Brass, Orchestra, Schwerpunktthema, Wood | Von Klaus Härtel

Schwerpunktthema: Jazz und Klassik im Vergleich (Theinerts Thema)

Was kann ein »Jazzer« vom »Klassiker« lernen? Was unterscheidet die beiden »Typen« eigentlich voneinander? Sind die gar so »anders«? Und wäre es nicht besser, wenn alle an einem Strang zögen? Denn es geht doch letzen Endes allen um das gleiche: Alle machen Musik. Wir sprachen mit Markus Theinert, ehemals Leiter der Mannheimer Bläserphilharmonie und heute im Marketing der Firma Conn-Selmer tätig.

Herr Theinert, worin unterscheidet sich denn eigentlich der »Klassiker« vom »Jazzer«?

Wenn man sich in der heutigen Praxis umsieht, scheint dieser Unterschied tatsächlich riesengroß zu sein. In den Hochschulen etwa ist die Ausbildung in der Regel strikt getrennt. Das betrifft auch die Spieltechnik und die Instrumentenauswahl.

Vom Musizieren her besteht da gar kein so großer Unterschied. Auf beiden Seiten sind wir darauf ausgerichtet, ein freies Bewusstsein zu entwickeln und die Klänge auf uns wirken zu lassen. Der Hauptunterschied im heutigen Umgang mit der eigenen Kreativität liegt wohl darin, dass der Jazz die letzte Möglichkeit ist, sich als ausübender Musiker noch in Spontaneität zu üben.

 In der klassischen Praxis geht es zumeist nur noch darum, Kompositionen alter Meister zur Aufführung zu bringen. Die freie, schöpferische Entfaltung des Ausführenden geht dabei verloren. Zur Zeit der Klassik war das noch ganz anders. Mozart oder Haydn haben sich im Improvisieren geübt, und auch den Musikern noch Raum für eigene Einfälle gelassen. Auch der geniale Bach war in der Lage, eine vierstimmige Fuge über ein gegebenes Thema im Moment der Aufführung zu erfinden. Diese Form des Improvisierens ist heute fast ausschließlich dem Jazz vorbehalten. Darin liegt der große Unterschied.

Darüber hinaus stellt sich natürlich die Frage, inwieweit die Konzertatmosphäre sich unterscheidet: Die klassische Musik wurde in den Konzertsaal verbannt, der Jazz in einen Club oder Tanzsaal. Auch das war früher anders. In der klassischen Epoche spielten Ensembles sehr oft zur höfischen Unterhaltung oder auch zum Tanz auf. Diese Trennung war gar nicht bekannt.

Ist das etwas, was sich die Klassik vom Jazz abschauen kann? Auch mal in lockerer Atmosphäre und »entspannter« an eine Sache heranzugehen?

Ich weiß nicht, ob das der primäre Ansatzpunkt sein sollte. Denn auch die großen Jazzmusiker sind durchaus darauf erpicht, dass man ihnen zuhört und konzentriert bei der Sache ist. Die Atmosphäre – oder negativ ausgedrückt: die Unruhe – trägt doch nicht dazu bei, der Musik näherzukommen.

Aber entspanntes Zuhören ohne Erwartung ist enorm wichtig! Das ist tatsächlich etwas, was man dem klassischen Publikum beibringen muss. Denn wenn Sie das Konzertprogramm gelesen haben und darin die 5. Sinfonie von Beethoven steht, sind die Erwartungen bereits recht eng begrenzt. Man hat das Stück schon gehört, die Melodien und Themen sind im Gedächtnis bereits eingeprägt. Wir ziehen also Vergleiche und versuchen lediglich noch, im Sinne einer sogenannten »interpretatorischen Gestaltungsfreiheit« der Aufführenden Neues zu entdecken. Die Einzigartigkeit des Augenblicks geht dabei verloren.

Beim Jazz ist das oft gar nicht möglich – wenngleich er sich auch der Standards bedient. Aber meistens ist das, was geschieht, nicht vorauszusehen. Es passieren Dinge, harmonische Wendungen oder melodische Veränderungen, die der Zuhörer nicht kennt und deshalb auch gar nicht erwartet. Er muss sich einfach darauf einlassen, von den Musikern im Sinne der Entwicklung weitergetragen und in deren Bann gezogen zu werden. Und davon kann das klassische Konzertpublikum heute nur lernen.

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