Es gab schon einige Irrungen und Wirrungen, bis „Sleep“ vollendet werden konnte. Das Problem lag dabei nicht in der Musik, sondern im Ringen um den inspirationsgebenden Urtext, der bei einem Vokalwerk nun mal nicht so ganz unwichtig ist. Die absolute Musik und somit die rein instrumentale Fassung hat das jedoch nie berührt.
Auch wenn Eric Whitacre, geboren 1970 in Reno/Nevada, in der Schule schon früh in einer Bläserformation musizierte, kommt er vom künstlerischen Schwerpunkt her definitiv aus dem Lager der Sänger. Er studierte Komposition und Chorleitung an der University of Nevada in Las Vegas und vertiefte sein Wissen mit Masterabschluss an der Juilliard School of Music in New York. Man sagt ihm nach, er sei „unersättlich neugierig und ein Liebhaber aller Arten von Musik“. Seine Philosophie lässt sich wie folgt zusammenfassen: „Unsere Leidenschaft für die Musik und für das Musizieren gibt uns Musikern die Möglichkeit, unsere Talente und Entdeckungen zu teilen, unser Wissen zu vermehren, Menschen zu berühren und uns als Teil von etwas zu fühlen, was größer ist als wir selbst.“
2011 wurde sein Debütalbum für Chor „Light and Gold“ – und „Sleep“ ist ein Teil davon – mit einem Grammy ausgezeichnet. Whitacre hat mit dem Hollywood-Komponisten Hans Zimmer (Chorproduktion „Mermaids-Theme“ für den Film „Piraten der Karibik“) ebenso zusammengearbeitet wie mit der Pop-Ikone Annie Lennox. Im Jahre 2018 wurde seine Komposition „Deep Field“ für Sinfonieorchester und Chor in Zusammenarbeit mit der NASA im Kennedy Space Center (Cape Canaveral, Florida) uraufgeführt und filmisch auf Kunst- und Wissenschaftsfestivals auf der ganzen Welt präsentiert. Er war fünf Jahre Composer in Residence an der University of Cambridge in England und absolvierte 2020 seine zweite und letzte Amtszeit als Artist in Residence beim Los Angeles Master Chorale in Kalifornien.
Klangkörper Blasorchester
Neben seinen erfolgreichen Choraktivitäten war er zudem schon immer fasziniert vom „Klangkörper Blasorchester“. Mit Werken wie „Equus“, „Ghost Train“, „Godzilla Eats Las Vegas“ und „October„, aber auch mit der Bearbeitung seiner Chorwerke wie „Sleep“, „Lux Aurumque“ oder „Libertas Impero“ erlangte er Beachtung in der Welt der Blasmusik.
Wir haben es hier mit einem ungemein vielschichtigen Menschen zu tun, der übrigens auch ein Pionier des „virtuellen Musizierens“ ist. Weltweite Bekanntheit erreichte er, weit vor Corona, mit seinen Projekten „Virtueller Chor“ – ein Format, bei dem er, vereinfacht ausgedrückt, die Aufführungen bewusst und gewollt nicht live stattfinden ließ, sondern Tonspuren aus aller Welt zu einem Ganzen zusammenfügte. „Lux Aurumque“ vereinte im Jahre 2009 gezählte 185 Stimmen aus zwölf Ländern. „Sleep“ umfasste ein Jahr später 2052 Stimmen aus 58 Ländern und im Jahre 2012 wurde „Water Night“ im Lincoln Center in New York uraufgeführt, zusammengesetzt aus Material von knapp 3000 Sängerinnen und Sängern aus 73 Ländern.

Aus heutiger Sicht bekommt das rückblickend wahrlich eine verrückt erneuernde Dimension: damals eher ein „interessantes Experiment“ – weil man einfach mal eine Vision ausprobieren wollte –, heute, wo wir die Erfahrungen der Pandemie leidvoll durchleben, sicher etwas, woran man sich gerne aufmunternd orientiert hat. Und auch 2020 setzte er mit „Virtual Choir 6“ und „Sing Gently“ ein weiteres Projekt dieser Art mit 17562 Sängerinnen und Sängern aus 129 Ländern um.
Whitacre ist ein natürlicher und überzeugender Redner
Sein Image, „positiv der Zukunft und den Menschen zugewandt“, pflegt er gerne auf seiner Website. Dort ist zu lesen: „Whitacre ist diese seltene Sache, ein moderner Komponist, der sowohl beliebt als auch originell ist.“ Ein Talent als „natürlicher und überzeugender Redner“ sei ihm zudem noch in die Wiege gelegt. So war er bereits bei UNICEF oder bei Google geladen, um über Themen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur zu sprechen. Im Januar 2013 gar war er Gast auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, wo er auf der Abschlusssitzung eine Rede über die Rolle der Kunst in der Gesellschaft und über die Auswirkungen der Technologie auf die Kunst hielt.
Die Idee zu „Sleep“
Eric Whitacre erinnert sich: „Im Winter 1999 wurde ich von Julia Armstrong, einer in Austin/ Texas lebenden Anwältin und professionellen Mezzosopranistin, kontaktiert. Sie wollte bei mir ein Chorwerk, eine Erinnerung an ihre Eltern, in Auftrag geben. Die waren nach mehr als 50 Jahren Ehe kurz hintereinander innerhalb weniger Wochen verstorben. Textliche Grundlage sollte ihr Lieblingsgedicht, ‚Stopping By Woods On A Snowy Evening‘ von Robert Frost, werden. Ich war tief bewegt vom Geist ihrer Bitte und erklärte mich bereit, den Auftrag zu übernehmen.
Ich nahm mir Zeit für das Stück und schrieb es Note für Note, bis ich das Gefühl hatte, dass es genau so war, wie ich es wollte. Das inspirierende Gedicht war perfekt, wirklich ein Juwel. Mein musikalischer Ansatz war darüber hinaus aber auch, der Musik und den Worten eigene Stellenwerte zukommen zu lassen und somit den gesprochenen Worten auch ein Stück weit aus dem Weg zu gehen. Mir war also wichtig, dass die Worte ihre eigene Magie weiterhin wirkungsvoll behalten. So haben wir das Stück im Oktober 2000 in Austin uraufgeführt und es sollte schon bald zu vielen weiteren Aufführungen, auch durch andere Chöre, kommen.
„Tony schrieb ein absolut exquisites Gedicht „
Plötzlich stellte sich aber heraus, dass die Verwendung des Gedichts nicht erlaubt war. Hier lag ein tragischer Fehler meinerseits zugrunde: Ich hatte nie die Erlaubnis erhalten noch eingeholt, das Gedicht zu verwenden. Es war mir einfach nicht bekannt gewesen, dass Robert Frost Estate erst wenige Monate zuvor jede Wieder- und Weiterverwendung des Gedichts verboten hatte. Die Fülle der vielen Bezugnahmen beunruhigte die Nachlassverwalter und sie hatten daher eine Sperre bis 2038 erwirkt.
Ich war niedergeschlagen. War das Stück nun tot und würde es die nächsten 37 Jahre wegen einer lächerlichen Entscheidung von Erben und Anwälten lediglich unter meinem Bett verborgen bleiben? Nach vielen Gesprächen mit meiner Frau beschloss ich, meinen Freund, den brillanten Dichter Charles Anthony Silvestri, zu fragen, ob er der Musik, die ich bereits geschrieben hatte, neue Worte geben könnte. Dies war eine enorme Aufgabe für ihn, denn ich bat ihn, nicht nur ein Gedicht zu schreiben, das die genaue Struktur von Frosts Gedicht hatte, sondern auch Schlüsselwörter im Sinne von ›Anhalten‹ und ›Schlaf‹ mit einzubeziehen. Tony schrieb ein absolut exquisites Gedicht und fand in der Musik, die ich bereits geschrieben hatte, eine im Grundsatz völlig andere (aber ebenso schöne) Botschaft. Eigentlich bevorzuge ich jetzt Tonys Gedicht.“
Der „neue“ Text von Charles Anthony Silvestri
The evening hangs beneath the moon. A silver thread on darkened dune. With closing eyes and resting head, I know that sleep is coming soon. | Der Abend hängt unter dem Mond. Ein silberner Faden auf einer dunklen Düne. Mit geschlossenen Augen und ruhendem Geist weiß ich, dass der Schlaf bald kommen wird. |
Upon my pillow, safe in bed, A thousand pictures fill my head. I cannot sleep, my mind’s a-flight; And yet my limbs seem made of lead. | Auf meinem Kissen, sicher im Bett, füllen tausend Bilder meinen Kopf. Ich kann nicht schlafen, meine Gedanken fliegen; Und doch scheinen meine Glieder aus Blei zu sein. |
If there are noises in the night, A frightening shadow, flickering light, Then I surrender unto sleep, Where clouds of dream give second sight. | Wenn es in der Nacht Geräusche gibt, ein erschreckender Schatten, flackerndes Licht, Dann gebe ich mich dem Schlaf hin, Traumwolken eröffnen einen zweiten Blick. |
What dreams may come, both dark and deep, Of flying wings and soaring leap, As I surrender unto sleep, As I surrender unto sleep. | Welche Träume können kommen, sowohl dunkle als auch tiefe, von fliegenden Flügeln und hohen Sprüngen, wenn ich mich dem Schlaf hingebe, wenn ich mich dem Schlaf hingebe. |
Unterstützt wurde der Kompositionsauftrag zudem vom „Big East Consortium„, einem Zusammenschluss von elf College-Karrierezentren (Vermittlungsinstitutionen in der akademischen Berufswelt) aus elf östlichen Bundesstaaten der USA, von Rhode Island bis Nebraska. Frosts Gedicht wurde übrigens zum 1. Januar 2019 frühzeitig wieder freigegeben. Dem Vernehmen nach plant Eric Whitacre nicht mehr, das Werk mit dem ursprünglichen Text zu veröffentlichen.
Aufbau von „Sleep“
Lento Lomtano, e molte legato beginnen tiefes weiches Blech und ein tiefer Klarinettenchor im Pianissimo das Werk. Die ersten zwölf Takte weisen schon sofort die grundsätzliche Richtung. Häufige Taktwechsel haben lediglich leicht strukturierende Bedeutung, um größere Phrasen (an gregorianischen Stil erinnernd) gut organisiert mit vielen Beteiligten abbilden zu können. Die Bögen über den Noten begleiten die Zusammenhänge. Wir starten in 3+3+6 (3+3) Takten. Den Text verfolgend sind die Töne „Mond“, „Düne“ und „bald“ erste Zielnoten. Der „Mond“ wird ganz sanft mit einer Quarte angereichert, Die „Düne“ strahlt im reinsten Dur, dem C-Dur von „bald“ wird fragestellend deutlich ein dissonierendes f beigemischt.
Ab A prägen Blech und hohes Holz das Bild und bauen sich über vier Takte zu einem orgelähnlichen Klang auf, „sicher im Bett“. In dunkleren und eher wieder tiefen Klängen erscheinen die „Bilder im Kopf“. Eine leichte Blechdominanz stützt „kann nicht schlafen“. Die Szenerie wechselt dann aber, phrasenverlängert und wieder holzdominiert, zu den „Gliedern aus Blei“.
Nach gefühlter Fermate, die aber de facto kontrollierend in längeren Notenwerten ausnotiert ist (slightly slower), beginnt bei B ein più mosso, das Fragen zu stellen scheint. Den Fragezeichen wird mit kleinen Pausen Raum gelassen. Da sind „Geräusche in der Nacht“ und „erschreckende Schatten bei flackerndem Licht“. Ein Orgelpunkt von Pauken, Glocken und Vibrafon bildet das Fundament für die hier wogenden, fragenden hohen Hölzer.
Der Höhepunkt des Werks
Ab C schiebt sich das Blech wieder in den Vordergrund. Beruhigende Klänge „geben sich dem Schlaf hin“ und mit einer deutlichen Fermate und einem satten Einschnitt „eröffnen Traumwolken den zweiten Blick“.
D tritt nun an, den Höhepunkt des Werks einzuleiten. Klanglich erinnert es an den Anfang. Im Piano erklingen die Hörner und ein tiefer Klarinettenchor. Sie stellen sanft Fragen: „Welche Träume können kommen, dunkel und tief“? Die nun einsetzenden Trompeten signalisieren eine Raum- und Klangöffnung, die alsbald die gesamte Partitur erfasst und crescendierend „mehr“ fordert. „Fliegende Flügel und hohe Sprünge“. In drei Anläufen ist es dann schließlich soweit. „Sich dem Schlaf hingebend“ krönt ein Beckenschlag, den Hitchcock nicht besser hätte inszenieren können, das Fortissimo des vollen Orchestertuttis.
Ein kurzes Decrescendo leitet mit kurzem Einschnitt über zu F. Dramatik weicht der Ruhe. Der Schlaf ist da, der ruhige, gedankenbefreite Schlaf. In G, „Dim. Poco a poco al niente“ – „immer leiser auf dem Weg ins Nirgendwo“, pendelt das Werk aus. Einatmen, ausatmen, entspannen. Marimba und Vibrafon lassen den Pulsschlag weiter erahnen.
Instrumentation
Die originale Erstausgabe wurde für achtstimmigen A-cappella-Chor (SSAATTBB) geschrieben und später für Blasorchester und Streichorchester transkribiert. In der Partitur für Blasorchester ist vermerkt: „Die choralhafte Natur mit ihren warmen Harmonien rief, gleichsam einfach wie klagend, förmlich danach von Bläsern interpretiert zu werden und eine großartige Ergänzung im Repertoire der Blasorchester zu werden. ‚Sleep‘ kann vom Orchester alleine, aber auch gemeinsam mit einem gemischten Chor aufgeführt werden.“
Technische Probleme in Sachen Rhythmik und rein technischer Spielbarkeit wird es in diesem Werk kaum geben. Nützlich ist es allerdings, wenn erste Stimmen über stabile Höhen verfügen. Die zentralen Herausforderungen für alle Musikerinnen und Musiker liegen in den Techniken der Luftführung, der Atemstütze, der stabilen Tonformung, der Phrasenbildung und damit eng verbunden der Intonation. Luft, Luft und nochmal Luft lautet die Devise.
Fazit
An Selbstbewusstsein und Überzeugungskraft scheint es Eric Whitacre nicht zu mangeln. Es ist schon mehr als konsequent, wie er die Dinge angeht, umsetzt und dann auch in ein Licht stellt. Ja, einfach zusammengefasst ist es sicher so, wie Verlagsseiten es beschreiben: „‚Sleep‘ ist ein wunderschöner, tief bewegender Choral. Er beginnt sanft und ruhig, und steigert sich dann langsam hin zu einem kraftvollen Höhenpunkt…“.
Aber da ist Etliches, was die Sache in Whitacre-Manier „besonders“ macht: die vorab gut positionierte Geschichte mit ihren unerwarteten Wendungen; die Ankündigung, das Repertoire für Blasorchester „gorgeous“ (herrlich, prächtig, großartig) zu erweitern; der gleichsam ruhige wie anregende Spannungsbogen des Werks, der auch den Atem der Zuhörerinnen und Zuhörer ruhig fließen, aber ebenso auch schon einmal anhalten lässt; der harmonische Satz, der vielen Farben Raum gibt; die damit verbundene Instrumentation, die ebenfalls immer wieder neue „Klangräume“ eröffnet.
Klang und Phrase sind Trumpf, nicht viel mehr, aber ganz wesentlich auch nie weniger. Wenn man sich darauf einlassen kann und will, dann hat die unbestritten sehr berührende Komposition gar auch Meditatives. Und mal darüber hinaus: Aus einem Schlaf erwachen wollen, der schwer begann, sich aber doch beruhigend und kontrollierend entwickeln konnte, und der, bei aller Problematik und Länge, nicht zu einem unendlichen Alptraum ausartet… Ein Wunschbild, aktueller denn je.