Orchestra | Von Klaus Härtel

Solmisation im Blasorchester und das Konzept “SINg!”

Solmisation

Mit der Veröffentlichungsreihe “SINg! – Training für das Instrument im Kopf” möchte Steffen Wardemann Musikerinnen und Musikern, Ensembles, Orchestern, Blasorchestern, Jugendorchestern und Chören einen klanglichen Entdeckungsraum bieten, der es ermöglicht, die Tonhöhenvorstellung zu trainieren. Solmisation ist das Stichwort. Wir haben einmal nachgefragt. Das Interview führte Klaus Härtel.

Herr Wardemann, oftmals ist Singen damit verbunden, Hemmungen zu überwinden. Gerne versteckt man sich hinter seinem Instrument … Haben Sie die Erfahrung auch gemacht – und wie geht man als Pädagoge/Dirigent damit um?

Ja, ich habe festgestellt, dass viele Musikerinnen und Musiker beim Singen eine gewisse Unsicherheit empfinden, da sie sich oft hinter ihrem Instrument wohler fühlen. Singen ist eine sehr persönliche Ausdrucksform, die nicht nur technische Fertigkeiten erfordert, sondern auch emotionales Engagement. Um mit diesen Hemmungen umzugehen, ist es als Pädagoge oder Dirigent wichtig, ein vertrauensvolles Umfeld zu schaffen, in dem Singen als etwas Positives erlebt wird. Ich ermutige die Teilnehmenden dazu, die eigene Stimme als Instrument zu betrachten, das genauso wichtig ist wie ihr Blasinstrument bzw. ihr Instrument im Kopf.

Durch Gruppenaktivitäten, spielerische Einstiege und kleine Übungen, in denen die Teilnehmenden gemeinsam singen, kann man die Scham abbauen und eine positive Atmosphäre fördern. Ich setze gezielte Übungen ein, die das Singen spielerisch gestalten, um die Angst vor dem Fehler zu nehmen und die Freude am Singen zu betonen. Auch sollte den Musikerinnen und Musiker das Ziel dieser Übungen bekannt sein. Allerdings kennt man als Dirigent sein Orchester meist gut und kann einschätzen, wie viel Erklärung und Überzeugung nötig ist – meist reicht schon eine kleine Übung, um die Erfolge hörbar zu machen. 

Warum sollte man im Blasorchester überhaupt singen?

Das Singen im Blasorchester bietet zahlreiche Vorteile, die weit über das bloße Hören und Spielen hinausgehen. Zum einen fördert es die Entwicklung des musikalischen Gehörs und der Tonvorstellung, was entscheidend für die Intonation und das Zusammenspiel ist. Wenn Musiker singen, erfahren sie die Melodien und Harmonien nicht nur auf einer theoretischen Ebene, sondern nehmen sie aktiv und emotional wahr. Durch das gemeinsame Singen wird das Verständnis für die musikalischen Strukturen gefördert, was sich positiv auf das Zusammenspiel und die musikalische Interpretation des Repertoires auswirkt. Letztlich ist Singen auch eine hervorragende Methode, um das »Instrument im Kopf« zu trainieren, was für das erfolgreiche Musizieren mit dem Instrument von großer Bedeutung ist. Dies habe ich im Modell der Ton­höhenproduktion versucht darzustellen:

Solmisation

 

Was ist Solmisation und welchen Zweck erfüllt sie in der Musiktheorie?

Solmisation ist ein System zur Benennung von musikalischen Tönen durch spezifische Silben wie do, re, mi, fa, so, la und ti. Dabei werden die Töne auch mit Handzeichen visualisiert. Der Hauptzweck der Solmisation in der Musiktheorie ist die Förderung des Verständnisses von relativen Tonhöhen und deren Beziehungen zueinander. Durch die Verwendung dieser Silben können Musizierende nicht nur Noten lesen, sondern auch die Struktur von Melodien und Harmonien intuitiv erfassen. Solmisation erleichtert das Erlernen von Musik, da sie eine Verbindung zwischen dem Hören und dem Singen herstellt. Dies ist nicht nur besonders wertvoll in der Ausbildung von Musikern, da es ihnen hilft, eine klare innere Vorstellung der Töne zu entwickeln und ihre Fähigkeit zur Audiation zu verbessern – also dem Denken in Musik. Mit relativer Solmisation wird Gehörbildung im wahrsten Sinne des Wortes »begreifbar«. 

Solmisation

SINg! 

Zu “SINg! Training für das Instrument im Kopf” sind bereits drei Bände (Print oder Download) mit Begleitmaterialien erschienen: 

  • Band 0: Einführung in das Konzept
  • Band 1: Grundübungen für den Einstieg
  • Band 2: Kadenzen in Dur und Moll

steffenwardemann.de

Können Sie etwas zu den historischen Wurzeln sagen?

Die historischen Wurzeln der Solmisation reichen zurück ins 11. Jahrhundert und sind eng mit dem Namen Guido von Arezzo verbunden. Er entwickelte ein System, das die Gesangsausbildung revolutionierte, indem es eine einfache Methode zur Benennung der Töne schuf. Die Solmisationssilben stammen ursprünglich von den ersten Silben der Texte des Hymnus »Ut queant laxis«. Guido von Arezzo nutzte diese Silben, um Sängern zu helfen, die Melodien besser zu lernen und zu erinnern. Seine Methoden ermöglichten es, Musik nicht nur zu hören, sondern auch aktiv zu verinnerlichen. Dieses Prinzip hat bis heute Bestand und wird weltweit in der Musikpädagogik angewandt, um das Erlernen von Melodien und Harmonien zu erleichtern.

Was genau davon ist heute noch aktuell?

Trotz ihrer mittelalterlichen Ursprünge sind viele Prinzipien der Solmisation auch heute noch äußerst relevant. Insbesondere die Verwendung von relativen Silben zur Darstellung von Tonhöhen hat sich bewährt, da sie es Musikern ermöglicht, die Beziehungen zwischen den Tönen besser zu verstehen. Das aktive Singen mit Solmisationssilben ist eine bewährte Methode, die nicht nur das Gehör schult, sondern auch das musikalische Denken fördert. In den letzten Jahren erfährt relative Solmisation in Schulen und Chören eine Renaissance, um den Musikerinnen und Musikern zu helfen, ein tieferes Verständnis für die musikalischen Strukturen zu entwickeln. Das Prinzip des Lernens durch Hören und Nachahmen, das in der Solmisation verankert ist, bleibt ein zentrales Element der musikalischen Ausbildung und Weiterbildung.

Was ist Ihr Ansatz dabei?

Mein Ansatz basiert auf der Kombination von Gesang und relativer Solmisation, um das »Ins­trument im Kopf« der Musikerinnen und Musiker zu trainieren. Durch das SINg!-Konzept habe ich ein strukturiertes Programm entwickelt, das die Prinzipien der Solmisation in verschiedenen Stufen integriert. Die Übungen in meiner Veröffentlichung »SINg!-Training für das Instrument im Kopf« sind so konzipiert, dass sie sowohl das Singen als auch das Spielen der Instrumente einbeziehen. Ich nutze Handzeichen, um die Ton­höhen visuell darzustellen und den Lernprozess multisensorisch zu gestalten. Darüber hinaus integriere ich verschiedene musikalische Bausteine, die es den Teilnehmenden ermöglichen, auf spielerische Weise musikalische Strukturen zu erfassen. Dies funktioniert in der Orchesterprobe, im Instrumentalunterricht, aber auch zu Hause im Selbststudium.

Wie hilft Solmisation bei der Entwicklung des Gehörs und der musikalischen Fähigkeiten?

Relative Solmisation spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des Gehörs und der musikalischen Fähigkeiten, da sie eine direkte Verbindung zwischen Hören, Singen und Verstehen herstellt. Durch das Singen von Solmisationssilben lernen die Musikerinnen und Musiker, die Beziehungen zwischen den Tönen intuitiv zu erfassen. Sie entwickeln ein besseres Gehör für Melodien und Harmonien, da sie nicht nur die Töne hören, sondern auch aktiv damit interagieren. Dieser Prozess fördert die Fähigkeit zur Audiation, also das Denken in Musik, was für das Musizieren mit dem Instrument von enormer Bedeutung ist. Die Kombination von Hören und Singen führt zu einer tiefer gehenden musikalischen Bildung und ermöglicht es den Instrumentalisten, ihre Fähigkeiten kontinuierlich zu verbessern.

Welche Vorteile und möglichen Nachteile hat die Anwendung der Solmisation im Musikunterricht?

Die Anwendung von Solmisation im Musikunterricht bietet zahlreiche Vorteile, darunter die Verbesserung der Tonvorstellung, die Stärkung des Gehörs und die Förderung eines einheitlichen musikalischen Verständnisses im Ensemble. Solmisation fördert auch die aktive Beteiligung der Schülerinnen und Schüler am Lernprozess und macht das Lernen spielerischer und interaktiver. Ein möglicher Nachteil könnte sein, dass einige Musikerinnen und Musiker, die an traditionelle Notation gewöhnt sind, anfangs Schwierigkeiten haben, sich auf die relative Solmisation einzulassen. Daher habe ich die Übungen so notiert, dass sie wesentliche Elemente der traditionellen Notenschrift übernimmt, aber dennoch den Sinn von relativer Solmisation aufrechterhält. Durch eine kleine »Übersetzungsscheibe« können die Instrumentalisten die Silben in Tonhöhen übersetzen und die Transposition ihres Instruments einbeziehen.

Wie kann Solmisation verwendet werden, um Schülern das Verständnis von Intervallen und Tonleitern zu erleichtern?

Relative Solmisation ist ein äußerst effektives Werkzeug, um das Verständnis von Intervallen und Tonleitern zu fördern. Durch das Singen der Solmisationssilben können Schülerinnen und Schüler die Abstände zwischen den Tönen intuitiv begreifen. Zum Beispiel kann das Intervall zwischen do und mi als eine größere Distanz wahrgenommen werden, während das Intervall zwischen do und re näher ist. Allerdings unterrichten wir Musiktheorie oft sehr mathematisch, sodass der Eindruck entsteht, die Intervalle würden ohne Zusammenhang zueinanderstehen. Eine große Terz zwischen c und e ist zwar das gleiche Intervall wie g und h, allerdings im Kontext von C-Dur doch nicht dasselbe! Relative Solmisation gibt dieser Tatsache Raum. Die visuellen und akustischen Verbindungen erleichtern das Verständnis von Tonleitern und Harmonien in ihren musikalischen Kontext. Indem Musikerinnen und Musiker mit relativer Solmisation arbeiten, entwickeln sie ein tieferes Verständnis für die Struktur der Musik, was ihnen hilft, komplexe musikalische Konzepte besser zu erfassen und anzuwenden.

Und an welcher Stelle kommt nun das »Ins­trument in der Hand« ins Spiel?

Das »Instrument in der Hand« spielt eine zentrale Rolle, wenn die Musikerinnen und Musiker beginnen, die gesanglichen und mentalen Vorstellungen auf ihr Instrument zu übertragen. Nachdem sie durch das Singen und die Anwendung von Solmisation ein solides Fundament für ihr musikalisches Verständnis gelegt haben, können sie diese Konzepte direkt auf ihr Instrument anwenden. Hierbei spielt das Vormachen (Dirigentin/Dirigent) und Nachmachen (das ganze Orchester) eine große Rolle.

Steffen Wardemann 

Bachelor of Arts (Musikpädagogik und Neue Medien, Informatik, Bildungswissenschaften), Master of Education und Studienrat, ist im Schulischen wie im Musikalischen leidenschaftlicher Potenzialentfalter. Als Dozent, Dirigent, Juror, Instrumentalist und Coach ist Wardemann für viele Vereine, Musikverbände, Dirigenten und Instrumentalisten fachkundiger Ansprechpartner.

www.steffenwardemann.de

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