, sagte Ravi Shankar einmal. 

Modale Komplexität

Indien
Ravi Shankar (Foto: Hekerui, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8591796)

Bei Musikern des modalen Jazz rannte Ravi Shankar offene Türen ein. Der Tenor- und Sopransaxofonist John Coltrane soll bei ihm sogar Unterrichtsstunden genommen haben. „Wenn ich Shankars Musik höre, würde ich sie am liebsten kopieren – nicht Note für Note, aber den Geist, der dahinter steckt“, sagte Coltrane. „Vor allem durch den modalen Aspekt seiner Kunst fühle ich mich mit ihm verbunden.“ 1961 nahm Coltrane ein Stück namens „India“ auf – der Kritiker Ekkehard Jost nennt es eine „symbolische Reverenz vor der von Coltrane sehr geschätzten indischen Musik“.

Der Perkussionist Trilok Gurtu bestätigt diese „Affinität zwischen den Improvisationen im Jazz und in der indischen Musik“: „Jamsessions haben in Indien eine ältere Tradition als im Jazz.“ In den 1960ern fanden auch die ersten „offiziellen“ künstlerischen Begegnungen zwischen Jazzmusikern und indischen Musikern statt. Ravi Shankar selbst initiierte 1962 eine Plattensession mit den amerikanischen Jazzflötisten Bud Shank und Paul Horn. Der Produzent Joachim Ernst Berendt brachte 1967 das Trio des indischen Sitarspielers Dewan Motihar mit fünf europäischen Freejazz-Musikern zusammen, darunter dem französischen Saxofonisten Barney Wilen. 

„Indo-Jazz-Suite“ von Joe Harriott

Viel Beachtung fand 1966 die „Indo-Jazz Suite“ mit dem jamaikanisch-britischen Saxofonisten Joe Harriott (1928 bis 1973). Harriotts Jazzquintett (mit Kenny Wheeler an der Trompete) traf dabei auf ein „indisches“ Quintett (wiederum mit dem Sitarspieler Dewan Motihar). Obwohl Harriott, der als europäischer Ornette Coleman galt, immer wieder in freiere Improvisationen ausbricht, bleibt der Raga-Modus (hier meist pentatonisch) als Orientierung präsent. Das Konzept und die Kompositionen kamen von John Mayer, einem indischen Geiger, der damals im Royal Philharmonic Orchestra spielte – in der „Indo-Jazz Suite“ gehört er zum „indischen“ Quintett. Der Kritiker Thom Jurek schrieb Jahrzehnte später: „Die vier Ragas sind ein Wunder an tonaler Erfindung und modaler Komplexität.“ Die rhythmisch rasanten und mitreißend improvisierten Aufnahmen fanden noch zwei Fortsetzungen, ebenfalls mit Joe Harriott am Saxofon: „Indo-Jazz Fusions“ (1967) und „Indo-Jazz Fusions II“ (1968).

Indischer Boogie

Saxofon
Karuna Supreme von John Handy

Wiederum Joachim Ernst Berendt initiierte 1975 eine Produktion mit dem afroamerikanischen Altsaxofonisten John Handy (geb. 1933), einem ehemaligen Mitstreiter von Charles Mingus. Auf dem Album „Karuna Supreme“ war Handy „Gast“ beim Trio des nordindischen Sarodspielers Ali Akbar Khan, eines Jugendfreunds von Ravi Shankar. Handys Saxofonspiel fügt sich wunderbar in den Rahmen ein, ohne indisch klingen zu wollen. Trotz der fesselnden Improvisationen strahlt das Album eine große Relaxtheit aus. Der Kritiker Sean Westergaard nannte „Karuna Supreme“ eine der erfolgreichsten Fusionen zwischen indischer Musik und Jazz: „Der Grad an Kommunikation zwischen den Spielern ist schwer zu übertreffen.“ Das Folgeprojekt „Rainbow“ (1980, mit dem südindischen Geiger L. Subramaniam als drittem Solisten) fiel etwas lebhafter aus. Hier steuerte John Handy auch ein Stück bei, in dem er Jazz-Phrasen mit einer indischen Tonskala verbindet („Indian Boogie Shoes“).

Der amerikanische Saxofonist Charlie Mariano (1923 bis 2009) war ebenfalls einst Sideman bei Charles Mingus. Während eines Engagements in Malaysia 1967 entdeckte er die karnatische Musik, die er dann in Südindien ernsthaft studierte. Er erlernte auch indische Blasinstrumente wie Nagaswaram und Shenai und setzte sie in einigen Aufnahmen ein. Später konzentrierte er sich bei seinen Indo-Jazz-Projekten meistens aufs Sopransaxofon. Wiederholt arbeitete Mariano mit dem Karnataka College of Percussion aus Bangalore zusammen. „Wenn ich eine indische Sängerin auf dem Saxofon begleite, versuche ich mich so gut wie möglich an die Stimme anzupassen“, sagte Mariano. „Sicherlich klinge ich dann anders als sonst – auch dank meines Trainings in indischer Musik. Indische Holzbläser haben eine andere Art als wir, die Töne anzustoßen. Vielleicht mache ich es mittlerweile auf dem Saxofon ganz ähnlich.“

Mikrotonale Ausschmückungen

In den indischen Ragas werden vielfach Mikrotöne verwendet – entweder als Skalentöne oder zur Umspielung des „Zieltons“. „Es ist ein komplexes System der Ornamentierung“, sagt der amerikanische Saxofonist Rudresh Mahanthappa (geb. 1971). „Dazu gehört, dass man zwischen den Tönen gleitet. Du spielst ein bisschen darüber und darunter – es gibt 100 Möglichkeiten, einen Ton auszuschmücken.“ Mahanthappa, der familiär indische Wurzeln hat, wuchs ganz mit dem amerikanischen Jazz auf. Seine frühen Saxofonhelden hießen Charlie Parker, Michael Brecker, Grover Washington Jr. Erst in seiner College-Zeit entdeckte er Aufnahmen von Kadri Gopalnath (1949 bis 2019), der die karnatische Musik aufs Saxofon übersetzte, aber in Indien wegen seines Instruments lange um Anerkennung kämpfen musste. „Er war der Einzige, der diese Musik auf dem Saxofon spielte“, sagt Mahanthappa. „Er überschritt die physikalischen Grenzen dieses westlichen Instruments. Es war anders als jedes Saxofonspiel, das ich vorher gehört hatte.“

Rudresh Indien Saxofon
Rudresh Mahanthappa (Foto: Jimmy Katz)

Dass Mikrotöne auf dem Saxofon durchaus zu meistern sind, erklärt der Mikroton-Spezialist Philipp Gerschlauer. „Das Saxofon hat eine besondere Eigenschaft, nämlich die vielen Klappen. Durch deren Öffnen und Schließen lassen sich Hunderte von Kombinationen finden, mit denen man Mikrotöne hervorbringen kann. Die Finger lernen, sich unabhängig voneinander zu bewegen, ähnlich wie auf dem Klavier. Man muss nur sehr wenig mit dem Ansatz nachhelfen.“ Auch Rudresh Mahanthappa hat das „mikrotonal-ornamentale“ Spiel auf dem Saxofon erlernt. In seiner Musik verwendet er viele indische Anklänge, mischt sie jedoch mit Jazz-, Funk- und Fusion-Elementen. Häufig arbeitet er mit E-Gitarristen wie dem Mikroton-Experten David Fiuczynski und dem pakistanischstämmigen Rez Abbasi. „Wir entwickeln Ideen, die das melodische und rhythmische Element der indischen Musik mit dem harmonischen Element des Jazz verbinden“, sagt Abbasi. Er war mit dabei, als Rudresh Mahanthappa und sein Inspirator Kadri Gopalnath 2007 ein gemeinsames Album aufnahmen („Kinsmen“).

Kadri Gopalnath, John Handy und Charlie Mariano

Kadri Gopalnath, John Handy und Charlie Mariano gehören zu den wichtigsten Einflüssen des deutschen Altsaxofonisten Roger Hanschel (geb. 1964). Auch die indischen Bläser Bismillah Khan (Shenai) und Hariprasad Chaurasia (Bansuri-Flöte) hat er gründlich studiert. „Bismillah Khans Musik hat mich magisch angezogen und extrem geprägt“, sagt er. „Seitdem höre ich indische klassische Musik.“ 2013 lernte Hanschel in Varanasi (Benares) den Sitarspieler Deobrat Mishra und dessen Neffen Prashant Mishra (Tabla) kennen. Zusammen gründeten sie das Trio Benares, das bereits zwei hochvirtuose Alben vorgelegt hat.

Auf dem Saxofon adaptiert Hanschel dabei viele Form- und Intonationsregeln des Ragaspiels. „An der indischen Musik hat mich immer die virtuose Instrumentenbeherschung fasziniert“, sagt er. „Da es dort keine Harmonik in unserem Sinne gibt, liegt der Schwerpunkt viel stärker auf Rhythmik und Melodik. Eine große Herausforderung im Trio ist auch das Verschmelzen des Klangs untereinander. Ohne Verstärkung ist es nicht leicht, einen ausgewogenen Bandsound zu erreichen, da das Saxofon einen wesentlich größeren Dynamikunfang hat. Ich muss mich also hier und da zügeln.“

Empfohlene Aufnahmen:

  • The Joe Harriott Double Quintet: Indo-Jazz Suite (Atlantic, 1966)
  • John Handy & Ali Akbar Khan: Karuna Supreme (MPS, 1975)
  • Charlie Mariano & The Karnataka College Of Percussion: Jyothi (ECM, 1983)
  • Jan Garbarek & Ustad Fateh Ali Khan: Ragas And Sagas (ECM, 1992)
  • Rudresh Mahanthappa & Kadri Gopalnath: Kinsmen (Pi Recordings, 2008)
  • Trio Benares: Assi Ghat (JazzSick, 2016)