Im vorliegenden Text geht es nicht so sehr um feininnervatorische Prozesse bei der musikalisch-instrumentalen Tätigkeit, sondern mehr darum, was die Musiker als »Nervenschwäche« oder »-stärke« bei der Ausübung ihrer Kunst bezeichnen. Beide gern gebrauchte Begriffe sagen wenig über deren künstlerische Leistung aus; sie stehen lediglich für die persönlichen Empfindungen bei den spezifischen Berufsbelastungen.
Musik wird gespielt und ähnlich wie bei Sportübungen gehen Kinder zunächst völlig unbefangen an das Singen oder das Erkunden eines Instruments heran. Sie probieren aus, lauschen ihren Tönen und erkennen so oft unbewusst, dass sie mit Tönen und einem Instrument Empfindungen und Gefühle zum Ausdruck bringen können, die auch Gleichaltrige oder Erwachsene intuitiv verstehen. Sie imitieren auch gern Naturgeräusche und versuchen dadurch unbewusst, deren Wirkung auf die Umwelt zu verstärken oder zu steigern. Diese spielerische Unbefangenheit und Spontaneität, die im Übrigen auch Mozart oder Schubert in ihrer Kindheit nachgesagt wurde, kann als das eigentliche, noch unverstellte Potenzial eines Kindes bezeichnet werden, das sich völlig störungsfrei äußert und einen Einblick in dessen wunderbare Fähigkeiten gewährt.
Musik wird »gespielt«. Dass das Musizieren und insbesondere auch bereits das Üben Schwerstarbeit ist, bei der Körper, Geist und Seele extrem gefordert werden und der Schüler von der ersten Unterrichtsstunde an vor enorme Leistungsanforderungen gestellt wird, denen er oft noch gar nicht gewachsen ist, macht die Arbeit mit Kindern und die Entwicklung optimaler instrumentaler Bewegungsabläufe besonders schwer und unberechenbar. Bereits im frühkindlichen Instrumentalunterricht können Noxen gesetzt werden, die allmählich zum Versagen führen oder eine nicht kompensierbare Versagensangst begünstigen.
Macht mich doch nicht größer
Viele unserer Instrumente sind für kleinere Kinder eigentlich noch völlig ungeeignet. Allzu leicht können Haltungsschäden provoziert werden, denn bestimmte Körperregionen sind noch nicht ausreichend entwickelt, um einem gezielten Leistungsunterricht gewachsen zu sein. Aufgrund der körperlichen Entwicklungsstufe lassen sich noch keine verlässlichen Aussagen über eine spezielle instrumentale Eignung des Schülers treffen. Trotz der individuellen Vorlieben von Eltern und Kindern sollte ein verantwortungsbewusster Lehrer nicht zögern, darauf hinzuweisen, dass unter Umständen die instrumentalen Voraussetzungen und die Freude an der Musik durch einen Instrumentenwechsel verbessert werden könnten.
Ein Beispiel soll dies verdeutlichen. Der Solobassist der Staatsoper Berlin wurde vier Spezialschuljahre und zwei Hochschuljahre erst an der Geige und dann an der Bratsche »durchgeschleppt«, weil er so fleißig und musikalisch war, ohne jedoch richtig voranzukommen. In einer Zwischenprüfung intervenierte dann der anwesende Bassprofessor und meinte, dass der sich quälende Student ja eigentlich der geborene Bassist sei. Ein erneuter Instrumentenwechsel und die Gewährung einer Studienverlängerung brachten den Durchbruch des Studenten in kurzer Zeit. Seine erste (!) Stelle war die des Solobassisten an der Staatsoper. Heute würde man wahrscheinlich einen solchen Studenten einfach »wegräumen« (Originalausspruch eines Hochschulprofessors!).
Das PDF enthält alle sechs Artikel des Schwerpunktthemas „Nervenaufreibend – Musik zwischen Genuss und Schaden“:
- Die Nerven: „Nervenstärk – Nervenschwäche“ beim Musizieren (von Stefan Fritzen)
- Theinerts Thema: Haben Dirgenten Lampenfieber? (von Klaus Härtel)
- Nicht den Boden unter den Füßen verlieren! – Prof. Iris Eicher über Lampenfieber (von Klaus Härtel)
- „Mami, kommen da heute viele zuhören?“ – Auftrittsangst bei Kindern (von Stefan Dünser)
- Nervennahrung Musik – Hören findet im Gehirn statt (von Hans-Jürgen Schaal)
- Unter Druck geraten – Was sind Nervenengpasssyndrome? (von Sandra Krüger)