In der böhmischen Blasmusik sind kleine Besetzungen nicht mehr wegzudenken. Die Ursprünge dieser Musik liegen aber woanders. Zwei Tuben, Nachschlagposaunen und ein Klarinettensatz waren neben den Melodiebläsern Standard. In jüngerer Vergangenheit werden diese Orchester scheinbar aber immer seltener. Viele hören auf, weil die Organisation, die Finanzierbarkeit und die Konzertmöglichkeiten kaum noch realisierbar sind. Stirbt die große Besetzung aus? Wir haben mit Michael Maier, Guido Henn, Daniel Käsbauer, Kornel Hetterich und Michael Klostermann gesprochen.
Sonntag. Sonnenschein, 30 Grad. Die meisten Menschen genießen den freien Tag. Oder sie sind mit der Familie unterwegs, erledigen Gartenarbeit, machen Haushalt. Nicht aber Michael Maier. Denn er sitzt an seinem Schreibtisch. Für seine Kapelle kam ein Angebot rein. Nun muss er bei jedem einzelnen seiner Musiker den Termin abfragen. Einige haben keine Zeit, also muss er Aushilfen organisieren. Und wieder andere sind sich noch nicht sicher, melden sich also erst Tage später. Über Stunden hängt er am Smartphone. Irgendwann hat er die Besetzung beisammen. Dann beginnt das nächste Problem: Er muss eine Probe ansetzen. Repertoire sowie Programm müssen erstellt werden. Einen Bus für die Fahrt organisieren, mit dem Veranstalter sämtliche Begebenheiten abklären. Wie weit kann man ans Zelt fahren, um Equipment abzuladen? Sind Stühle und Notenständer vorhanden? Ist Mikrofontechnik vor Ort? Tontechniker? Michael stöhnt. Es nimmt kein Ende.
Solchen Problemen sind im Grunde alle Ensembles ausgesetzt. Für große Besetzungen ist die Koordination ungleich schwieriger. Mehr Musiker, mehr Equipment, mehr Organisation. »Dazu kommt, dass eine große Besetzung im Schnitt mehr kostet, als eine kleine«, erzählt Guido Henn, ebenfalls Orchesterleiter.
Mehr Musiker, mehr Aufwand
Dabei spricht er nicht nur von den Gagen. Auch für den Veranstalter werden die Ausgaben höher. Mehr Musiker, mehr Verpflegung. Getränke und Essen also. Warum Veranstalter in den vergangenen Jahren verstärkt kleine Besetzungen engagieren, ist aus finanzieller Sicht nachvollziehbar. Ebenso wie Michael Maier organisiert auch Guido Henn sein Orchester alleine. Die Musiker müssen sich also um nichts kümmern, was den beiden Leitern wichtig ist. Sie kommen, spielen und erhalten danach ihre Gage. Aber um für jeden Termin diesen organisatorischen Aufwand zu betreiben, »braucht es Power und Idealismus. Mit dem Älterwerden schwindet diese Energie«, erklärt Henn. »Und da die meisten guten Leute bereits in mehreren Besetzungen spielen, wird die Organisation nochmal erschwert.«
Für Henn ist klar, warum Musiker gern in kleinen Besetzungen spielen. »Du kannst dich als Einzelner mehr profilieren. Alles ist durchsichtiger und man muss viel mehr ans Limit. Und dadurch kann man mehr glänzen. Bestes Beispiel ist die Tuba. Die ist heutzutage meist hoch virtuos.« Auch Daniel Käsbauer von »Mission Böhmisch« kommt zum gleichen Schluss. »Manche sollten das aber vielleicht nicht tun. Zu oft gehen Brillanz und Präzision verloren.« Außerdem werde an den falschen Stellen gespart. »Meistens kommt die Technik zu kurz. Bei großen Besetzungen ungleich mehr. Man braucht mehr Kabel, mehr Mikros und mehr Kanäle im Mischpult.« Die Faustregel für große Besetzungen scheint also »mehr von allem – positiv wie negativ« zu sein. Als wäre das nicht schon genug, wurde bisher noch nicht über den menschlichen Aspekt geredet: die Musiker.
Schlechte Stimmung?
Kurzfristige Absagen, Unzuverlässigkeit, negative Stimmungsmache. »Ich musste mich von einem Musiker trennen«, erinnert sich Käsbauer. »Er hat ständig eine schlechte Stimmung in der Gruppe verursacht. Dem Rauswurf haben zwar alle anderen Musiker zugestimmt, aber das Klima war trotzdem nachhaltig negativ beeinflusst. Manche haben Angst bekommen, dass ich sie ebenfalls rauswerfe. Aber der Typ, Leute nach Lust und Laune zu ersetzen, bin ich nicht.« Das Los eines Orchesterleiters.
Michael Maier reibt sich erschöpft die Schläfen. Zum hundertsten Mal heute klingelt sein Smartphone. Einer seiner Musiker ist dran. »Sorry, ich kann am Wochenende doch nicht spielen, bin beruflich eingespannt.« Die Liste mit Aushilfsmusikern wird langsam kurz. Michael steht auf und geht ans Fenster. Kopf frei kriegen. Er schließt kurz die Augen und nimmt einen tiefen Atemzug. »Warum mache ich das hier eigentlich?«, fragt er sich laut. Als er sich wieder an den Schreibtisch setzt, fällt sein Blick auf ein Foto, auf dem seine Kapelle gerade einen Auftritt spielt. Zu sehen sind er und seine Gesangspartnerin Elke im Duett bei einer wunderschönen alten Mosch-Nummer. Plötzlich kommen Glücksgefühle in ihm hoch. Durch dieses blinde musikalische Verständnis zwischen ihnen geht ihm jedes Mal das Herz auf. Er schaut auf die anderen Musiker auf dem Foto. Unwillkürlich muss er lächeln. Sobald er mit dieser Truppe auf der Bühne steht, gibt sie ihm die gesamte Energie zurück und das Feeling ist sofort da. Michael fällt wieder ein. »Ach ja, darum.«
Lohnt sich der Aufwand?
Bisher wurden lediglich die negativen Seiten einer großen Besetzung aufgezählt. Was ist aber die Motivation der Orchester-Chefs? »Musik hat mir emotionale Momente beschert, die kann ich nicht beschreiben. Und das tut sie bis heute«, schildert Michael Maier seine Gedanken. Neben diesen Emotionen sei seine größte Motivation, seine eigenen Ideen umsetzen zu können. Solche emotionalen Augenblicke beschreibt auch Michael Klostermann in seiner langen Karriere als Orchesterleiter. Ihm ist wichtig, das Publikum mit Musik persönlich zu erreichen. So hat er sich vor Konzerten immer wieder über die regional verwurzelte Musik informiert. »Einen Erfolg gab es in einer Bergbauregion. Ich habe ein Lied arrangiert, dass die Bergleute jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit gesungen haben, um sich Mut zu machen. Als wir es beim Konzert spielten, sind plötzlich alle aufgestanden und haben mitgesungen. Das war ein Gänsehaut-Moment.« Als Michael Klostermann diese Geschichte erzählt, leuchten seine Augen förmlich. Die große Besetzung sei genau das, was ihn reize. »Eine natürliche Schwebung, die entsteht, wenn fünf Tenorhörner spielen, ist durch nichts zu ersetzen«, erklärt er seinen Enthusiasmus.
Sein Mantra: »Musik lebt von Kontrasten«. Für ihn stehen kleine und große Besetzungen keineswegs in Konkurrenz. »Sie können nur voneinander profitieren. Die Instrumentalisten sind heute besser denn je. Stilgrenzen sind nicht mehr so rigoros.« Zwar könne sich böhmisch, mährisch oder egerländerisch dadurch leichter verwässern, aber dass heute so viele Musiker alle Stile spielen können, sei eine positive Entwicklung. »Wir müssen die Musik lediglich authentisch halten und auch so weitergeben.«
Eine Renaissance!
»Die Blasmusikszene erlebt in den letzten Jahren eine Renaissance.« Kornel Hetterich von »maablosn« sieht generell eine positive Entwicklung. Es sei eine Fülle an neuer Literatur entstanden und Festivals, wie das »Woodstock der Blasmusik« sorgen für Wahrnehmung bei der breiten Masse. »Aber aus dem Konzertsaal ist Blasmusik seltener zu hören«, schließt er seine Gedanken ab. Das Problem, dass einzelne Musiker in einer großen Gruppe weniger glänzen können, als bei einer kleinen, sieht er aber mehr als Chance. »Ein zweiter Posaunist kann nun mal nicht so im Mittelpunkt stehen, wie der Signaltrompeter. Damit der aber glänzen kann, muss der Rhythmus stehen. Der schafft dann das Rampenlicht, damit die Solisten leuchten und brillieren können.« Es gehe mehr um die Gemeinschaft.
Daniel Käsbauer denkt analytisch über die Entwicklung. »Betriebswirtschaftlich gesehen hat sich der Markt für große Besetzungen bereinigt. Aber es gibt nach wie vor welche. Vor allem junge Besetzungen gründen sich in meiner Wahrnehmung wieder verstärkt mit Klarinetten und Posaunen.« Einzelveranstaltungen sind ebenfalls rückläufig. Und Festivals sowie Konzertabende mit mehreren Ensembles nacheinander im Trend. Diese Entwicklung ist allen fünf Orchesterleitern aufgefallen. Das Line-Up ist aber überwiegend mit kleinen Besetzungen befüllt. »Für die Vielfalt der Blasmusik ist das schade«, bedauert Käsbauer.
“Der Trend geht Richtung Party”
Neben den finanziellen Aspekten hat die sinkende Nachfrage noch einen weiteren Grund: »Für eine große Besetzung ist es manchmal schwieriger, attraktiv für Veranstalter zu sein, weil sie konzertante Blasmusik spielen. Der Zeitgeist hat sich einfach zu schnell gewandelt. Da müssen sich große Besetzungen ein Stück weit auch anpassen.« Kornel Hetterich kommt zum selben Schluss. »Der Trend geht Richtung Party. Im Bierzelt wird ein eleganter Walzer weniger wahrgenommen, als eine flotte Polka, bei der der Trompeter am Ende das g3 rauspfeift.« Eine mögliche Lösung hat Käsbauer schon parat: »Es braucht einen ausgeprägten Partyblock. Zuerst Blasmusik auf hohem Niveau, danach Party. Und das muss klar kommuniziert werden. Der Veranstalter muss genau wissen, was er bekommt.« Die Nachfrage für große Besetzungen bei Veranstaltungen ist zweifelsohne gesunken. Aber wird das Interesse beim Publikum ebenfalls weniger? Michael Klostermann sieht das nicht so. »Die Leute haben nach wie vor Lust auf Orchester. Mich erreichen oft Nachrichten von Menschen, die erfreut waren, uns beim ›Woodstock‹ zu hören. Diese Art der Musik – die große böhmische Besetzung – fehlt vielen.«
»Es ist der Klang«
Ein noch positiveres Bild zeigt sich bei der Musiker-Neugewinnung. Für keinen der fünf Orchesterleiter ist es ein Problem, junge Menschen für ihre Besetzung zu begeistern. »Ich muss selten suchen«, freut sich Klostermann. »Wenn mir kurzfristig jemand ausfällt, muss ich nur in unserer Gruppe fragen. Dann werden zwei, drei gute Musiker vorgeschlagen und die haben in der Regel immer Lust, mitzuspielen.« Auch Guido Henn ist erfreut über das Interesse junger Musiker und erklärt den Reiz am großen Orchester. »Es ist der Klang. Das Gefühl, in einem Satz gemeinsam einen homogenen Sound zu erzeugen. Und die Herausforderung dabei ist, trotz der Größe kompakt und präzise zu bleiben.« Interesse vom Publikum, Interesse von den Musikern. Die Ausgangslage ist erfreulicher, als befürchtet. Und auch für Veranstaltungen haben die Orchester-Chefs Ideen. »Eine große Besetzung braucht eine große Akustik«, sagt Klostermann. Daniel Käsbauer setzt auf eigens organisierte Konzerte. »Dafür nur ein paar Mal im Jahr. Weniger Konzerte bedeuten weniger Aufwand, bedeutet weniger Organisation.« Guido Henn ist derselben Meinung. »Ich möchte in Zukunft ausgewählte Auftritte spielen. Und besondere Arrangements entwickeln.«
Einzigartiger Orchesterklang
Während die Sonne langsam am Horizont verschwindet, geht Michael Maier noch einmal seine Liste durch. Alles ist erledigt. Der Vertrag an den Veranstalter geschickt. Musiker und Aushilfen organisiert. Technik abgeklärt. Bus gemietet. Programm und Repertoire erstellt. Neben seiner Müdigkeit spürt Michael auch eine leise Zufriedenheit. Die Zeiten haben sich gewandelt, gute Musiker haben viele Verpflichtungen in anderen Ensembles. Aber das bringt auch frischen Wind. Die Kapelle entwickelt sich stets weiter und wird mit jedem Auftritt besser. Als er an das vergangene Konzert denkt, durchfließt ihn neue Energie. Das Publikum war voll dabei und die Stimmung perfekt. Die Zeiten haben sich geändert. Aber die Leidenschaft, die ihn bei jedem einzelnen Auftritt durchströmt, war nie größer. Große böhmische Besetzungen spielen aktuell weniger. Der organisatorische Aufwand ist hoch. Aber sowohl Publikum als auch Musiker haben Interesse an diesem einzigartigen Orchesterklang. Die fünf Interviewten sehen der Zukunft optimistisch entgegen. Für alle ist klar:
Die große Besetzung stirbt nicht
Daniel Käsbauer fasst seinen Optimismus zusammen: »Alles verläuft immer in Zyklen. Große Besetzungen werden in den vergangenen Jahren weniger, die kleinen schießen aus dem Boden. Aber irgendwann ist der Markt gesättigt. Das dauert vielleicht noch ein paar Jahre. Aber ich bin überzeugt, dass die große Besetzung wieder kommt.«