Orchestra | Von Klaus Härtel

Theinerts Thema: Als Dirigent die Krise nutzen!

Markus Theinert
Markus Theinert (Foto: Mannheimer Bläserphilharmonie)

Musiker und Dirigenten sind immer noch größtenteils zum Nichtstun verdammt. Zumindest, was die musikalische Arbeit in der Gemeinschaft angeht. Und „Online“ ist kein wirklicher Ersatz, findet auch Markus Theinert. Doch nutzen kann man diese Zeit sehr wohl. 

Herr Theinert, Corona hat das Kulturleben immer noch fest im Griff. Als allgemeine Einschätzung: Was macht das mit Menschen, die sonst tagtäglich mit Musik zu tun haben und jetzt schlichtweg nicht mehr dürfen?

Die derzeitige Situation hat katastrophale Auswirkungen – nicht nur auf das gesellschaftliche und das berufliche Leben, sondern natürlich auch auf die sozialen Kontakte innerhalb des musi­kalischen Gewerbes, auf die Kultur allgemein und alles, was sich dahingehend im menschlichen Miteinander abspielt. 

Ich möchte hier keine Anleitung geben, wie wir mit Anstand durch diese Situation hindurch­kommen. Dennoch haben wir in Zeiten, in denen wir ans Haus gebunden sind und uns nicht in der gewohnten musikalischen Umgebung bewegen können, andere Möglichkeiten, die Zeit sinnvoll zu nutzen. Ein Instrumentalist kann nun etwas für sich selbst tun, er kann sich um die eigene Technik, um das Instrument kümmern. Ein Dirigent kann sich der Schlagtechnik und dem Partiturstudium widmen. Vielleicht ist das einer der wenigen positiven Punkte, die die Isolation mit sich bringt. 

Für die meisten Musiker, die nun am Proben, Unterrichten und Auftreten gehindert werden, gibt es eben doch andere Möglichkeiten, sich eingehend mit Musik zu beschäftigen. Natürlich kann das niemals das Dirigieren eines Orchesters oder die gemeinsame Probe im Register oder gar ein Konzert ersetzen, aber es kann uns trotzdem weiterbringen. Wir können an unseren Fähigkeiten und Fertigkeiten feilen.

Sie sagen es: Das kann das gemeinsame Musi­zieren natürlich nicht ersetzen. Ist es dahingehend – zumindest auf Dauer – auch schwierig, ohne Feedback wirklich weiterzukommen? 

Absolut. Ein Pianist übt ja auch nicht auf einer Tastatur, von der kein Klang zurückkommt. Wir können zwar Fingertechnik üben und die Tasten bewegen, vielleicht auch ein visuelles Feedback bekommen, aber es kommt keine Rückmeldung von dem, was die Aktivität unserer Hände im Klang tatsächlich bewirkt. Und für den Dirigenten ist das nichts anderes. Denn er hat ja kein Instrument vor sich, wenn er zu Hause Schlagtechnik übt. Er kann nicht ausprobieren, wie sich die Strukturen der Partitur in der Realität behaupten und im Klang zum Leben erweckt werden.

Aber: Er kann ans Klavier gehen und ein großes Pensum an Partiturstudium erledigen. Zumal das Dinge sind, die sonst zeitlich schon mal zu kurz kommen. Mit Partituren könnte man sich jetzt so gründlich wie noch nie beschäftigen – einfach weil die Zeit vorhanden ist. Anwenden können wir das Gelernte dann, wenn die Normalität zurückkehrt.

Aber Sie haben natürlich recht: Die interaktive Rückmeldung ist – nicht nur für den Dirigenten, sondern auch für den Musiker, der nur Orchesterstellen übt – nicht vorhanden. 

Möglichkeiten, diese dann doch zu bekommen, werden derzeit ja ganz ausgiebig über ver­schiedene digitale Plattformen ausprobiert und praktiziert. Allerdings ist die Perspektive sehr eingeschränkt – visuell und vor allem klanglich. Denn das Mikrofon kann ja nur einen kleinen Teil der Wirklichkeit übermitteln. Die Person auf der anderen Seite hat nur wenig Chancen, wirklich auf die Zusammenhänge zwischen den Klängen zu reagieren. Das Musikalische im Spiel des Schülers etwa wird nur sehr schwer gefördert werden können. Online-Unterricht funktioniert, aber nur mit großen Einschränkungen.

Online kann definitiv kein Ersatz für einen analogen Unterricht oder analoges Musizieren sein. Kann es denn trotzdem zumindest eine Überbrückung in der Corona-Zeit sein? Denn anders geht es gemeinsam ja nicht…

Es ist ein Wandeln auf einer ganz feinen Grenze zwischen dem, was wir eigentlich tun wollen – Musik erleben – und dem, was wir tun können. Online musizieren ist kein Ersatz, sondern nur eine Möglichkeit, sich kommunikativ miteinander auszutauschen. Online wird sicherlich das musikalische Erleben nicht ersetzen. Aber bevor wir gar nichts tun, ist es auf jeden Fall ein Kompromiss. So muss der Lehrer beispielsweise den Schüler nicht hängenlassen, sondern kann ihn im besten Falle ein bisschen weiterbringen in der Technik und der Beherrschung des Instruments. 

Können Sie nachvollziehen, dass es derzeit für den ein oder anderen Musiker und Dirigenten schwer ist, sich selbst zu motivieren? Denn Ziele in Form von Konzertterminen hat schließlich niemand vor Augen.

In der momentanen Situation wird besonders deutlich, worin die eigentliche Motivation für den Einzelnen im musikalischen Bereich wirklich besteht. Es gibt die Menschen, die nur durch die Aussicht auf Konzerterlebnisse selbst motiviert werden, sich vorzubereiten, zu üben und die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit das Konzert stattfinden kann. Denn das ist es, was sie antreibt: vor dem Publikum zu stehen und den Applaus, sprichwörtlich das „Brot des Musikers“, zu genießen. Das ist die persönliche Genugtuung.

Aber es gibt auch andere. Zu diesen zähle ich mich selbst. Für mich ist das Konzert gar nicht das Wichtigste. Für mich ist vielmehr die Arbeit, die dorthin führt, von Bedeutung: die Vorbereitung, der Entstehungsprozess. Natürlich ist das Konzert der logische Abschluss dieser Arbeit. Hier teilt man anderen Menschen mit, was man erreicht hat. Das ist ja ein selbstverständliches Bedürfnis – aber nicht die eigentliche Antriebsfeder.

Für mich wäre es kein Hinderungsgrund, mich mit einer Partitur zu beschäftigen, auch wenn ich wüsste, dass ich das Werk niemals aufführen würde. Ich habe immer Partituren gelesen, die nicht auf dem Programm standen. Auch gehe ich heute noch gerne an den Notenschrank und greife eine Haydn-Sinfonie heraus, die ich vielleicht 20 Jahre nicht gespielt habe. Ich lese und entdecke diese unglaubliche Heiterkeit und Ironie. Ich freue mich darüber, auch wenn ich dieses Werk nicht in einer klanglichen Realisierung erleben darf. 

Es gibt zwei diametral entgegengesetzte Motivationen. Die einen sind an der musikalischen Struktur und der musikalischen Wahrheit inte­ressiert, die anderen sehen den Erfolg vor dem Publikum als persönliche Motivation. Und für Letztere wird es tatsächlich schwer, sich über einen solch langen Zeitraum zu behaupten, zu motivieren und weiter an sich zu arbeiten. 

Für diese Gruppe wird es dann vermutlich auch dementsprechend schwer, spieltechnisch den Anschluss zu halten, oder?

Vom technischen, muskulären und motorischen Aspekt sicherlich. Da aber ist die Motivation an der Musik selbst gar nicht so entscheidend. Da braucht es vor allem Selbstdisziplin. Das ist wie bei Sport und Fitness. Man muss jeden Tag aufs Neue seine Lethargie überwinden, um bestimmte Grundlagen aufrechtzuerhalten. Da stimme ich Ihnen zu. Das ist sehr schwer – nicht nur, weil das Konzert fehlt. Es fehlt ja auch das kollegiale Miteinander. Es fehlt ein gewisser Gruppenzwang. Ich sehe ja nicht, was der andere tut. Ich weiß nicht, ob er Fortschritte macht. 

Und da kann ich nur jeden ermutigen, das Instrument zur Hand zu nehmen – statt sich vor den Fernseher oder an die Spielekonsole zu setzen. Wenn der erste Ton erst einmal gespielt ist, fällt es meistens auch gleich leichter. Man darf sich von der Lähmung der Welt in dieser Zeit nicht niederdrücken lassen. 

Eine gefährliche Entwicklung haben wir kürzlich in Italien beobachten können: Dort hat ein Kabinettsmitglied der Regierung ernsthaft vorgeschlagen, dass das Musizieren der Zukunft in einem anderen Format stattfinden wird, weil die Welt nach Corona eben eine andere sei. Da ging es um virtuelle Proben und Konzerte, bei denen jeder aus seinem Wohnzimmer heraus spielt. Da wird das Verständnis, was Musik überhaupt bedeutet, vollkommen verzerrt. Und wenn Regierungsmitglieder eines an Kulturerbe so reichen Landes wie Italien Einfluss auf das Kulturleben nehmen, kann das katastrophale Auswirkungen haben.

Ein Musikleben im echten Sinne würde dann nicht mehr stattfinden?

Musizieren ist gar nicht möglich. Es ist ja kein Ersatz. Es ist ja nicht so, dass wir einfach von der Bühne, auf der wir gemeinsam spielen, in das jeweils eigene Wohnzimmer wechseln. Die Technologie macht es möglich, dass wir doch gemeinsam musizieren? Nein! Das eine hat doch mit dem anderen gar nichts zu tun!

Es geht ja nicht darum, dass wir rhythmisch per Clicktrack zusammenbleiben und die Töne möglichst zur selben Zeit über den Äther bringen. Das ist keine Musik! Musik geht doch weit über die klangliche und rhythmische Welt hinaus! Und das ist das Gefährliche an dieser Zeit: Die Leute denken, den Aufwand, in den Probenraum zu gehen, ­könne man sich auch sparen und man könnte dank der Technologie alles ganz bequem von zu Hause machen. 

Aber wir bleiben ja Optimisten. Es wird Per­sonen in den entscheidenden Gremien geben, die ein solches musikalisches Welt­untergangs­szenario verhindern werden. 

Dann blicken wir positiv auf den Zeitpunkt, an dem Musiker wieder gemeinsam loslegen dürfen: Was würden Sie Dirigenten raten, wie sie sich in der Corona-Krise mit Musik beschäftigen können? Was können Dirigenten tun, um „dabei“ zu bleiben?

Im Grunde sind es zwei Dinge. Zum einen ist da das Partiturstudium. Das bezieht sich nicht nur auf die Intensivierung der Stücke, die wir bereits vor der Pandemie auf dem Pult hatten, um sie für ein Konzert vorzubereiten. Sondern vorausschauend sollten wir auch Stücke zur Hand nehmen, an die wir noch gar nicht gedacht haben. Die Verlage sind ja lieferfähig. Ich kann neue Werke bestellen und mehr Partituren studieren als jemals zuvor!

Ich würde jedem Dirigenten empfehlen, die momentan vorhandene Zeit in das Partiturstudium zu stecken. Und zwar wirklich mit einer Neugierde am Detail, an den inneren Zusammenhängen, die das Wesen der Komposition ausmachen. Es besteht die Chance, zu einem völlig anderen Verhältnis zum Komponisten und zum Werk zu gelangen.

Und das zweite ist tatsächlich die Technik. Denn auch ohne den Klang des Orchesters kann der Dirigent zu Hause Schlagtechnik üben. Er kann zwar nicht die Reaktion auf seine Gestik ausprobieren, aber er kann den funktionalen Schwerkraftimpuls im Arm üben. Das ist ja nicht einfach nur ein Muskel, der da trainiert wird. Es geht um die Technik des proportionierten Schlages, der in der Kontraktion und der Entspannung der Armmuskulatur spürbar ist. 

Ich würde mir wünschen, dass Kompetenz und die natürliche Autorität, welche auf diese Kompetenz gegründet ist, ein ganz neues Niveau erreichen, wenn Orchester und Dirigent wieder zusammenkommen. Das ist zwar derzeit nur ein schwacher Trost – doch am Ende wäre das ein großer Fortschritt.

Markus Theinert war Dirigent der Mannheimer Bläserphilharmonie und in Mannheim auch Professor für Dirigieren. Heute ist er – nachdem er 23 Jahre bei der Firma Miraphone  war –  Vice President-Marketing beim US-amerikanischen Instrumentenbauer Conn-Selmer. Für CLARINO hat er viele Jahre lang Theinert Thema beigesteuert.