»Holzauge sei wachsam!«, »Ein Ziel vor Augen haben«, oder »Adleraugen haben« – Redewendungen zu diesem Thema gibt es unzählige. Steht der Dirgent eigentlich »im Auge des Sturms«? Wir wollen den Tatsachen ins Auge sehen und Befragen dazu Markus Theinert.
Herr Theinert, der Volksmund sagt ja »Das Auge isst mit«. Wie verhält es sich mit dem Auge beim Dirigieren?
Die westliche Welt hat mit ihrer Dialektik ja oft versucht, die Sinneswahrnehmung auseinanderzudividieren und der Musik lediglich das Gehör zuzuordnen. Wir wissen natürlich, dass das eine sehr unvollständige Betrachtung ist. Alle sechs Sinne arbeiten hier ständig zusammen. Also sind im Grunde genommen auch die Nase, die Haut, der Mund und sogar der Gleichgewichtssinn beteiligt, nicht nur das Auge und das Ohr. Die Wahrnehmungspsychologen sind sich darüber einig, dass das Auge hierbei eine zentrale Rolle spielt.
Für den Musiker allgemein, besonders aber auch für den Dirigenten, ist das Auge ein wesentlicher Bestandteil der Gesamtwahrnehmung. Wir haben es beim Klang ja auch mit dem Prozess der Klangerzeugung und der Klangentstehung zu tun. Das Auge nimmt nicht nur die Bogenführung oder die Bewegung des Musikers wahr, sondern es erfüllt darüber hinaus natürlich auch die Funktion, buchstäblich mit dem einzelnen Musiker in Kontakt zu treten und in Kontakt zu bleiben, bei einer Probe ebenso wie im Konzert.
Für mich ist allerdings zunächst entscheidend, dass das Auge als solches »mithört«. Es ist in vielen Aspekten sogar besser geeignet, sich einen Überblick über den Gesamtklang zu verschaffen, als das Ohr alleine, das von der Direktionalität her nicht vollkommen verlässlich ist. Da gibt es sogar sehr viele Täuschungen: Wo ist die Balance, wo ist zu viel, wo ist zu wenig?
Hier ist man mit offenem Auge viel näher am Geschehen dran. Und inzwischen konnten die Hirnforscher ja auch beweisen, dass in der Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung zwischen Auge und Ohr ein ganz enger Zusammenhang besteht. Insofern spielt das Auge für den Dirigenten eine sehr zentrale Rolle.
Gilt das nur für die Dinge, die der Dirigent wahrnimmt? Oder gilt das auch für eine Kontaktaufnahme mit dem Musiker? Oder andersherum gefragt: Kann der Musiker dem Dirigenten auch »Wünsche von den Augen ablesen«?
Selbstverständlich. Sie sprechen nun die Möglichkeit der Gestik an, die nicht nur im Arm, der Hand oder im ganzen Körper, sondern auch mit den Augen passiert. Es ist eine natürliche Reaktion eines jeden Menschen, dass man dem Gegenüber zunächst in die Augen schaut. Das ist in der Regel der erste zwischenmenschliche Kontakt.
Das gilt auch für Orchestermusiker und Dirigenten. Wenn sich der Dirigent dessen bewusst ist, hat er eine Verantwortung, mit seinem Blickkontakt so umzugehen, dass es einerseits jedem Orchestermusiker möglich wird, mit ihm in Verbindung zu treten. Andererseits hat er aber auch die Aufgabe, sich in alle Richtungen hin offen zu halten. Er sollte also nicht unbedingt die Stimmführer alleine anschauen, sondern die ganze Gruppe in den Blickkontakt miteinbeziehen, um jeden Einzelnen im Orchester auch wirklich anzusprechen.
Man bemerkt allerdings bei einigen Dirigenten, dass sie sich entweder dieser Wirkung gar nicht bewusst sind, sie nicht richtig einsetzen können, oder aber ihr bewusst entsagen, indem sie die Augen schließen. Das berühmteste Beispiel war ja Herbert von Karajan, der einen großen Teil seiner Proben und Konzerte mit geschlossenen Augen dirigierte. Für den Orchestermusiker ist der Blickkontakt nicht nur ein wichtiges Signal – er kann führen, ermutigen und den nächsten Einsatz vorbereiten. Der Blickkontakt eröffnet dem Dirigenten viele Möglichkeiten, die über die Gestik der Arme weit hinausgehen.
Kann der Dirigent also theoretisch mit den Augen ein Orchester leiten?
Es ist eine Fehleinschätzung unserer heutigen Welt, zu glauben, der Dirigent führe das Geschehen an und gestalte die Musik. Letztlich ist es immer das Orchester und der einzelne Musiker, der für die Phrasierung seiner Partie und die Anpassung an den Gesamtklang verantwortlich ist.
Der Dirigent, der in seiner zentralen Position die Rolle der Vereinheitlichung aller klanglichen Parameter und Strukturen einnimmt, muss natürlich auch in der Gesamtwahrnehmung ständig offen für seine Umgebung und die Synchronisierung des klanglichen Geschehens bleiben. Damit ist er auch von seiner visuellen Wahrnehmung abhängig.