Wood | Von Hans-Jürgen Schaal

Stichwort Marsyas

Marsyas
Marsyas und Apollon

Er ist der berühmteste Bläser der antiken Mythologie. Seine Legende prägte die Musikgeschichte, sein Mut inspiriert Musiker und Dichter bis heute: Marsyas.

Die Bauern in Kleinasien waren der Meinung, dass selbst Apollon, der Gott der Künste, keine schönere Musik machen könne. Das wurmte den Gott so, dass er zum Wettbewerb rief: Gott gegen Satyr, Apollon gegen Marsyas, Saiteninstrument gegen Blasinstrument, Lyra (Zupfleier) gegen Aulos (Doppelschalmei).

Als König Midas, einer der Schiedsrichter, dem Bläser Marsyas den Sieg zuerkannte, bekam er von Apollon zur Strafe Eselsohren verpasst – die sportliche Fairness war noch nicht erfunden. Apollons Schwestern, die Musen, erwiesen sich sogar als korrupt genug, nach geänderten Regeln zu urteilen: Die beiden Musiker sollten auf Apollons Vorschlag hin ihre Instrumente umgedreht spielen und dazu singen. Das funktioniert bei der Lyra, aber nicht beim Aulos. Marsyas unterlag. Zur Strafe wurde er zu Tode gefoltert.

Viele Varianten des Marsyas-Mythos

Mythen sind unvollendete Geschichten, die immer weitergesponnen werden, bis heute. Auch vom Marsyas-Mythos gibt es viele Varianten
und Deutungen. Nach einer späteren Lesart hat Marsyas den Apollon selbst herausgefordert und wurde daher für seine Hybris bestraft. Antike Staatsmänner und Philosophen hielten Marsyas für einen großen Künstler, aber sein Instrument, den Aulos, für ein minderwertiges Tonwerkzeug. Im idealen Staat habe die Schalmei nichts zu ­suchen, meinte Platon. Der Aul

os wirke nicht ethisch, sagte Aristoteles. Daraus schlossen die Kirchenväter, dass Blasinstrumente überhaupt ganz des Teufels seien. Die Altertumsforscher im 19. Jahrhundert sahen im Marsyas-Mythos einen Kulturkonflikt zwischen dem griechischen Stammland und den östlichen Kolonien. Letztlich auch einen musikalischen Konflikt zwischen apollinischer Erbauung (Lyra) und dionysischer Expressivität (Aulos).

Ursprünglich war Marsyas wohl der Name eines kleinen Flusses in Phrygien, dessen Wasser blutrotes Eisenoxid enthielt und im Sommer ver­sickerte. So soll sich der Mythos überhaupt entwickelt haben: Der Sonnengott (Apollon) vergießt das Blut des Marsyas und tötet ihn. Aus der Haut, die dem Unterlegenen abgezogen wurde, entstand laut der Überlieferung ein Schlauch – ein Windsack. Manche deuten den Marsyas-Mythos daher als Geschichte vom Ursprung des Dudelsacks, der die Aulosbläser vom stundenlangen Zirkularatmen erlöste.

Widerstandsheld

Die Instrumente des Marsyas, so hieß es, habe der Fluss Mäander in die Ägäis gespült, und am Golf von Korinth an Land getrieben. Aulosspieler aus Böotien und der Argolis beriefen sich mit Stolz auf Marsyas, den Ausdrucksbläser, seinen Vater Hyagnis, der das Aulos­spiel erfunden habe, und seinen Sohn Olympos, der als Begründer der griechischen Enharmonik galt.

Marsyas, der den Göttern Paroli bot, wurde in der Antike auch zum Widerstandshelden gemacht. Sein Standbild – meist mit hochgereckter Faust – galt bei den Römern als Freiheitsstatue. In seiner Heimatstadt Kelainai beschwor man noch im 3. Jahrhundert n. Chr. Marsyas’ Hilfe im Kampf gegen Invasoren.

Bis in die Gegenwart wird am Mythos weitergesponnen. Beim Dichter Günter Eich (1907 bis 1972) liest man:

Apollon singt so, dass die Welt so bleiben muss, wie sie ist. Seine Harmonien lassen vergessen, wie viel auf Erden misslungen ist, sagen wir bescheiden: ein gutes Drittel. Freilich bebte die Welt, als das Lied des Marsyas erklang, freilich konnten vor diesen Tönen keine Hierarchien, nicht der Götter und nicht der Menschen, bestehen.

Günter Eich

Und der Dichter Peter Rühmkorf (1929 bis 2008) stellt nur rhetorisch die Frage, wem die Kunst wohl ihre Stimme leihen soll:

Mit Apoll den bestechlichen Musen oder mit Marsyas den ausdrucksbegierigen Menschen, der himmlischen Betrugsartistik oder dem Hunger nach Lebenswahrheit, den Fellabziehern oder den Geschundenen.

Peter Rühmkorf

Bisher erschienen: “Stichwort Rohrblatt-Trio” und “Stichwort Saxofonquartett