Brass, Orchestra, Schwerpunktthema, Wood | Von Klaus Härtel

Theinerts Thema: Kreativer Rausch vs. Disziplin?

Wie viel kreativen Rausch verträgt die Disziplin? Sind Kreativität und Disziplin Gegensätze? Wie geht man mit beiden im musikalischen Bereich um? Wie steht der Dirigent zur Disziplin? Wann ist er kreativ? Fragen über Fragen – und viele dazugehörende Antworten von Markus Theinert.

Schon Friedrich Nietzsche hat gesagt: »Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.« Um kreativ zu sein, das heißt etwas Neues zu schaffen, muss man die herkömmliche Ordnung der Dinge loslassen können. Ist das so?

Das ist absolut präzise ausgedrückt. Denn die Kreativität hat doch mit Inspiration zu tun, mit der Freiheit des Geistes, mit ungehinderter Aufnahmefähigkeit, mit vollständiger Wahrnehmung dessen, was um uns herum geschieht und auf uns einwirkt. Und ganz speziell natürlich in der Musik: Wie wirkt der Klang auf mein Bewusstsein? Ohne meine inneren Vorstellungen und Einstellungen loszulassen, kann ich mich im kreativen Raum nicht frei bewegen.

Kreativität und Disziplin sind aber nicht notwendigerweise voneinander getrennt, denn die Disziplin des gerichteten Bewusstseins ist eine Voraussetzung für den schaffenden Geist, weil hier die Ablenkung des Alltags, die Belastung durch historisches Gepäck, welches wir in Gedächtnis und Bewusstsein mit uns tragen, natürlich hinderlich sein kann. Die Disziplin des Loslassens ist eine »conditio sine qua non« für den kreativ Schaffenden.

Kann man als Dirigent eigentlich loslassen? Denn man hat doch die Partitur vor sich liegen, die man umsetzen möchte. Wie viel Kreativität ist da überhaupt möglich?

Hier ist die Musik ganz deutlich von den anderen Künsten zu unterscheiden. Denn während wir in den bildenden Künsten und in der Dichtung den Schöpfer oder den Autor als denjenigen ansehen, der alleine für das Werk verantwortlich zeichnet, so vollzieht sich dies in der Musik eben doch in zwei Stufen:

Musik »existiert« nicht einfach als künstlerisches Resultat, sondern ist ein ständiger Prozess des Entstehens und Vergehens, der nicht nur den Komponisten, sondern eben auch den nachschaffenden Künstler, das heißt den aufführenden Musiker oder auch den Dirigenten mit seinem Orchester als Werkzeug in diesen Entstehungsprozess mit einbindet.

Und hier ist natürlich die ursprüngliche schöpferische Idee zunächst beim Komponisten zu suchen. Dieser muss frei sein von festen Vorstellungen. Wir kennen das ja alle, wenn ein Komponist seine Kollegen kopiert oder irgendwann sich selbst, dann geht ihm die Fantasie aus, weil er sich eben nicht mehr frei von dem, was da ist, im musikalischen Raum bewegt und inspirieren lässt, sondern lediglich vorgefertigte Schablonen oder stereotype Melodien und Harmoniewendungen miteinander kombiniert. Dann verlässt er sich nicht mehr auf seine eigene Inspiration und Intuition.

Der Dirigent, der Solist oder das Kammermusikensemble werden also hier nicht als Schöpfer tätig, sondern als Nachschaffende. Die eigentliche Idee ist ja bereits geboren. Das Werk, die Komposition bereits »in trockenen Tüchern« – zumindest insoweit, als alle Elemente und Parameter zu Papier gebracht worden sind. Die Intervalle, die Harmonien, die Progressionen und Themen, die Verarbeitung der Kontraste – alles ist ja bereits entworfen.

Allerdings ist die Partitur zunächst eben einfach nur eine Idee, sozusagen »Halbfertigware«. Denn hier kommt wieder das Loslassen des Geistes ins Spiel – ich muss mich als Dirigent und als Musiker ebenfalls frei auf die Klänge einlassen, die auf mich wirken, bzw. ich muss von allen Gedanken und Vorstellungen loslassen, die mich auf diesem Weg behindern.

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