Die Gespräche mit Markus Theinert sind stets auch für den Fragesteller lehrreich. Und überraschend. Auf die Feststellung »Dirigieren kann man lernen…« entgegnet er wie aus der Pistole geschossen: »Nein!« Doch lesen Sie selbst, was Markus Theinert zum Thema zu sagen hat.
Herr Theinert, das Schwerpunktthema lautet »Der Dirigent«. Was ist eigentlich der Dirigent? Was ist seine Hauptaufgabe?
Der Dirigent hat hauptsächlich die Funktion, die Vielfalt im Klang und die unterschiedlichen Strukturen zu vereinheitlichen. Er ist eine zentrale Figur, die sowohl von seiner Position im Raum als auch von der konzentrierten, an der aktiven Klanggebung nicht beteiligten Wahrnehmung her alle am musikalischen Geschehen Beteiligten in dieselbe Richtung führt.
Individuelle Phrasierung, individuelle Artikulation und Dynamik der einzelnen Orchestermusiker benötigt diese Vereinheitlichung und braucht damit auch ein Referenzsystem im Raum, auf das sich jeder Einzelne beziehen kann. Genau darin besteht die Hauptaufgabe des Dirigenten.
Dabei geht es natürlich nicht nur ums Taktieren. Was ist der Unterschied zum Dirigieren?
Beim Taktieren alleine wird auch etwas vereinheitlicht. Nämlich das rein physikalische Tempo und im besten Falle noch das rhythmische Zusammenspiel. Wir achten lediglich darauf, dass das Orchester zusammenbleibt. Dies wäre eine Vereinheitlichung auf einem relativ primitiven Niveau. Die meisten Orchestermusiker merken ja ohnehin, ob sie hinterher oder voraus sind. Der Taktschläger hat auch den Anspruch, alle zusammenzuhalten. Aber das ist eben nur eine Ebene der symphonischen Einheit.
Alle anderen Parameter der musikalischen Form, der strukturellen Richtung werden bei dieser Art und Weise des Dirigierens ignoriert. Über das reine Tempo, die Metrik und den Rhythmus hinaus sind eben auch die Phrasierung der Melodie wichtig, die Priorität der einzelnen Stimmen, die Balance im Klang, die Art und Weise, wie Harmonien im Verhältnis zueinander empfunden werden usw.
Auf all diesen Ebenen muss das Orchester zusammenkommen und zu einer Einheit finden, die einer musikalischen Gestalt entspricht. Andernfalls bekomme ich vom Orchester 70 oder 80 Einzelaussagen. Bei einer solchen Art der individuellen Gestaltung im Orchester neutralisiert sich vieles. Der eine geht in der Melodie nach oben im Sinne der Spannung, der andere rundet sie vielleicht etwas früher ab.
Die verschiedenen individuellen Tendenzen gleichen sich so aus, dass wir als Resultat beim Taktieren nichts anderes bekommen als ein Mezzoforte-Mischmasch, das aber relativ stramm und gleichmäßig durch die Zeit marschiert. Das kann nicht das Ziel eines musikalisch empfindsamen Dirigenten sein.
Sind denn dann diese einzelnen Komponenten genau die Schwierigkeit, die der Dirigent beim Vereinheitlichen hat?
Zunächst einmal muss der Dirigent eine Vorstellung davon haben, auch welche Einheit das musikalische Geschehen hinaus möchte. Wie wirken die Klänge, die vom Komponisten zusammengestellt wurden, auf das menschliche Bewusstsein? Wie wirkt diese oder jene Phrase im Sinne der Richtung? Öffnet oder schließt sie sich? Führt sie im Verlaufe des Stücks zu mehr Spannung oder eher vom Höhepunkt weg? Wo ist die Position innerhalb der formalen Struktur des Stücks anzusiedeln?
Wenn der Dirigent das beim Studium der Partitur noch nicht verstanden hat, dann kann er gar nicht – selbst mit einem sehr guten Ohr – auf eine Vereinheitlichung hinwirken. Denn die Vereinheitlichung erfordert zunächst einmal das Kennenlernen der Richtung. Ich muss wissen, auf welche Einheit wir hinauswollen. Das ist die Herausforderung bei der Vorbereitung.
Wenn wir in die Probenarbeit einsteigen, reagieren wir natürlich ständig auf das, was im lebendigen, realen Klang passiert. Vom Orchester erfahre ich erst dann, welche Phänomene, welche Bestandteile des Klangs im Wege stehen. Wo muss ich zurücknehmen? Wo muss ich ermutigen? Welche Stimme muss besser herausgeholt werden? Wo ist die Artikulation undeutlich? Und so weiter. Das ist dann die Arbeit des Gehörs. Hier ist die reine Denkarbeit, also das Verstehen der Partitur, zunächst zu einem Abschluss gekommen. Jetzt verlassen wir uns vollkommen auf die innere Wahrnehmung.