Orchestra | Von Sandra Engelhardt

Stressfrei auftreten – effizient üben

Lampenfieber
Fotos: Tumisu / Pixabay

“Ach ja, das wäre schön!” ist meist die erste Reaktion, wenn ich den Titel meines Programms vorstelle: Effizient üben – stressfrei auftreten. Das klingt so einfach, jede und ­jeder will es haben – und doch fühlen sich die meisten Musikerinnen und Musiker, mit denen ich in Kontakt komme, Lichtjahre davon entfernt. 

Besonders der Gedanke “stressfrei auftreten” entlockt vielen gern ein sehnsüchtiges Lächeln. Vielleicht auch ein Schulterzucken, einen verträumten Blick in die Ferne. In diesen Momenten würde ich zu gern Gedanken lesen können. Denn als Coach interessiert mich brennend, welche Bilder gerade bei meinem Gegenüber im Kopf entstehen, welcher Film mit so einem Gedanken wie “stressfrei auftreten” angeschaltet wird. Und ich würde jetzt wirklich zu gern wissen, welcher Film gerade in deinem ganz privaten Kopfkino läuft bei der Vorstellung, dass ein Auftritt stressfrei abläuft. Und? 

Dabei interessiert mich besonders:
  • Was genau wird individuell als stressig erlebt?
  • Was wird als “na gut, so ist es eben” akzeptiert und von wem?
  • Was wird als hemmend und ausbremsend und in hohem Maße unangenehm erlebt?

Also beginnen wir doch mit der Frage, was genau eigentlich an einem Auftritt stressig sein kann. Und bitte zieh jetzt nicht skeptisch die Augenbrauen hoch, denn diese Frage ist alles andere als leicht zu beantworten. Vielleicht gehörst du zu denjenigen, für die ein gewisses Stress­level vorm Auftritt ganz angenehm ist, weil du dich dann wach und aktiv fühlst, regelrecht gepuscht. Oder vielleicht empfindest du Auftritte aber auch gar nicht als stressig und wunderst dich, warum andere darum so einen Wind machen. Vielleicht hast du auch lange Zeit unter extremem Stress gelitten und für dich schon eine geeignete Möglichkeit gefunden, damit umzugehen, so dass du dich in Auftrittssituationen nicht mehr unwohl fühlst.

Eigentlich müssen wir mit unseren Überlegungen noch einen Schritt früher beginnen – mit der Frage, was eigentlich ein Auftritt ist. Auch so ein Ding, bei dem man denkt, dass die Antwort doch selbstverständlich und klar ist – aber das individuelle Erleben und damit auch die Idee ist sehr vielfältig. 

Gängige Antworten sind:
  • Solo auf der Bühne allein mit Klavier
  • Solo im Orchester
  • Konzert mit dem Ensemble oder Chor

Wenn wir dann ein bisschen weiterschauen, auch im Zusammenhang mit dem Gedanken, welche Situationen als stressig erlebt werden, dann tauchen noch weitere Szenen auf:

  • Wenn im Unterricht das Hausaufgabenstück vorgespielt werden soll
  • Wenn man im Orchester beim Einstimmen ganz allein das a spielen soll und alle hören zu
  • Wenn im Orchester oder Ensemble in der Probe nur mit der Stimmgruppe eine Stelle geprobt wird und alle anderen hören zu
  • Als Steigerung: wenn man bei der Probe allein seine Stimme (also eine Stelle) spielen soll
  • Wenn ich weiß, wer im Nebenzimmer übt, und diese Person auch weiß, dass ich nebenan übe und wir uns hören können

Wenn das Kino einmal geöffnet hat, wird der Film bei den Meisten immer länger, bunter, vielfältiger. Und die Idee von Stress oder dem, was als stressig, unangenehm oder gar belastend erlebt wird, kann Stück für Stück deutlicher erklärt werden. 

Denn die Frage ist: “Was genau erlebst du denn in dieser Situation als stressig?” 
  • Ist für dich mit »Stress vor dem Auftritt« die Erfahrung verbunden, dass du immer, wirklich immer zu spät mit den Vorbereitungen beginnst, in letzter Sekunde das Hemd noch bügelst und – Mist – eigentlich die Schuh auch nochmal putzen wolltest, egal, jetzt ist es zu spät, dann losfährst, nach zwei Querstraßen nochmal umdrehst, weil du (mal wieder) die Pultleuchte vergessen hast?
  • Oder stresst es dich, weil du genau weißt, dass spätestens kurz vor dieser einen fiesen Stelle deine Lippe wieder so derartig krass anfangen wird zu zittern, dass du jetzt schon sicher bist, dass das eine Katastrophe wird?
  • Stresst es dich, weil dein Musizieren beurteilt oder bewertet wird? Weil du Angst hast, dass ein einziger Fehler beim Gegenüber den Eindruck von dir hinterlässt, dass du dem allen nicht gewachsen bist? Dass du nichts kannst?
  • Stresst es dich, weil du Angst hast, nicht gut genug zu sein für die Ansprüche von jemand anderem? Oder auch deiner eigenen?

Angst und Leistungsdruck

Wenn wir jetzt mal den ersten Punkt mit dem “zu spät losfahren” aus der Aufzählung rausnehmen, dann lässt sich das Erleben von Stress grob in zwei Kategorien einteilen: Angst und Leistungsdruck.

Wenn es gelingt, das Gefühl von Stress einer dieser beiden Kategorien zuzuordnen, dann ist schon viel gewonnen. Denn dann kann ich nach den Ursachen suchen – und Möglichkeiten und Strategien für ein Veränderung entwickeln.

Angst hat etwas mit Befürchtungen zu tun. Das Kopfkino präsentiert dir Szenen, die du vielleicht schon mal erlebt hast, vielleicht ist es auch ein Potpourri an Möglichkeiten (mit großer angenommener Eintretenswahrscheinlichkeit) oder Erzählungen anderer. Die Horror-Intensität steigert sich gern in immer wildere Versagens- und Scheiterns-Szenarien hinein. In Farbe, 3D und Sourround. Super intensiv.

Leistungsdruck geht in der Regel mit einem Gefühl der Hilflosigkeit einher. Betroffene haben das Gefühl, dass Erwartungen an sie gestellt werden, von denen Sie nicht wissen, wie sie sie erfüllen sollen. Oder sehen sich mit Problemen konfrontiert, bei denen sie keine Ahnung haben, wie sie damit umgehen sollen geschweige denn eine Lösung finden können. Oder noch eine Stufe weiter: dass es Erwartungen an sie gibt, die sie aber nicht genau kennen und daher eigentlich überhaupt nicht wissen, womit sie zu rechnen haben, worauf sie sich vorbereiten sollen und überhaupt: “Ich bin überzeugt, dass ich nicht gut genug sein werde, und habe keine Ahnung, wie ich das ändern soll.”

Die Übergänge sind fließend

Wie bei allen Modellen sind Übergänge fließend. Das Erleben von Leistungsdruck führt zu Angst vor oder in bestimmten Situationen. Angst lähmt mich, so dass das Erleben von Leistungsdruck noch oben auf meinen Horror-Kuchen als Sahnehäubchen gesetzt wird.

Nein, Angst macht uns nicht besser. Und auch Druck führt nicht zu besserer Leistung. Nicht dauerhaft und nicht ohne Magenschmerzen, Haarausfall oder Sehnenscheidenentzündung. Und vor allem nicht, wenn es um Kreativität und Flexibilität geht. Höchstleistung lässt sich auch anders erreichen.

Nun gut, magst du vielleicht jetzt denken. Höchstleistung muss es ja gar nicht sein. Ich spiele ja nur so zum Spaß, schon mit Anspruch, klar. Und das mit der Angst, das gehört ja irgendwie dazu, das haben ja alle. Damit muss man sich eben abfinden.

Nein, muss man nicht. Musst du nicht. Du machst Musik, weil es dich glücklich macht. Und das, was dich beim Musizieren glücklich macht und mit Freude erfüllt, das sollte dir so wichtig sein, dass du es nicht von einer Angst einschränken lässt. Und auch, wenn es scheinbar allen so geht, heißt das noch nicht, dass es dazugehört. 

Mir ist es wichtig, diese Themen anzusprechen, auszusprechen und mehr noch: zum Darüber sprechen zu ermuntern. Dass Lampenfieber nichts ist, für das man sich schämt. Dass das Erleben von Leistungsdruck kein Anzeichen für persönliches Versagen ist.

Wenn du Stress hast, brauchst du Entspannungsübungen?!

Nach meiner Erfahrung trifft das so pauschal nicht zu. Denn wenn ich die Ursachen für den Stress nicht kenne, dann kann ich auch keine geeigneten Gegenmaßnahmen ergreifen. Daher mag ich diese Frage lieber: Was brauchst du, um dich in Auftrittssituationen sicher zu fühlen? Dann können wir weiterschauen. 

Denn wenn ich für mich herausgefunden habe, was ich brauche, was mir bisher fehlt, so dass ich mich in Auftrittssituationen kompetent und stark fühle und mir und meinem Können vertraue, dann kann ich losgehen und nach Strategien oder Methoden suchen, die mich unterstützen.

  • Wenn du das Gefühl hast, nicht gut vorbereitet zu sein und unsicher in dem, was du tust, dann bauchst du zuerst Ideen oder eine Strategie, wie du so übst, dass du deinem Können vertraust. Dass du dir vertraust.
  • Wenn du Angst hast, dass du dich beim Auftritt verspielst und alle es hören und du dich total blamierst obwohl du doch gut vorbereitet bist, dann brauchst du eine Strategie, wie du deinem Gehirn beibringst, bei Auftrittssituationen nicht automatisch den Horrorfilm hervorzuholen (Titel: “Die besten Versagens-Szenarien – live!”). Dein Kopfkino braucht eine Alternative.
  • Wenn du Angst davor hast, dass das Zittern der Knie – oder anderer relevanter Körperteile – wieder alles vermasseln wird, dann brauchst du Übungen, um deinen Körper aus dem Alarm!-Modus herauszuholen.

Viele Gründe für Lampenfieber und Auftrittsangst

Es gibt so viele Gründe für Lampenfieber und Auftrittsangst. Eine individuell stimmige Strategie zu entwickeln, wie ich damit umgehen, wie ich Auftrittsangst überwinden kann (oder verhindern, dass sich ein “Unwohlsein” zu einer Angst entwickelt), das ist ein großer Schritt zurück zum Musizierglück.

In den nächsten Ausgaben werde ich einzelne Aspekte zu den Themen effizient Üben und stressfrei auftreten genauer ausführen, auch mit Tipps und Anregungen, die du für dich ausprobieren kannst. Denn wenn es sich für dich nicht gut anfühlt, dann kannst du das verändern. Ich freue mich, wenn meine Tipps dich dabei begleiten und unterstützen. Auf deinem Weg “Zurück zum Musizierglück“. Bist du dabei?

Engelhardt

Sandra Engelhardt

Die Musikerin und Hochschuldozentin arbeitet als zertifizierte Coach und systemische Beraterin (i.A.) in ihrer Praxis bei Hannover und online mit dem Schwerpunkt Übe- und Auftritts-Coaching. In der Arbeit mit Studierenden, Amateurinnen und Amateuren sowie Profis verbindet sie Elemente aus dem Lerncoaching, Mentaltraining und Zeit- und Selbstmanagement zu einem mehrdimensionalen Ansatz. Ihr Ziel? Zurück zum Musizierglück!

www.sandraengelhardt.de

Instragram: mit_sandraengelhardt