Orchestra | Von Hans-Jürgen Schaal

Stichwort Naturtonreihe

Naturton
Die spielbare Tonreihe einer Naturtrompete mit ca. 240 cm Länge (Foto: Baba66, derivative work: Joachim Mohr, CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12023998)

Auf einem Saxofonrohr ohne Tonlöcher ­könne man 15 Naturtöne hervorbringen, behauptete der Saxofonist Sigurd Raschèr – und zwar nur durch Überblasen.

In jedem Ton aus einem Blasinstrument schwingt ein Teil der Naturtonreihe schon als Obertonspektrum mit. Diese Obertöne entstehen, weil die Luft in der Luftsäule auf verschiedene Weise in Schwingung gerät – als Welle in voller Länge, als zwei Wellen von halber Länge, als drei Wellen von Drittellänge usw. Jede Schwingungslänge entspricht einem Teilton.

Die Obertöne sind demnach keine beliebige Laune der Natur, sondern folgen einem einfachen mathematischen Gesetz. Sie haben die doppelte, dreifache, vierfache usw. Frequenz des Grundtons. Auf jedem beliebigen Grundton (temperiert oder untemperiert) “thront” eine Naturtonreihe entsprechend der mathematischen Regel. 

Den Teilton mit doppelter Frequenz nennen wir den Oktavton. Ist der erste Ton der Naturton­reihe das kleine c, so ist dieser zweite Naturton (die doppelte Frequenz) das c¹, der vierte (die vierfache Frequenz) das c², der achte (die achtfache Frequenz) das c³ usw. Die eineinhalbfache Frequenz nennen wir den Quintton.

Da es in der Luftsäule jedoch keine halben Schwingungen geben kann, gehört die Quinte (g) über dem Grundton (c) nicht zu den Naturtönen. Der dritte Naturton (1½ x 2) ist dann aber das g¹, der sechste (1½ x 3) das g², der zwölfte (1½ x 4) das g³ usw. Je höher wir in der Naturtonreihe steigen, desto mehr Naturtöne finden sich innerhalb der Amplitude einer Oktave. Erst nur einer (c), dann zwei (c¹, g¹), dann vier, dann acht.

Der Mathematiker Pythagoras

Der griechische Mathematiker Pythagoras (570 bis 510 v. d. Z.) erforschte als Erster die Naturton­reihe, allerdings nicht am Blasinstrument, sondern an einem einfachen Saiteninstrument, dem Monochord. Die halbe Saitenlänge, so fand er ­heraus, ergibt den Oktavton, die Drittellänge die Quint über der Ok­tave (Duodezime), die Viertellänge den nächsten Oktavton usw. Mithilfe von Mathematik und Differenztönen (zum Beispiel Oktave minus Quinte) legte er die theoretische Basis unseres Ton­systems. 

Aus dem bloßen Klang der Naturtonreihe lässt sich die Dur/Moll-Tonleiter allerdings nicht restlos ableiten. Die Mollterz zum Beispiel erklingt erst im 19. Teilton. Und die Quart, so betont der französische Komponist François-Bernard Mâche, “entspricht nur so in etwa dem 11. Teilton (minus einem Viertelton) oder dem 21. Teilton (minus 29 Cent).

Niemand hat so hohe Obertöne je gehört, die in der chromatischen Skala überhaupt nicht vorkommen.” Darüber hinaus weicht die chromatische Skala, unsere “gleichstufig temperierte Stimmung”, bewusst ein wenig von den Vorgaben der Naturtonreihe ab. Sie ersetzt deren Regeln durch eine höhere Mathematik (Potenzen) – dies aus praktischen Gründen: Die gleichmäßige Temperatur erleichtert das Modulieren von Tonart zu Tonart. 

Wichtige Rolle für Blasmusik

Für Blasmusiker spielt die Naturtonreihe eine wichtige Rolle, zum Beispiel beim Überblasen. Wenn wir überblasen, tun wir ja nichts anderes, als dass wir die Schwingung in der Luftsäule in die nächsthöhere Teilfrequenz zwingen. Statt einer langen Schwingung dominieren dann zwei Schwingungen von halber Länge. Oder statt der zwei: drei Drittelschwingungen. Der Hauptton springt dabei in der Naturtonreihe jeweils eine Stufe höher.

Beim einfachen Überblasen geht das Saxofon vom ersten zum zweiten Naturton (eine Oktave höher). Die Trompete vom zweiten zum dritten (eine Quinte höher), die Klarinette vom ersten zum dritten (eine Duodezime höher). Hierbei kann es (außer in der Oktave) zu kleinen Tonabweichungen vom temperierten System kommen – sie müssen dann durch den Ansatz oder besondere Griffe korrigiert werden.

Um die Töne zu treffen, die zwischen zwei Naturtönen liegen, verändern wir die Länge der Luftsäule. Holzbläser gehen dabei vom Grundton nach oben: Sie verkürzen die Säule, indem sie Griff­löcher öffnen. Trompeter gehen vom Überblaston nach unten: Sie verlängern das Rohr, indem sie Ventile drücken.

Bisher erschienen: “Stichwort Rohrblatt-Trio“, “Stichwort Saxofonquartett“, “Stichwort Marsyas” und “Stichwort Tristantrompete”.