Markus Theinert dirigiert seine Konzerte in der Regel ohne Partitur. Wir wollten wissen, warum er das macht und wie er die Werke erarbeitet. Eigentlich ganz einfach: Von vorne nach Hinten und von unten nach oben…
Herr Theinert, Sie dirigieren in Konzerten in der Regel ohne Partitur. Gibt es einen besonderen Grund dafür, dass Sie auswendig dirigieren?
Zunächst müssen wir zwischen den Begriffen »auswendig« und »ohne Partitur« unterscheiden. Das Auswendiglernen, wie wir es aus der Schule kennen, wenn wir ein Gedicht vortragen müssen, ist eine repetitive Gedächtnisleistung, die nicht notwendigerweise das semantische Textverständnis voraussetzt. Sich vom bloßen Text einer Partitur vollständig zu befreien, setzt aber voraus, dass wir uns das Stück im Sinne der phänomenologischen Reduktion zu eigen gemacht haben, also nicht im Sinne des auswendig Gelernten, sondern durch tatsächliche Aneignung sämtlicher formgebender Parameter. Der Blick in den Notentext lenkt nicht nur vom Hören ab, sondern zeigt auch auf, dass wir in der Struktur des Stücks noch nicht angekommen sind. In dem Moment, in dem ich in der Partitur lese, höre ich nicht in das Orchester hinein. Die Wahrnehmung des lebendigen Klangs kann dann gar nicht mehr kontinuierlich erfolgen. Kontinuität im Erleben ist jedoch eine der wesentlichen Voraussetzungen für die musikalische Einheit. Während des Partiturstudiums ist es daher zwingend notwendig, dass wir uns auf das Aneignen der musikalischen Struktur konzentrieren und nicht auf das optische Lesen des Notentextes. Wenn ich vor dem Orchester stehe, möchte ich mich nicht mehr mit der Partitur beschäftigen, sondern mich ganz auf den Klang einlassen. Ich muss zuhören und mich mit der Realität des Klangs auseinandersetzen, damit nichts mehr zwischen dem lebendigen Klang und meinem Bewusstsein steht.
Also ist »auswendig lernen« etwas grundlegend anderes als »aneignen«.
Genau. Es ist doch ein Unterschied, ob ich in einem seriellen Prozess eine Funktion nach der anderen auswendig lerne oder ob ich mir die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Funktionen bewusst mache und mir dadurch die Topografie der Komposition einpräge. Das Ergebnis ist ein völlig anderes: Im einen Falle erschaffe ich lediglich eine Serie von Klangimpressionen, im anderen kann es gelingen, Musik wirklich erlebbar zu machen. Dann hat mein Bewusstsein nicht nur die Vielfalt der einzelnen Ereignisse aufgenommen, sondern auch und vor allem anderen die korrelierte Einheit dessen, was aus den inneren Beziehungen zwischen denselben hervorgegangen ist.
Das PDF enthält alle sechs Artikel des Schwerpunktthemas "Der Dirigent – Von Partitur und Sitzordnung":
- Der Dirigent – Klangbewusst sein und Klangregie (von Stefan Fritzen)
- Theinerts Thema: "Ohne Partitur" ist nicht gleich "auswendig" (von Klaus Härtel)
- Von Autopilot und Technik – Richard DeRosa über Unterschiede des Dirigats (von Klaus Härtel)
- "Mitspielen statt zuhören!" – Ein Dirigent mit Bildungsauftrag (von Cornelia Härtl)
- Strukturiert – Der BvO in den Niederlanden (von Joachim Buch)
- Metafoor – "Die Sprache des Dirigierens" von Alex Schillings (von Martin Hommer)