Musik entsteht immer im Hier und Jetzt. Deshalb ist die Akustik des jeweiligen Raumes auch nicht nur der Rahmen der musikalischen Qualität, sondern ein Teil davon. Eine Herausforderung ist es, wenn der Probensaal völlig andere akustische Voraussetzungen bereithält als der Auftrittsort. Markus Theinert meint deshalb: „Die Musiker müssen lernen, in einer spezifischen Situation aufeinander zu reagieren.“
Es gibt die verschiedensten Säle für Konzerte, dazu Mehrzweckhallen, Open Airs… Wie abhängig ist ein Dirigent von der Akustik des jeweiligen Auftrittsortes?
Dirigent und Orchester sind extrem abhängig von den akustischen Bedingungen. Denn die Akustik ist nicht nur eine architektonische Eigenschaft, ja nicht einmal nur eine klangliche Eigenschaft. Sie ist auch dafür verantwortlich, wie ich das Orchester im Sinne des musikalischen Erlebens zusammenbringe. Die Frage ist also gar nicht, ob die Akustik einen Einfluss hat, sondern in welchem Maße sie sich auf das Musizieren selbst auswirkt.
Vergleichen Sie das einmal mit dem Skispringen. Ein Skispringer wird im Training und dann im Wettkampf mit verschiedenen Sprungschanzen konfrontiert, die mal länger oder kürzer sind oder jeweils verschiedene Steigungen besitzen. Er sollte aus diesem Grunde in einer Umgebung trainieren, die der des Wettbewerbs sehr ähnlich ist.
Ein Teil unserer musikalischen Vorbereitung beschäftigt sich dementsprechend mit der Akustik. Denn die Akustik hat einen wesentlichen Einfluss auf den Obertonreichtum. Dabei geht es nicht nur um Reflektion und Absorption, sondern auch um die Resonanz im Gesamtklang und um das Zusammenspiel im musikalischen Sinn. Wenn wir mal von der metrischen und rhythmischen Gleichzeitigkeit absehen, müssen wir uns auch überlegen, wie die Klänge im strukturellen und formalen Sinne der Komposition zusammenpassen. Deshalb ist die Akustik nicht nur ein Rahmen, sie ist Teil der musikalischen Qualität.
In der Vorbereitung sollte sich – bevor der erste Ton erklingt – der Dirigent also Gedanken machen, wo dieses Werk dann aufgeführt wird?
Im idealen Fall sollten wir in der Umgebung proben, in der wir auch auftreten; in dem Saal und auf der Bühne, auf der wir dann konzertieren. Das ist natürlich nicht immer möglich. Im Bereich der Blasmusik sind wir oft einem viel zu kleinem Probenlokal „verhaftet“. Und die Konzertsäle stehen nicht für unsere wöchentlichen Proben zur Verfügung. Wenn mir der Konzertort bekannt ist, läge es ja nahe, sich bei den Proben auf diesen speziellen Klang im Konzertsaal vorzubereiten. Allerdings kann ich mich in einer authentischen Auseinandersetzung mit der Partitur immer nur mit dem lebendigen Klang im Hier und Jetzt beschäftigen. Wenn ich also für die Proben nicht im Konzertsaal arbeiten kann, muss ich mich mit den Bedingungen auseinandersetzen, die im Probenraum existieren.
Es reicht eben nicht aus zu sagen: „Wir werden nächsten Sonntag in einem Raum mit fünf Sekunden Nachhall spielen anstatt mit anderthalb Sekunden im Probenraum.“ Oder „Wir konzertieren in einem Raum, der sieben Mal größer ist…“ Das hilft weder dem Dirigenten noch seinen Musikern wirklich weiter. So kann man allenfalls dem Überraschungseffekt vorbeugen, wenn das Orchester zum ersten Mal in den Saal hineinkommt. Musikalisch etwas heute zu verändern, was morgen an einem anderen Ort stattfinden soll, wird also kaum gelingen. Denn gestalten können wir nur im Augenblick des Entstehens. Die Abstimmungen zwischen den Musikern im Orchester, etwa die Priorisierung der Haupt- und Nebenstimmen, die harmonische Struktur im Akkordaufbau usw., müssen geschaffen werden. Die Musiker müssen lernen, in einer spezifischen Situation aufeinander zu reagieren statt einfach eine hypothetische Geschwindigkeit oder eine statische Klangeinheit zu reproduzieren, die dann auf den neuen Raum anwendbar wäre.
Das heißt, dass das Aufeinanderhören umso wichtiger ist?
Das ist nicht nur wichtig – es ist unsere einzige musikalische Chance! Wir müssen aufeinander hören und auf die funktionalen Impulse vom Dirigenten reagieren. Fatal wäre, einfach zu sagen: „Bitte spielt ein bisschen mehr Staccato, wir haben es mit sehr viel Nachhall zu tun bei unserem nächsten Konzert und wir wollen uns mit guter Artikulation darauf vorbereiten.“ Ich kann das sicherlich von der technischen Seite her vorbereiten. Aber welche intrinsische Funktionalität hätte das musikalisch gesehen?
Diese kann ich tatsächlich nur in der klanglichen Realität des jeweiligen Raumes erfahren. Der Dirigent und seine Musiker bereiten nicht einen absolut gültigen Klang vor, sondern die Beziehungen zwischen den Klängen – und damit die Reaktionsfreudigkeit und die Spontaneität der einzelnen Beteiligten. Wir müssen lernen zu reagieren. Wir sollten die Bezüge innerhalb des musikalischen Geschehens also nicht nur identifizieren und kennenlernen, sondern immer wieder auch auf subtile Veränderungen innerhalb der jeweiligen klanglichen Realisierung reagieren können. Und das ist die Verantwortung des Dirigenten, dem die formalen Tatsachen der Komposition bereits bekannt sind.
Der Dirigent an seiner privilegierten zentralen Position vor dem Orchester muss aus der vertikalen Vielfalt in die horizontale Struktur hineinkommen und herausfinden, bei welchem Tempo, mit welcher Artikulation und mit wieviel dynamischem Kontrast das alles im Bewusstsein zu einer Einheit zusammenfällt. Und er muss gleichzeitig gewahr sein, dass sich das Tempo drastisch verändern wird, wenn er mit einer anderen Akustik zu tun hat. Hierin liegt auch die Problematik von festgezurrten Metronom-Zahlen. Oft haben sich unser Muskelgedächtnis und unsere Feinmotorik schon so sehr an solch eine statische Auffassung von Geschwindigkeit gewöhnt, dass wir nicht mehr anders können. Und das ist mit in einem neuen Saal dann unvereinbar.
Wie schwer ist es, diese Herausforderung
als Dirigent zu meistern? Ist das auch der Erfahrung geschuldet?
Es wäre schön, wenn dem so wäre. Denn dann würde einem in der zweiten Lebenshälfte alles viel leichter fallen! Grundsätzlich sollte ein Dirigent immer darauf bestehen, möglichst viel Zeit in der finalen Umgebung zu verbringen, unabhängig vom mitgebrachten Erfahrungsschatz im Umgang mit Saalwechseln. Man sollte sich mit dem Veranstalter zusammensetzen und überlegen, wie man nicht nur eine Generalprobe, sondern mehrere Proben in diesem Saal installieren könnte.
Nur so können wir uns Stück für Stück an die neue Beschaffenheit gewöhnen und auch die klanglichen Voraussetzungen für das kompositorische Material kennenlernen. Und so können wir die Referenzsysteme für unsere musikalischen Reaktionen auch dort anwenden, die wir im Probenraum bereits erlebt haben. Wenn der Musiker gelernt hat, aus seiner eigenen Stimme auszubrechen und sich im musikalischen Gewebe zu integrieren, dann wird es ihm tatsächlich auch gelingen, die Klanggebung dementsprechend an die neue Äußerlichkeit anzupassen.
Was uns zusätzlich beschäftigt, ist die Tatsache, dass viele Konzertsäle für das Publikum gebaut sind. Man möchte den Klang in die letzte Ecke des Saales transportieren. Dementsprechend werden Reflektoren angebracht und die Wände präpariert, damit jeder Zuschauer zum gleichen Hörgenuss kommen kann. Dem Orchester auf der Bühne aber ist damit nicht geholfen. Womöglich erhalten die Musiker die wesentlichen klanglichen Informationen gar nicht, die für die entscheidende Integration der eigenen Stimme in das Gesamtgeschehen unabkömmlich sind. Dann gilt es tatsächlich nur, auf den Dirigenten zu schauen, damit wir wenigstens im metrischen Sinne zusammenbleiben. Das Musikalische bleibt dann natürlich auf der Strecke.
Apropos Publikum. Ist es ein Unterschied, ob ich in einem leeren Saal bei einer Probe oder im voll besetzten Konzertsaal spiele?
Das kann eine ganz andere Welt werden. Das gilt vor allem für Mehrzweckhallen oder Sporthallen, die keine Konzertakustik besitzen. Architekten und Designer haben über die Jahrhunderte geeignete Techniken und Materialien entwickelt, dass diese auch ohne Publikum in gleichem Maße den Klang absorbieren, reflektieren oder brechen.
Was wären denn Säle, in denen man besonders gut bzw. besonders schlecht musizieren kann? Wie sollte so ein Saal aussehen und gebaut sein?
Pauschal ist das sehr schwer zu beantworten. Empirisch lässt sich feststellen, je größer der Saal, desto unvereinbarer wird das mit dem Musizieren. Da ist zum einen die Dimension des Schalls, der Zeit braucht, um von A nach B zu gelangen. Und wenn ein Saal 3000 Personen Platz ermöglicht, ist die Masse des Publikums natürlich ebenfalls ein wesentlicher Faktor. Es zeigt sich, dass kleinere und traditionelle Konzertsäle mit der Geometrie einer Schuhschachtel durchaus ihre Vorteile haben.
Wenn sie etwa den Herkules-Saal in München mit der Bühne im Gasteig vergleichen, dann ist das ein lebendes Beispiel dafür, dass die Ästhetik und Architektur beim Letzteren einen großen Sprung in die Moderne gemacht hat, aber von der akustischen Seite her nicht entsprechend kompakt ist und den Klang daher weniger zusammenhält. Die Hamburger Musikhalle, der Wiener Musikvereinssaal, das Berliner Konzerthaus am Gendarmenplatz.Das sind alles Säle, die in der Regel einfacher zu handhaben sind als ein enorm großer Konzertsaal.
In der Welt der Blasmusik werden viele Konzerte in Mehrzweck-, Turn- und Sporthallen aufgeführt. Da gibt es noch andere Grenzen und Herausforderungen, bestehend hauptsächlich im verwendeten Material. Beton, Stahl oder Glas haben glatte Oberflächen, die enorm hart projizieren und den Klang sehr punktuell im Raum verteilen. Von der Resonanz her schwingen diese Baustoffe zwar enorm stark mit, verteilen aber das Obertonspektrum sehr ungleichmäßig. Holz hingegen bricht von sich aus im mittleren und oberen Frequenzbereich des Orchesterumfangs den Klang auf und reflektiert eben nicht so punktuell, sondern vielmehr radial. Ein guter Saal benötigt eigentlich eine ideale Mischung zwischen Absorption, Reflektion und Resonanz.
Sind somit manche Säle leichter zu bespielen? „Dankbarer“?
Kammermusik-Besetzungen und große Orchester verlangen hier natürlich unterschiedliche Voraussetzungen. Der Saal ist dann angemessen, wenn seine akustischen Bedingungen uns erlauben, das Stück in seiner Ganzheit zur Aufführung zu bringen und kohärent zu gestalten. Es kann natürlich passieren, dass Orchester ihre Besetzung dem Saal entsprechend anpassen. So mag ein Dirigent feststellen: In Konzertsaal A funktioniert es mit sieben Trompeten und zwei Tuben wunderbar. Und auf der anderen Seite verlangt der Kollege in Konzertsaal B fünf Bässe und muss seine Trompeten auf drei beschränken. Eine solche Diskrepanz hängt eben genau mit dieser Kompatibilität zusammen. Wir müssen einfach unkonventionell reagieren, wo es die Rahmenbedingungen erlauben.
Nicht jede Räumlichkeit, die auf den ersten Blick schwierig erscheint, muss ein schlechter Konzertsaal sein. Man kann sich – mit Einschränkungen – in die Örtlichkeit einpassen, da sich diese kaum kurzfristig auf unsere Bedürfnisse und Spielgewohnheiten hin verändern lässt. Das ist also tatsächlich anders herum als beim Schneider, der einem den Anzug auf den Leib anpasst.
Wenn man also „scheitert“, liegt das nicht am Konzertsaal, sondern an der mangelnden Vorbereitung auf dieses Konzert?
Nein, es gibt gewisse Grenzen, wenn der Saal nicht die erforderlichen essenziellen Rahmenbedingungen bieten kann. Ich kann mich noch gut an eine Aufführung in der Münchner Frauenkirche erinnern. Auf einer Benefiz-Veranstaltung haben wir den Huldigungsmarsch aus Griegs „Sigurd Jorsalfar“ gespielt. Der Marsch selbst ist insgesamt auf einem sehr breiten Tempo angelegt, die Einleitung mit ihrer Trompetenfanfare ist aber relativ rasch. Das war in der Akustik der Kathedrale überhaupt nicht machbar. Denn nachdem die Kaskade der Trompeten in den Vorhaltakkord hinein ging, musste man fast fünf Sekunden warten, bevor die Auflösung erfolgen konnte. Das zeigt, dass es einfach physikalische Grenzen gibt. Diese sind auch mit bester Vorbereitung nicht immer überwindbar.
Markus Theinert war Dirigent der Mannheimer Bläserphilharmonie und in Mannheim auch Professor für Dirigieren. Heute ist er – nachdem er 23 Jahre bei der Firma Miraphone war – Vice President-Marketing beim US-amerikanischen Instrumentenbauer Conn-Selmer. Für CLARINO hat er viele Jahre lang Theinert Thema beigesteuert.